Kai Rugenstein: Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit
Rezensiert von Dr. Hans Hopf, 25.09.2020
Kai Rugenstein: Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit. Arbeiten mit der psychoanalytischen Methode.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2019.
80 Seiten.
ISBN 978-3-525-45910-2.
D: 12,00 EUR,
A: 13,00 EUR.
Reihe: Psychodynamik kompakt.
Thema
Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit sind die bedeutsamsten Grundregeln jeder psychodynamischen Psychotherapie. Freie Assoziation ist die Grundregel für den Patienten, gleichschwebende Aufmerksamkeit jene für den Psychoanalytiker. Als Bestandteile des psychoanalytischen Settings bilden sie den Rahmen und die Möglichkeitsbedingungen für den freien Austausch von Fantasien miteinander und übereinander. Angestrebt wird das beiderseitige gewähren lassen des Unbewussten. Bereits in seiner Einleitung betont Rugenstein, dass es nicht darum gehen kann, „Freuds Weg nachzulaufen, sondern sich seine Haltung zu eigen machen und mit dieser eigene Wege zu finden“. Das ist das anspruchsvolle Ziel dieses Buches. Schon an dieser Stelle kann gesagt werden, dass es dem Autor innerhalb des „schlanken Umfangs“ von 80 Seiten bestens gelungen ist, die beiden Begriffe zu durchleuchten, ihre Herkunft und Entwicklung darzustellen und dazu noch zehn eigene Prinzipien zu entwickeln.
Autor
Dr. Kai Rugenstein ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut an der Psychologischen Hochschule Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind psychodynamische Behandlungstechnik, psychoanalytische Konzeptforschung sowie Ausbildungsforschung. In der von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke herausgegebenen Reihe Psychodynamik kompakt ist vom gleichen Autor bereits 2018 „Humor in der psychodynamischen Therapie“ erschienen.
Entstehungshintergrund
Rugenstein unterrichtet an einer Psychologischen Hochschule, eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den Grundregeln der Psychoanalyse bedeutet für werdende Psychologen und Psychotherapeuten unverzichtbares Grundlagenwissen. Dieses Buch ist daher für Ausbildungskandidaten und niedergelassene Psychotherapeuten gleichermaßen wichtig.
Aufbau
In einer Einleitung wird die freie Assoziation als der innovative Kern der Psychoanalyse sowie als methodischer Schlüssel zu den Ergebnissen der Analyse vorgestellt. Im zweiten Kapitel werden die beiden Grundregeln freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit definiert. Im dritten Kapitel werden die Entstehung und Entwicklung der beiden Begriffe verfolgt. Im vierten Kapitel werden Erweiterungen der beiden Begriffe untersucht. Gleichzeitig wird der Frage nachgegangen, wie der Übergang zum Intervenieren und Deuten zu bewerkstelligen ist. Im fünften Kapitel werden die Zusammenhänge zwischen Achtsamkeit und gleichschwebender Aufmerksamkeit diskutiert. Im sechsten Kapitel wird beschrieben, wie die beiden Begriffe innerhalb von Ausbildung und Supervision gelehrt und gelernt werden können. In einem siebten Kapitel fasst der Autor schließlich seine Erkenntnisse zusammen und beschreibt zehn Prinzipien für die praktische analytische Arbeit, die den Inhalt des Buches zusammenfassen.
Inhalt
In der ersten Sitzung hat Sigmund Freud seinen Analysandinnen und Analysanden die Regeln mitgeteilt, nach denen ihre Analyse ablaufen werde. „Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht“. Etwas weniger apodiktisch haben es Thomä und Kächele in ihrem Lehrbuch (1985) formuliert: „Bitte versuchen Sie, alles mitzuteilen, was Sie denken und fühlen. Sie werden bemerken, daß dies nicht einfach ist, aber der Versuch lohnt sich“. Das vorliegende Buch befasst sich mit der Erwachsenenpsychoanalyse, doch so gut wie alle Erkenntnisse lassen sich auch auf die Kinderanalyse übertragen, denn es gibt zwischen beiden mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. Älteren Jugendlichen kann die Grundregel in ähnlicher Weise mitgeteilt werden. Innerhalb der Psychoanalyse mit Kindern wird die freie Assoziation bekanntlich durch das freie Spiel ersetzt. Die Formulierung der Regel wird sich am Alter, an der Störung des Kindes und dem Grad von Bewusstsein und Einsichtsfähigkeit orientieren. Es sollte alles sagen und ermuntert werden, dabei das Spielmaterial zu nutzen. Die komplementäre gleichschwebende Aufmerksamkeit hat Freud wie folgt formuliert: „Man halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‚unbewussten Gedächtnisse‘, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum“. Rugenstein schreibt, dass beide Grundregeln das psychoanalytische Prinzip der Abstinenz tragen. Frei assoziierend enthalte sich der Patient der Selbstzensur und der Auswahl des Gesagten im Hinblick auf logische, ästhetische und moralische Normen. Gleichschwebend aufmerksam enthalte sich der Therapeut der theoriegeleiteten Hypothesenprüfung, des Helfenwollens und Verstehenmüssens (S. 19).
