Felwine Sarr: Afrotopia
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.09.2019

Felwine Sarr: Afrotopia. Matthes & Seitz (Berlin) 2019. 175 Seiten. ISBN 978-3-95757-677-4. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 22,90 sFr.
„Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus“
Die westliche, europäische Sichtweise auf den afrikanischen Menschen ist pauschalisiert und systematisiert. Das Bild Afrikas und des Afrikaners ist seit Jahrhunderten geprägt von defizitärer, minderwertiger Betrachtung auf der einen, und von Höherwertigkeitsvorstellungen auf der anderen Seite. Charakteristisch und bezeichnend dafür ist die Einschätzung, wie sie der in seiner Zeit bekannte und anerkannte Sprach- und Völkerkundler, der Afrikaforscher, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Direktor des Londoner International African Institute und Missionar Diedrich Westermann (1875 – 1956) überzeugt und scheinbar wissenschaftlich belegt zum Ausdruck brachte: „Das Geschick des Afrikaners ist für alle absehbare Zeit mit dem des Europäers aufs engste verbunden, ja es ist von ihm abhängig, er ist der Schüler und Arbeitnehmer, wir die Lehrer und Arbeitgeber, aber auch: wir sind die Herren und er der Untergebene“ (Dr. D. Westermann, Der afrikanische Mensch und die europäische Kolonisation, in: Georg Wüst, Hrsg., Kolonialprobleme der Gegenwart, Berlin 1939, S. 67). Der senegalesische Dichter und Präsident Léopold Sédar Senghor ((1906 – 2001) hat in der Négritude, der afrikanischen Philosophie und des Identitätsentwurfs, einen Vergleich zwischen den Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen der Europäer und der Afrikaner vorgenommen: „Als Mensch des Willens, als Krieger, als Raubvogel rückt der Europäer das Objekt von sich weg. Er hält es auf Abstand, er macht es unbeweglich, er fixiert es…Er assimiliert den Anderen… Der Neger ist ganz anders… Seine Reflexe sind natürlicher, sind besser angepasst… er steckt zunächst in seiner Farbe wie in einer Urnacht. Er sieht das Objekt nicht, er fühlt es… In seiner Subjektivität, an der Spitze seiner Sinnesorgane erfasst er den anderen… und geht in einer zentrifugalen Bewegung vom Subjekt zum Objekt auf den Wellen des Anderen“ (Léopold Sédar Senghor, Négritude und Humanismus, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1967, S. 198). Auch wenn diese Beschreibung schablonenhaft und allzu holzschnittartig erscheint und natürlich den Afrikaner und den Europäer nicht fassen kann, sind die unterschiedlichen Mentalitätsunterschiede kennzeichnend für das hegemoniale, rassistische, weiß-schwarze, westlich-afrikanische Verhältnis.
Entstehungshintergründe und Autor
Autorinnen und Autoren aus afrikanischen Ländern melden sich mittlerweile mit selbstbewussten und eigenständigen Ideen und Lebensentwürfen zu Wort (vgl. dazu: Joseph-Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23618.php). Kreativität und Kritik über den Umgang mit kolonialer und neokolonialer Macht führen zu Forderungen, in den ökonomischen, politischen, kulturellen und alltäglichen Kontakten in der sich immer interdependenter, entgrenzenden und global entwickelnden (Einen?) Welt auf „Augenhöhe“ zu kommunizieren und zu handeln.
Es geht darum, ehrlich, gerecht, gleichberechtigt und interkulturell denken zu lernen. Auf dem Gebiet des kulturellen Besitzes artikulieren sich die Forderungen der Afrikaner, die von den Europäern konfiszierten, geraubten und meist mit unlauteren Mitteln erworbenen Kulturgüter aus Afrika in europäischen Museen und Sammlungen zu zeigen und den unwürdigen Zuständen ein Ende zu setzen, dass Afrikaner, die über ihre eigene kulturelle Identität nachdenken, Quellen und Anschauung in westlichen Museen suchen müssen. Es geht um die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes, die mit dem Begriff der „Restitution“ belegt wird.
Die französische Kunsthistorikerin Bénedicte Savoy und der senegalesische Schriftsteller und Ökonom Felwine Sarr haben im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron 2018 einen Bericht verfasst, in dem die Grundsätze und praktischen Verläufe bei der Rückgabe von kolonialer Raubkunst an afrikanische Länder formuliert werden. Darin geht es nicht darum, Anklage, Rache und Vergeltung in den Vordergrund zu stellen, sondern im interkulturellen Dialog die unterschiedlichen, kulturellen Betrachtungsweisen von Europäern und Afrikanern über Kunst und Kultur zu thematisieren. Während die westliche Identität von dem individuellen „Ich denke, also bin ich“ bestimmt wird, leitet sich die afrikanische von dem „Ich bin, weil wir sind“ ab. Die durch den Kolonialismus und Imperialismus zerstörten afrikanischen Werte müssen wiederentdeckt werden, und zwar in erster Linie von den Afrikanern selbst. Felwine Sarr entwickelt mit „Afrotopia“ ein Manifest, in dem er einen kritischen Gegenentwurf zum westlichen, patriarchalischen, dominanten und aufholenden Diskurs über Afrika darstellt.
