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Tim Engartner, Gerd-E. Famulla et al.: Was ist gute ökonomische Bildung?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.10.2019

Cover Tim Engartner, Gerd-E. Famulla et al.: Was ist gute ökonomische Bildung? ISBN 978-3-7344-0830-4

Tim Engartner, Gerd-E. Famulla, Andreas Fischer, Christian Fridrich, Harald Hantke et al.: Was ist gute ökonomische Bildung? Leitfaden für den sozioökonomischen Unterricht. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2019. 204 Seiten. ISBN 978-3-7344-0830-4. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR.
Reihe: Ökonomie unterrichten. Wochenschau Ökonomie.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Gegen eindimensionales, fächerdiktiertes Lernen

Es ist keine neue Forderung, dass Lernen und Wissensaneignung mehrdimensional und ganzheitlich erfolgen solle, weil Leben und Welt niemals eindimensional und rezeptologisch verlaufen. Beim schulischen, wie auch beim außerschulischen Lernen sind deshalb Zugänge und Methoden gefragt, die fächerübergreifend und projektorientiert ausgerichtet sind. Das Fach „Ökonomische Bildung“, das unterschiedlich als „Wirtschaftskunde“, „Konsumerziehung“ oder „Arbeitslehre“ im schulischen Kanon ausgewiesen wird, ist konfrontiert mit den Herausforderungen, die das individuelle und kollektive Leben der Menschen auf der Erde stellt. Mit der curricularen und didaktischen Aufweisung des Fachs ist grundgelegt, dass ökonomische Bildung immer fächerübergreifend und interdisziplinär vermittelt werden muss. Der Homo oeconomicus darf eben nicht das egoistische, auf den eigenen Nutzen und Erfolg ausgerichtete Lebewesen sein, sondern muss in ethischer, sozialer und moralischer Verantwortung Denken und Handeln lernen (vgl. z.B. dazu: Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23859.php).

Entstehungshintergrund

Es ist die sozioökonomische Bildung, die es ermöglichen soll, „dass Schülerinnen und Schüler sozioökonomische Kompetenzen erwerben, um die Multiperspektivität und Kontroversität ihrer Lebenswelten, aber auch … sozialwissenschaftliche ( ) Sichtweisen zu erfassen“ (vgl. dazu auch: Reinhold Hedtke, Das Sozioökonomische Curriculum, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25485.php). Daraus ergibt sich bereits ein erster Definitionsversuch: „Sozioökonomische Bildung ist zugleich handlungs- und ergebnisorientiert und darüber hinaus offen für unterschiedliche Perspektiven und Lösungsansätze“. Die Initiativen für diese weiterentwickelte, gegenwarts- und zukunftsorientierte, didaktische, nachhaltige Bildung (vgl. auch: Andreas Fischer, Hrsg., Die soziale Dimension von Nachhaltigkeit. Beziehungsgeflecht zwischen Nachhaltigkeit und Benachteiligtenförderung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10709.php; sowie: Bettina Zurstrassen, Hrsg., Was passiert im Klassenzimmer? Methoden zur Evaluation, Diagnostik und Erforschung des sozialwissenschaftlichen Unterrichts, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12618.php). 

Autorenteam

Auf Initiative von Lehrenden an der Universität Bielefeld ist im Oktober 2016 die „Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft“ (GSÖBW) entstanden, die sich wissenschaftlich und lerndidaktisch dafür einsetzt, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu entwickeln, „dass nur sozioökonomische Bildung dazu beitragen kann, Persönlichkeiten zu fördern, die allgemeingebildet und sozialkompetent sind, weil sie ihre ökonomisch geprägten Lebenswelten verstehen, in ihnen angemessen handeln und das eigene Handeln differenziert einzuordnen wissen“.

Die Autorengruppe Sozioökonomische Bildung versteht ihre differenzierten Beiträge im Sammelband als Leitfaden. Es geht ihnen dabei nicht darum, einen Kanon standardisierter Lehr-/Lern-Arrangements über Wirtschaft und Gesellschaft vorzulegen, sondern sie stellen die Vielfalt, Komplexität und Pluralität von Lebenssituationen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Sie wollen damit ermöglichen, dass Schülerinnen und Schüler „ihre Welten“, und damit eben auch ihre „Wirtschaftswelten“ erkunden und ihre subjektiven Weltbilder, ihre Alltagsvorstellungen und Vorerfahrungen reflektieren, festigen und ändern.

