Anne Wihstutz (Hrsg.): Zwischen Sandkasten und Abschiebung
Rezensiert von Veronika Eder, 23.09.2019
Anne Wihstutz (Hrsg.): Zwischen Sandkasten und Abschiebung. Zum Alltag junger Kinder in Unterkünften für Geflüchtete. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 240 Seiten. ISBN 978-3-8474-2222-8. D: 56,00 EUR, A: 57,60 EUR.
Thema
Flucht - Ein Leben in Ungewissheit, mit Unsicherheiten vor, während und nach der Flucht. Das impliziert zugleich Ungewissheiten und Unsicherheiten im Asylverfahren, der Zuweisung des Wohnorts (Erstaufnahmeeinrichtung/Gemeinschaftsunterkunft und deren Lage) sowie dem (beschränkten) Zugang zu materiellen, gesellschaftsintegrierenden Gütern und Leistungen. Das vorliegende Werk nimmt die Kinder von Flüchtlingsfamilien als zentrale Beteiligte, Handelnde, Aktive und deren Lebensraum - dem konkreten Alltag junger Kinder und deren Handlungspraxis im Kontext von internationalem sowie nationalem Recht und bestehenden Regelungen in der Erstaufnahmeeinrichtung/Gemeinschaftsunterkunft - in den Fokus. Als Forschungsgegenstand dienten dabei 7 Familien mit 12 Kindern im Alter von 3 bis 7 Jahren, Beobachtungen im Feld (teilnehmende Beobachtung), ero-epische Gespräche und leitfadengestützte Experten(Innen)interviews mit Kindern und Eltern unter der Zusammenarbeit mit weiteren AkteurInnen aus dem Feld.
Herausgeberin und Autorinnen
Anne Wihstutz (Hrsg.) ist Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (Dipl. FH) (1992), Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin und Leiterin des Projektes „Alltagserleben von geflüchteten Kindern bis 6 Jahren in Gemeinschafts- und Notunterkünften“ (2016-2017). Das vorliegende Werk ist unter Mitwirkung mehrerer Autorinnen aus den Bereichen der Soziologie sowie der Bildungs- und Erziehungswissenschaft/den Kindheitswissenschaften/der Kindheitspädagogik entstanden.
Aufbau
Auf 240 Seiten finden sich nach dem Vorwort, der Danksagung sowie der Einleitung acht Einzelbeiträge (die Teilaspekte des Projektes beleuchten) wieder, wovon zwei in englischer Sprache verfasst sind.
- Das Forschungsprojekt und sein Design
- Mittendrin und außen vor – Geflüchtete Kinder und die Umsetzung von Kinderrechten in Deutschland
- Ethisch-reflexive Auseinandersetzungen im Forschungsprozess
- Handlungs-Spiel-Räume von Kindern in Gemeinschaftsunterkünften
- “It’s child’s play – or is it?” Play, conflicts and relationship networks among children in a reception centre
- „MANNO STOPP!“ Das Menschenrecht von jungen Kindern auf Schutz vor Gewalt in Unterkünften für geflüchtete Menschen
- Entering the field as researchers and leaving as “aunties”: Field relations with young children and their families in a refugee reception centre
- Zentrale Erkenntnisse und Empfehlungen
Auf den letzten beiden Seiten folgen nähere Angaben zu den Autorinnen.
Inhalt
Kontraste: Das Cover zeigt fünf von hinten abgebildete Kinder mit farbenfroher Kleidung, die in Bewegung sind (So greift beispielsweise ein Junge an seinen Rucksack, das Kleid eines Mädchens wirft Falten) und einem langen Gang mit vielen Türen und hellem (grellem?) Licht entgegensehen. Die Situation ist von Verbots- sowie weißen Schildern, die mit Großlettern bedruckt sind und auf die Räumlichkeiten für den Deutschkurs und auf das Büro verweisen, gerahmt. Ebenso kontrastreich gibt sich der Titel „Zwischen Sandkasten und Abschiebung. Zum Alltag junger Kinder in Unterkünften für Geflüchtete“. Die ethnografisch angelegte Forschung leistet einen Beitrag zur Wahrnehmung von Lebensverhältnissen/des Alltags von nicht schulpflichtigen Kindern (Forschungsdesiderat) unter Einbezug der Familien.
Die Forschungsfragen finden sich zu Beginn in der Einleitung wieder und untergliedern sich in „Raumerfahrungen“ (5.1.1, S. 19), „Handlungsvermögen und Handlungsfähigkeit von Kindern“ (5.1.2, S. 19) sowie „Gewalt und die Reproduktion von Machtverhältnissen“ (5.1.3, S. 20).