Aufbau und Inhalt
Es sind Schritte, die als Bestandsaufnahmen und Analysen den Zustand des Kontinents Afrika beschreiben, immer mit zwei grundlegenden Perspektiven: Die eine bezieht sich dabei auf die mittlerweile weltweite Erkenntnis, dass es ein „Business as usual-“ und ein „Immer-weiter-immer-mehr“-Denken und Handeln in der Menschheitsentwicklung nicht mehr geben dürfe, und die andere, dass den vom Westen zugeschriebenen Kennzeichnungen, Afrika sei ein leerer, verlorener Kontinent, ein Afro-Realismus, -Futurismus und -Politanismus entgegengesetzt werden müsse (siehe auch: Franziska Dübgen/Stefan Skupien, Hrsg., Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20696.php).
In zwölf Kapiteln thematisiert Sarr sein Essay:
- „Afrika denken“
- „Gegen den Strom“
- „Der Leitsatz der Moderne“
- „Die Wirtschaftsfrage“
- „Sich selbst heilen, sich selbst benennen“
- „Die Revolution wird intelligent sein“
- „Das eigene Zuhause bewohnen“
- „In See stechen“
- „Afrotopos“
- „Afrikanische Städte: Konfigurationen des Möglichen“
- „Für sich selbst da sein: der wirkliche Fortschritt“
- „Die Lektionen der Morgenröte“.
Es sind keine Wolkenkuckucksheime, keine Illusionen und Leugnungen der politischen, ökonomischen und kulturellen Kalamitäten und Wirklichkeiten in Afrika, sondern Analysen über deren Ursachen, die den optimistischen Blick ermöglichen: Es wird, es muss sich was ändern! Und zwar im Bewusstsein und auf der Grundlage der Menschenwürde und der Humanität, die lokal und global eingefordert werden muss. Ein entscheidender Schritt hin zum Perspektivenwechsel kann sich vollziehen, wenn die gängigen, angesagten und dominanten Begriffe, wie z.B. „Entwicklung“ auf den eigenen Prüfstand gebracht werden. Herauskommen kann dann ein Bewusstsein, „sich dem Zugriff jenes rationalen und mechanistischen Modells zu entziehen, das die Welt erobert hat. Es sind die Unsicherheiten, wie sie der ghanaische Dichter M. F. Dei-Anang (1909 – 1977) mit seiner Frage nach dem „Wohin?“ gestellt hat:
„Wohin? Zurück? Zu den Tagen der Trommeln und festlichen Gesängen im Schatten sonnengeküsster Palmen – Zurück? Zu den ungebildeten Tagen da die Mädchen immer keusch waren und die Burschen schlechte Wege verabscheuten aus Angst vor alten Göttern – Zurück? Zu dunklen strohgedeckten Hütten wo Güte herrschte und Trost wohnte – Oder vorwärts? Vorwärts! Wohin? In die Slums wo Mensch auf Mensch gepfercht ist, wo Armut und Elend ihre Buden aufschlugen und alles dunkel ist und traurig? Vorwärts! Wohin? In die Fabrik um harte Stunden zu zermahlen in unmenschlicher Mühe in einer einzigen endlosen Schicht?“ (in: Janheinz Jahn, Hrsg., Dunkle Stimmen. Schwarzer Orpheus. Schwarze Ballade, 1963, S. 25f).
Es ist aber auch die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen, afrikanischen Versagen, wie sie eindrucksvoll der ugandische Kulturarbeiter Okot p’Bitek (1931 – 1982) in seinem „Gebet“ zum Ausdruck bringt:
„Oh Gott, bewahre Afrika Vor unseren neuen Herrschern; Lass sie demütig werden Öffne Ihre Augen, Damit sie sehen, Dass der materielle Fortschritt Nicht auf einer Stufe steht mit geistigem Fortschritt. Oh Herr, öffne die Ohren der afrikanischen Herrscher Damit sie Freude empfinden Beim Klang ihrer Trommeln Und der Gedichte ihrer Mütter.“ (Okot p’Bitek, Afrikas eigene Gesellschaftsprobleme, in: Rüdiger Jestel, Hrsg., Das Afrika der Afrikaner. Gesellschaft und Kultur Afrikas, suhrkamp tb1039, 1982, S. 258; siehe auch: Helmut Danner, Das Ende der Arroganz. Afrika und der Westen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13530.php).