Aufbau und Inhalt

Der Flensburger Wirtschaftswissenschaftler und Didaktiker Gerd-E. Famulla setzt sich mit dem Beitrag „Sozioökonomische Bildung – Grundgedanken“ insbesondere mit den Fragen und gesellschaftlichen Anforderungen auseinander, ob es beim institutionalisierten Lernen – in den Zeiten der Globalisierung und Verunsicherung – um mehr oder um eine andere ökonomische Bildung gehen solle. Er plädiert für sozioökonomische Bildung auch deshalb, weil „sie das Wirtschaftliche dem Gesellschaftlichen nachordnet“, also der Wirtschaft gegenüber der Politik und Gesellschaft eine dienende und nicht alleinbestimmende und dominante Funktion zuweist.

Die Kölner Sozialwissenschaftlerin Birgit Weber fragt: „Was ist relevantes sozioökonomisches Grundwissen?“, und zwar gegenwartsbezogen und zukunftsorientiert. Sie diskutiert verschiedene didaktische Zugänge und Modelle und zeigt auf, dass es einer aktiven, lebensweltlichen Kompetenz bedarf, Bewusstsein und Verantwortlichkeiten, „das Subjekt nicht als von gesellschaftlichen Einflüssen und Traditionen völlig losgelöstes und völlig frei entscheidendes Individuum“ zu betrachten.

Birgit Weber fragt in dem weiteren Text: „Welche curricularen Handlungsspielräume existieren für die sozioökonomische Bildung?“. Sie stellt in einer Curriculumanalyse Inhaltsfelder als „ökonomische Ankerfächer“ vor und plädiert für einen kooperativen, interaktiven (integrierten?) Lernplan.

Der Sozialwissenschaftler und Didaktiker von der Frankfurter Goethe-Universität, Tim Engartner, stellt die Frage: „Wie findet man Themen für die sozioökonomische Bildung?“. Neben den traditionellen und fachspezifischen Widerständen und Vorbehalten (Fächer-Egoismus) sind es vor allem die vielfältigen Wichtigkeiten und Bedeutsamkeiten von tatsächlichen und diktierten Lebensthemen, die eine Auswahl von Unterrichtsbeispielen erschweren. Der Autor schlägt als zentrale Themenfelder vor: „Geld“ – „Konsum“ – „Arbeit“ – „Globalisierung“.

Tim Engartners zweiter Beitrag lautet: „Wie erreicht man sozioökonomische Multiperspektivität und Kontroversität?“. Mit der These „Multiperspektivität bedingt Kontroversität“ verweist er auf den „Beutelsbacher Konsens“ (1976) und die Bedeutung einer kritisch-emanzipatorischen Bildung; und damit einer „enge(n) Verflechtung der Gegenstandsbereiche 'Politik', 'Wirtschaft' und 'Gesellschaft'“.

Der Wissenschaftler für Geographische und Sozioökonomische Bildung von der Wiener Pädagogischen Hochschule, Christian Fridrich fragt: „Wie knüpft man an sozioökonomische Vorstellungen und Erfahrungen der Lernenden an?“. Er diskutiert die Möglichkeiten und Probleme, wie im didaktischen Lernprozess Schülerinnen und Schüler gewissermaßen mit ihren Alltagserfahrungen und Interessen „abgeholt“ werden können; und er zeigt dies an einem (Fall-) Unterrichtsbeispiel auf.

Birgit Weber bringt sich erneut mit der Frage ein: „Welche Lehr-Lern-Methoden eignen sich für den sozioökonomischen Unterricht?“. Es sind Anlässe und Möglichkeiten, die sich überschreiben lassen mit der Forderung: „Schule öffnen!“. Der Rezensent verweist zu dieser Thematik hin auf Wulf Schmidt-Wulffen: Die besten Lehrmethoden im sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schüler aktivieren – Lernen individualisieren (5. bis 10. Klasse), 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15356.php.

Der Lüneburger Wirtschaftsdidaktiker Andreas Fischer und der wissenschaftliche Mitarbeiter Harald Hantke schauen nach: „Lässt sich die Idee der sozioökonomischen Bildung in beruflichen Schulen umsetzen?“. Der Bejahung folgt die kritische Bestandsaufnahme beim berufsbildenden Lernen. Die Autoren stellen die verschiedenen, curricularen Voraussetzungen, Prämissen und Ebenen vor, verweisen auf die Grundsätze des wirtschaftsberuflichen Lernfeldunterrichts in der berufsbildenden Schule, gehen auf Probleme und Defizite bei der Bildungsvermittlung ein und ermuntern zu einer „produktiven Lehrplanrezeption“.

Andreas Fischer stellt weiterhin fest: „Sozioökonomische Bildung bildet!“. Er nimmt eine bildungstheoretische Standortbestimmung für die sozioökonomische Bildung vor. Es ist die (Klafki‘sche) didaktische Analyse, die Antworten auf die vielfältigen Anforderungen an das sozioökonomische Lernen zu geben vermag: „Ausgehend vom lernenden Subjekt … steht zunächst die Frage im Mittelpunkt, welche Voraussetzungen von Wirtschaft vorhanden sind und welche Bedeutung sie für die Schülerinnen und Schüler haben“, um die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung des Lernens zu ermitteln.