Rugenstein zeigt auf, dass Freud die ersten Entdeckungen zu den beiden Grundregeln während der Behandlung von Emmy von N. entwickelt und anschließend konsequent weiterverfolgt hat. Von nun an zeigte der Patient den Weg, die Analyse wurde zur Reise des Patienten, nicht des Analytikers. Die beiden Grundbegriffe wurden mittlerweile erweitert. Auf zwei von ihnen konzentriert sich Rugenstein, auf die Negative Capability von Bion und Sandlers gleichschwebende Bereitschaft zur Rollenübernahme. Die Negative Capability Bions definiert Rugenstein wie folgt: „Das Vermögen, Unsicherheiten, Geheimnisse und Zweifel zu ertragen, ohne sofort nach Fakten und Vernunftgründen zu greifen, impliziert für den Therapeuten ein Weniger-ist-mehr, ein Sichzurücklehnen und eine Logik des Lassens“ (S. 51). Nach Rugenstein stellt diese Haltung eine Gegenbewegung zur verbreiteten Logik des therapeutischen Machens und Intervenierens dar. Für eine solche Logik des Lassens ist eine Haltung träumerischer Gelöstheit (reverie) und geistesgegenwärtige Überraschungsbereitschaft charakteristisch, für die Wilfred Bion die bekannte, oft zitierte Formel fand: „No memory, desire, understanding“. (S. 52). Joseph Sandler hat die Gleichschwebende Aufmerksamkeit um die Forderung nach einer gleichschwebenden Bereitschaft zur Rollenübernahme erweitert. Er hat die Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung als ein Rollenspiel konzeptualisiert. Dabei ging er davon aus, dass die Rollenbeziehung des Patienten innerhalb der Analyse zu jedem Zeitpunkt aus einer Rolle, die er dem Analytiker zu diesem Zeitpunkt zuweist, besteht. Diese Überlegungen Sandlers finden auch in der Kinderanalyse vielfältige Anwendung. Der Rest des Buches von Rugenstein befasst sich mit den Fragen, wie Therapeuten das freie Assoziieren des Patienten nicht nur zulassen, sondern auch fördern können. Und wie gelangt man als Therapeut und Therapeutin aus der Haltung gleichschwebender Aufmerksamkeit hin zur Formulierung einer Deutung. So kann die freie Assoziation mit zunächst fast wortlosen Interventionen gefördert werden, die ausführlicher werden können. Rugenstein erwähnt auch ein Paraphrasieren mit kleinen Extras, die Mehrdeutigkeit eröffnen.
Nach Bedarf sollte sich der Analytiker aus der analytischen, zergliedernden Einstellung in die synthetische, „zusammensetzende“ schwingen, er sollte sich zur Deutung „gelangen lassen“. Von Sandler stammt der Begriff einer „gleichschwebenden Reaktionsgemeinschaft“ von Rugenstein der höchst amüsante einer „gleichschwebenden Schlagfertigkeit“. Rugenstein formuliert sehr treffend, dass Interventionen nicht hinzufügen sollten, weder Bedeutung, Beruhigung oder gar Rat, sondern etwas wegnehmen. „Die psychoanalytische Methode gibt uns den Mangel an Unterstützung, den wir brauchen, um ins Freie zu gelangen“ (S. 62). In einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie werden die Grundbegriffe modifiziert. Wöller und Kruse (2018) fügen nach Hinweis auf die Grundregel hinzu: „Wir werden dann zusammen diese Einfälle sortieren, das für die zwischen uns vereinbarte Problemstellung Wichtige auswählen und bearbeiten“ (S. 64). In einem weiteren Kapitel wird die psychoanalytische Methode mit dem Konstrukt ‚Achtsamkeit‘ verglichen und unterschieden. Im sechsten Kapitel wird beschrieben, wie die Methode während der Ausbildung und in Supervisionen unterrichtet und gelernt werden kann. Mit seinen zehn Prinzipien für das Arbeiten mit freier Assoziation und gleichschwebender Aufmerksamkeit fasst Rugenstein letztendlich alles zusammen, was er in dem Buch an Wichtigem erarbeitet hat.
Diskussion
Ich bin begeistert darüber, wie souverän es dem Autor gelungen ist, eine – auch kritische – Diskussion der Grundregeln der Psychoanalyse auf 73 Seiten zu bewältigen. Das Buch von Rugenstein vermittelt einen reichhaltigen Schatz, und es ist eine Bastion gegenüber von Beliebigkeiten: Es überzeugt auch davon, welch mannigfaltige Weiterentwicklung die Psychoanalyse samt ihren Anwendungen genommen hat ohne ihre Wurzeln zu verlieren. Das Buch erfüllt hohe Ansprüche, es ist ein Fachbuch, und glücklicherweise in einer klaren, einfachen Sprache verfasst. Es kann allen empfohlen werden, die sich mit Psychotherapie und Pädagogik befassen.
Fazit
Ich habe anfänglich von den anspruchsvollen Zielen dieses Buches gesprochen. Rundum anerkennend kann ich betonen, dass der Autor sie bestmöglich erreicht hat. Rugenstein zeigt auf, dass die zentralen Grundregeln einer psychoanalytischen Psychotherapie nach wie vor freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit sind. Er diskutiert ihre Entstehung und praktischen Anwendungen im Laufe der Jahre. Zwei wichtige Weiterentwicklung werden erörtert, Bions Negative Capability und Sandlers gleichschwebende Bereitschaft zur Rollenübernahme. Des Weiteren zeigt Rugenstein auf, wie man als Therapeut und Therapeutin aus der Haltung gleichschwebender Aufmerksamkeit hin zur Formulierung einer Deutung gelangt und klärt Fragen des Unterrichtens innerhalb von Seminaren und in Supervision. Es kann allen empfohlen werden, die sich mit Psychotherapie und Pädagogik befassen, ich denke, auch Patientinnen und Patienten einer psychodynamischen Psychotherapie.
Rezension von
Dr. Hans Hopf
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Zitiervorschlag
Hans Hopf. Rezension vom 25.09.2020 zu:
Kai Rugenstein: Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit. Arbeiten mit der psychoanalytischen Methode. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2019.
ISBN 978-3-525-45910-2.
Reihe: Psychodynamik kompakt.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26034.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
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