Im Bericht der unabhängigen Südkommission von 1990 – „Die Herausforderung des Südens. Über die Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung“ (Stiftung Entwicklung und Frieden, Bonn/Bad Godesberg 1991, 430 S.) – wird vom damaligen Vorsitzenden, dem tansanischen Präsidenten Julius Nyerere, an die Afrikanerinnen und Afrikaner appelliert, individuelles und kollektives Selbstbewusstsein zu entwickeln: „Sie müssen sich, wenn sie Entwicklung wollen, auf die eigenen Kräfte besinnen“.
Im Diskurs um Anschlussfähigkeit oder Eigenständigkeit bei der Entwicklung in Afrika stehen sich zwei Wertvorstellungen gegenüber: Tradition und Moderne, etwa mit der Metapher, wie sie Aimé Césaire in dem Gedichtvers „Wohl denen, die niemals etwas erfanden…“ formuliert – und als Missinterpretation der Weißen gegenüber den Schwarzen als unfähig zum Denken ausgelegt wurde. Sarr charakterisiert dieses Problem so: „Der afrikanische Mensch der Gegenwart ist hin- und hergerissen zwischen einer Tradition, mit der er nicht mehr vertraut ist, und einer Moderne, die ihn von außen befallen hat wie eine zerstörerische, entmenschlichende Gewalt“. Aber alternative Konzepte werden diskutiert. Sie werden getragen von der Überzeugung, dass der afrikanische Kontinent kein Séparré, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil des Ganzen der Welt und des Kosmos ist, und als afrikanischer Beitrag die Werte „Autonomie und Souveränität über die Zeit“ einzubringen vermag.
Es sind die kontinentalen und interkontinentalen, gemeinsamen Säulen, die es zu bedenken und zu entwickeln gilt: „Ökonomie, Politik und Kultur“. Und es sind die historisch und gesellschaftlich unterschiedlich entstandenen und praktizierten Formen und Bewusstseinsbildungen, wie revolutionäre oder evolutionäre Wandlungs- und Veränderungsprozesse wirksam werden. In der Auseinandersetzung mit den zahlreichen, differenzierten und durchaus auch kontroversen Theorien und Entwürfen von afrikanischen WissenschaftlerInnen ist Sarr überzeugt: „Die (afrikanische; JS) Revolution wird intelligent sein“. Eine seiner Forderungen: „Die Formulierung eigener Zukunftsmetaphern muss Begriffe zur Grundlage haben, die aus den afrikanischen Kulturen hervorgegangen sind und zum Ausdruck bringen, wie man den Wohlstand steigern und das Zusammenleben verbessern kann“. Es sind philosophische Parameter, wie z.B. Uhuru, Ubuntu, Noflaye und Tawfekh, die in den innerafrikanischen und interkulturellen Diskurs eingebracht werden sollten. Mit der Ermunterung und Aufforderung „In See zu stechen“, plädiert Sarr nicht dafür, dass junge AfrikanerInnen den Kontinent verlassen, sondern die Moderne so zu begreifen, dass „der wirkliche Fortschritt und die Kreativität zur Bedingung (haben), dass man Wurzeln schlägt, um sich alter und damit zugleich jünger zu machen“. So wird die engagierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Afrika zu einer aktiven Gegenwartsbewältigung und zu einem humanen Zukunftsentwurf im Weltganzen. In etwas mehr als drei Jahrzehnten wird, so die Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung, Afrika ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen. Der afrikanische Beitrag für eine humane Weltentwicklung könnten Werte sein, wie sie in den afrikanischen Kulturen und Zivilisationen bekannt sind und gelebt werden: „jom“ (Würde), „téraanga“ (Gastfreundschaft), „kera“ (Bescheidenheit und Gründlichkeit), „ngor“ (Ehrgefühl)…
Fazit
Visionen und Utopien sind optimistische, hoffnungsvolle und anzustrebende Wertvorstellungen. Damit keine enttäuschenden Illusionen daraus werden, braucht es Zuversicht und aktives Handeln. Der 1972 geborene Schriftsteller und Wirtschaftswissenschaftler von der Gaston Berger Universität in Saint-Louis/Senegal, Felwine Sarr greift mit seinem Essay „Afrotopia“ nicht ins Leere; er bemüht auch keine Götter und Geister, sondern schaut mit objektivem, realistischem Blick auf die Wirklichkeiten, wie sie sich in den afrikanischen Ländern vollziehen. Er fordert auf: Afrika muss wählen“ – wie die Menschen in dem Kontinent ökonomisch und ökologisch, freiheitlich und nachhaltig, kulturell und zivilisatorisch leben wollen, als gleichwertiger Teil der Menschheitsfamilie!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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