Daran schließt das erste Kapitel an, indem Wihstutz konkret in das Forschungsprojekt und -design einführt. Die theoretische Rahmung speist sich aus der „Sozialkonstruktivistische[n] Kindheitstheorie“ (2.1), den „Flüchtlings- und Viktimisierungsdiskurse[n]“ (2.2) und dem Verständnis, dass Kinder eine eigene Stimme haben, die in der UN-Kinderrechtskonvention zum Ausdruck gebracht wird. Das Kapitel informiert die Leserschaft über grundlegende Aspekte der Erforschung des Alltags in einer Erstaufnahmeeinrichtung und zwei Gemeinschaftsunterkünften in Berlin mit sieben Familien, davon 12 Kindern im Alter von drei bis sieben Jahren und deren Eltern, indem nähere Informationen zur empirischen Erhebung (3 und 3.1), zum Sample der ethnografischen Forschung (3.2), dem „Zugang und [der] forschende[n] Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern“ (3.3), der „Datenerhebung und Dateninterpretation“ (3.4) (Grounded Theory, 3.4) sowie „Feldbezogene Herausforderungen der empirischen Forschung“ (4) dargelegt werden.
Der zweite Beitrag benennt die rechtliche Gesetzeslage von Flucht auf nationaler sowie internationaler Ebene, indem zu Beginn auf das Spannungsverhältnis von Kind sein auf nationaler und internationaler Ebene verwiesen wird. Darauf bauen u. a. nähere Ausführungen zum Asylbewerberleistungsgesetz (1), (eingeschränkte) Rechte und Pflichten unter Bezugnahme auf den Koalitionsvertrag von 2018, dem Grundgesetz, der UN-Kinderrechtskonvention (UNKRK) auf (1; 2).
Demnach zählen die Rechte des Kindes auf Beteiligung, Schutz, Förderung und Versorgung sowie insbesondere Spiel und Erholung zu den wesentlichen entwicklungsunterstützenden Bestandteilen der kindlichen Lebenswelt. Das impliziert zugleich die Notwendigkeit der Bereitstellung kindgerechter, adäquater Räume (wie Unterbringung sowie Freizeitbeschäftigung) - so die Theorie.
Damit kommt zugleich die Frage nach Ungleichheit (Unterbringung in Zelten u. a., Versorgung) – Bildungs(un-)gleichheit (frühkindliche Bildung) und der Qualität von Kinderbetreuung in Unterkünften auf, die in einer widersprüchlichen Umsetzung in der Praxis ihren Ausdruck findet (2.1). Familien mit Kindern und Alleinerziehenden mit Kindern wird ein besonderer Schutz zugesprochen.
Dieser Schutz (2.2) wird im Hinblick auf das Leben in Gemeinschaftsunterkünften (2.2) in der vorliegenden Literatur zum Thema gemacht, indem zugleich auf die Unterscheidung der Begriffe Lager und Unterkunft (2.2.2) eingegangen wird. Somit wird die lesende Person erneut für die Terminologie und Sachlage in der Forschung/praktischen Arbeit mit Flüchtlingsfamilien sensibilisiert.
Die fortfolgenden Unterkapitel greifen weitere Aspekte, nämlich die „Versorgung“ (2.2.3), die „Anhörung im Asylverfahren“ (2.2.4), sowie die „Familienzusammenführung“ (2.2.5) kurz und prägnant auf. Daran schließt das Verständnis um Hegemonie (Mouffe und Laclau 1985) im Spannungsfeld von Kinderrechten und Asylpolitik an, bevor die aufgeführten Punkte in einer „Zusammenfassung und [einem] Ausblick“ (3) einmünden.
Mit der ethisch-reflexiven Haltung der Forscherin richtet der dritte Beitrag den Fokus auf das Forschen mit ethnischen Gruppen unter dem Aspekt eines Bewusstseins über hegemoniale Strukturen. Um die Lebenswirklichkeit der zu Erforschenden realitätsnah erfassen zu können, bedarf es neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Forschungsfeld ,Forschen mit Kindern’ (5.2) des breiten, gut fundierten Wissens über rechtliche, politische sowie gesellschaftliche Grundlagen zudem einer Praxis des Einfühlen-Könnens (Kursensibilität, Gegenstand Flucht). Wie das möglich ist, u. a. durch „Forscherinnen of Color“ (Piesche & Arndt 2011, S. 192 f. zitiert nach Trần in diesem Werk, S. 78), zeigt Trần auf. Hilfreiche Vorschläge zur Haltung zwischen ,helfen wollen' und ,nicht agieren dürfen/können' (Machtverhältnisse) finden sich in diesem Kapitel wieder (3).
In den Beiträgen vier bis sechs (Bezug zum Cover) werden Feldprotokolle und Analysekategorien zur Beantwortung der Forschungsfragen nach der Gestaltung des Alltags von Kindern in Unterkünften mit den Facetten „Raumerfahrungen“ (5.1.1, S. 19), „Handlungsvermögen und Handlungsfähigkeit von Kindern (5.1.2, S. 19)“ sowie „Gewalt und die Reproduktion von Machtverhältnissen“ (5.1.3, S. 20) in Beziehung gesetzt. Das Spiel als ein Kinderrecht (Recht auf Ruhe, Freizeit und Spiel) wird in den nachfolgenden Seiten weiter thematisiert. Wie die Kinder Räume nutzen können (Regelungen) sowie Räume mit Originalität einnehmen und Sozialkontakte (unter den Variablen, wie z. B. Unruhe, Grenzüberschreitungen, wie u. a. der begrenzte Zugang zu kindgerechtem Spielmaterial, Konflikte lösen) eingehen und pflegen, wird hier ebenfalls zugänglich.