Der Bielefelder Wirtschaftssoziologe und Didaktiker Reinhold Hedtke stellt gewissermaßen die Frage aller Fragen: „Welches Wirtschaftsverständnis passt zum sozioökonomischen Unterricht?“. Die Standortbestimmung und Selbstvergewisserung ist klar: „Sozioökonomische Bildung stützt sich auf gesellschaftliches Wissen über Wirtschaft, denn sie ist subjekt- und erfahrungsorientiert. Sie stützt sich zugleich auf sozialwissenschaftliches Wissen, denn sie ist theoretisch und empirisch fundiert“. Nicht das Alleingültigkeit und Logik beanspruchende Wirtschaftssystem darf allein Bildungsinhalt sein, sondern der Vergleich mit verschiedenen, realen, futuralen, utopischen Konzepten und Ideen kann eine konstruktive Auseinandersetzung bewirken.

Die Bielefelder Sozialwissenschaftlerin und Didaktikerin Bettina Zurstrassen nimmt mit dem Beitrag „Berufsorientierung in der sozioökonomischen Bildung“ die gesellschaftlichen, politischen und interessenorientierten Anforderung und Erwartungshaltungen auf, die beim schulischen Bildungsprozess auf Fragen zur Berufswahl von Schülerinnen und Schülern gestellt werden. Es sind schulische und außerschulische Zugänge und Modelle, die den grundlegenden Leitgedanken verpflichtet sein sollten: „Berufsorientierung in der sozioökonomischen Bildung ist in erster Linie den Lernenden verpflichtet und sieht ihre Aufgabe in der sozialwissenschaftlichen Aufklärung als Grundlage der Mündigkeit“.

Reinhold Hedtke nimmt erneut das Thema „Märkte in der sozioökonomischen Bildung“ auf. Dieses meist für Schülerinnen und Schüler einseitig empfundene und erlebte Phänomen, dass Markt in erster Linie in den Kontexten von Angebot und Nachfrage und von Preis und Konkurrenz betrachtet wird, verkürzt und verfälscht seine Bedeutung. In der sozioökonomischen Bildung kommt es darauf an, Marktgeschehen und -verläufe als gesellschaftliche, politische und konsumtive zu thematisieren.

Christian Fridrich nimmt letzteren Gedanken auf, indem er über „Konsum in der sozioökonomischen Bildung“ reflektiert. Bei der Verbraucherbildung kommt es darauf an, sich der Spannungsfelder, Chancen und Probleme bewusst zu werden und sich mit den individuellen und kollektiven Verantwortlichkeiten auseinanderzusetzen. An zwei Fallbeispielen verdeutlicht der Autor die vielfältigen Imponderabilien, Erfahrungen und Perspektivenwechsel.

Mit dem Schlussbeitrag „Marktwirtschaften in der sozioökonomischen Bildung“ nehmen Reinhold Hedtke und Gerd-E. Famulla Bezug auf kontroversen Begriffen und ökonomische Systemen, wie z.B.: „Soziale Marktwirtschaft“. Mit dem Ansatz „Spielarten des Kapitalismus“ verweisen die Autoren auf wirtschaftliche Entwicklungen, die als dominant oder unterlegen gelten. An drei Unterrichtsbeispielen werden didaktische und methodische Zugangsweisen zum Thema aufgezeigt.

Fazit

Der Sammelband wird als „Leitfaden für den sozioökonomischen Unterricht“ ausgewiesen. Mit dem Anspruch, „gute ökonomische Bildung“ zu vermitteln, wird vom Autorenteam in differenzierter, eingängiger Weise die Bedeutung und Wichtigkeit der sozioökonomischen Bildung dargestellt. Der Diskurs, in welcher Weise und Wichtigkeit im unterrichtlichen Vollzug die Konkurrenz oder/und Kongruenz hätte in den Beiträgen deutlicher herausgearbeitet werden können. Dieser Hinweis soll in keiner Weise die didaktische und curriculare Bedeutsamkeit der Forschungsarbeit schmälern. Weil in der sich immer interdependenter, entgrenzender und ökonomisch entwickelnden (Einen?) Welt Fragen danach gestellt werden, wie der Homo oeconomicus menschenwürdig und human weiterleben kann, kommt es darauf an, ökonomisch und ökologisch zu lernen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.10.2019 zu: Tim Engartner, Gerd-E. Famulla, Andreas Fischer, Christian Fridrich, Harald Hantke et al.: Was ist gute ökonomische Bildung? Leitfaden für den sozioökonomischen Unterricht. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2019. ISBN 978-3-7344-0830-4. Reihe: Ökonomie unterrichten. Wochenschau Ökonomie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26039.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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