Beitrag sieben zeigt auf, wie es Forscherinnen gelingen kann, das Feld als vertrauensvolle Person für die zu Beforschenden in Form einer professionellen Haltung/Rolle (siehe Beitrag von Trần in diesem Werk) unmittelbar mit und nach Beendigung des Forschungsraumes zu gestalten (wie sorgfältige Planung (4.1), langsam ausklingen lassen (4.1) über digitale Medien (wie WhatsApp) in Verbindung bleiben (4.2). Kurzum: Die Bedürfnisse der zu Beforschenden zu erkennen und danach zu handeln (Beitrag zur Gerechtigkeit leisten).
Im achten und damit letzten Beitrag werden die Resümees, Appelle, Notwendigkeiten/Bedarfe der einzelnen Beiträge dieses Bandes durch die Herausgeberin zueinander in Beziehung gesetzt und zu einem Positionspapier (Anwalt für das Kind) verdichtet.
Diskussion und Fazit
Mit ihrer Studie legt Anne Wihstutz ein interessantes Thema sowie ein Fundament für weiterführende Diskussionen zum Alltag junger Kinder in Unterkünften für Geflüchtete vor. Der Titel rüttelt auf und zeigt in bester Art und Weise, wie konträr die Diskussionen rund um Zuzug in unserer Gesellschaft geführt und auf dem Rücken der Beteiligten ausgetragen werden – wie junge, geflüchtete Kinder (Individuen) ein (aktives), möglichst selbstbestimmtes Leben unter einem großen Maße an Fremdbestimmung in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften führen. Die rechtliche Einbettung bezieht sich auf die Literaturrecherche zum Zeitpunkt der Forschung. Im letzten Beitrag beziehen die Forscherinnen ferner den aktuellen Stand ein, verweisen sie auf den aktuellen Stand aktueller Entwicklungen innerhalb der Politik (Beitrag von Wihstutz in diesem Werk, S. 235 ff.).
Durch die differenzierten Beiträge innerhalb des Feldforschungsprojektes gelingt es den Autorinnen, Räume von Kindern im Alltag zu entschlüsseln und auf Ressourcen, aber auch Missstände in den Unterkünften für Geflüchtete zu verweisen.
Innerhalb der einzelnen deutsch- bzw. englischsprachigen Artikel wird durch umfassende Recherchen ein prägnanter und zeitgleich ansprechender Überblick über das jeweilig gesetzte Unterthema im Rahmen der Forschung gegeben. Neben der Darlegung der Theorie wird den AkteurInnen, vor allem den Kindern, eine Stimme gegeben, was durch den Einsatz von Feldprotokollen und der Analyse der fachlichen Einbettung erfolgt. Zudem wird den Kindern und Eltern Wertschätzung entgegengebracht sowie partizipative Forschung ermöglicht.
Ethische Überlegungen finden sich ebenso wie politische Empfehlungen/Handlungsleitfäden an vielen Stellen wieder. Somit wird das Buch dem Anspruch gerecht (Gütekriterien), nicht ausschließlich über Flüchtlinge zu forschen, sondern primär mit ihnen zu forschen und ihnen somit eine Stimme zu geben (z. B. auf Fachtagungen, indem die Eltern zur Abschlusstagung eingeladen werden und die Kinder zum Entstehen eines Kinderbuches beitragen) (s. u. a. Beitrag von Trần in diesem Werk, S. 84 ff.; S. 101 f.).
Die Frage, wie viele Väter in die Forschung mit einbezogen worden sind und welche Besonderheiten sich daraus ergeben, geht aus den Beiträgen leider nicht explizit hervor.
Im Gesamten ein kompakt, informativ und mit der direkten Verbindung von Theorie und Praxis (Schnittstelle von Theoriebildung, Forschung und Praxisentwicklung) publiziertes Buch, das AkteurInnen aus den Bereichen Politik, Praxis und Wissenschaft einen wertvollen Beitrag über Grundlagen zur Fluchtforschung mit Familien sowie zur eigenen, professionellen Haltung vermittelt. Somit eignet es sich für die Aus- und Weiterbildung (sozial-)pädagogischer Fachkräfte – und richtet sich deshalb u. a. auch an Studierende.
Rezension von
Veronika Eder
wissenschaftliche Mitarbeiterin und Fachstudiengangberatung BA BEK an der Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Zitiervorschlag
Veronika Eder. Rezension vom 23.09.2019 zu:
Anne Wihstutz (Hrsg.): Zwischen Sandkasten und Abschiebung. Zum Alltag junger Kinder in Unterkünften für Geflüchtete. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2019.
ISBN 978-3-8474-2222-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26021.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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