Udo Sierck: Macht und Gewalt
Rezensiert von Dipl.-Psych. Lothar Sandfort, 29.05.2020

Udo Sierck: Macht und Gewalt – Tabuisierte Realitäten in der Behindertenhilfe. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 148 Seiten. ISBN 978-3-7799-3946-7. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 23,90 sFr.
Entstehungshintergrund
Udo Sierck und Nati Radtke sind Urgesteine einer sozialen Bewegung in Deutschland, die inspiriert von der bundesdeutschen Studentenbewegung sich in den 1970er Jahren entwickelte. Beide sind sich in ihren Einstellungen stets treu geblieben, auch während der Anpassungsentwicklungen der anfänglichen „Krüppelbewegung“ bis heute.
Ihre Biografien und ihr Wirken zeigen exemplarisch, dass sie zur Gruppe von Autoren gehören, deren Wissen kaum einer hören und lesen will, weil ihre Analysen keiner wissen will. Auch das hier vorgestellte neue Buch ist gnadenlos. Keine Hoffnung auf Wiedergutmachung und Versöhnung von Behinderten und Nichtbehinderten. Auch der pädagogische Begriff „Inklusion“, der versucht eine „Gleichheit von Anfang an“ einfach durch pädagogische Phrasen herzustellen, scheitert, – nicht krachend, sondern leise. Dieses Buch muss man aushalten, selbst als linkes Publikum, an das sich Sierck und Radtke traditionell wenden. Aushalten, weil es archaische Ängste bei allen Menschen belebt.
Inhaltlicher Aufbau
Das erste Unterkapitel (nach dem Vorwort) „Misshandlungen in Behinderteneinrichtungen nach 1945“ bezieht den Nationalsozialismus mit ein, obwohl es gleiche Beweggründe schon seit Entstehung der Kultur beschreiben könnte. Aber der Gegenstand der Betrachtungen muss eben eingeschränkt werden. Gleichzeitig wird schon im Ansatz deutlich: Grundsätzliches hat sich bis heute nicht verändert.
Die folgenden Untertitel:
- Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung,
- Behinderung und alltägliche Machtverhältnisse,
- Macht, Gewalt und Fremdbestimmung,
sind insgesamt eine Literatursammlung von Zitaten. Die philosophischen Gedankengänge sind oftmals nicht leicht zugänglich, weil diesen der jeweilige Gedankenkontext fehlt, der Sprache und Denkweise erst recht verständlich macht. Mehr eigene Kommentare der Autoren Sierckund Radtke hätten Verständnis und Beweisziele vermittelt. Das Buch wäre dadurch nicht zu lang geworden.
Doch dann verlegen sie unvermittelt den Schwerpunkt von der Textsammlung zur Beschreibung von Lebensberichten:
- Experten, Macht und Gewalt in Institutionen,
- sexuelle Gewalt und
- Zwangsmaßnahmen und Gewalt in der Psychiatrie.
Unter dem Untertitel „Die Elektrokrampftheraie – tabuisierte Gewalt?“ veröffentlicht das Buch eine Besonderheit, einen Gastbeitrag von Michael Bentfeld, einem Arzt. Er beschreibt Für und Wider einer medizinischen Methode, die sich seit 1938 hartnäckig aktuell hält. Sein Fazit endet in der Bewertung „Der Preis ist zu hoch.“. Die Nachfolge der Gewalt wird via Psychopharmaka fortgesetzt. Der massenhafte Gebrauch in den agogischen Institutionen hat mit Gesundheit nichts mehr zu tun und dient dazu, den behinderten Menschen gefügig zu machen, leicht zu verwalten. Er ersetzt Personal, stellt ruhig.
Der Gastkommentar ist wichtig, wirkt aber etwas deplatziert. Denn er unterbricht die Lebensberichte mit deren Höhepunkt: „Fremd und Anders-Sein“. Nati Radtke beschreibt dort die Macht der Fremdwahrnehmung behinderten Lebens. Das diskriminierende Urteil liegt schon in der nichtbehinderten Frage an einen behinderten Menschen: „Was hast du denn?“. Eine Antwort ist nutzlos. Egal wie sie beantwortet wird, sie wird verstanden mit „Gut, dass mir das nicht passieren kann“ und dem Nachsatz „Aber auch mein Leben ist verletzbar“ und die Einsicht erzeugt Angst und Flucht.
Diskussion
Nati Radtke deutet den letzten Gedanken in ihrem Text lediglich an. Zur Klarheit bräuchte sie zusätzlich einen anderen Denkansatz, einen psycho(päd)agogischen: Wieso kann sich die menschenverachtende Diskriminierung behinderten Lebens von Beginn der Kultur bis in die Zukunft hinein so erfolgreich halten? Warum will die prägende Mehrheit der Kulturtragenden das genauso, wie es ist? Warum stören Autor*innen wie Sierck und Radtke?
Weil kein Mensch wissen will, dass er oder sie mitverantwortlich ist, ob behindert oder nicht. Jede und jeder fürchtet die Möglichkeit der Verletzung des eigenen Lebensplans, der nur denkbar ist als Abfolge eines „Immer-Optimaler!“.
Selbst die Linke braucht eine Absolution, in diesem Fall den soziologischen Blick: „Gott sei Dank bin ich nicht so. Der Feind ist das System, die Gesellschaft!“
Ausblick
Wenn ich als Rezensent auch keine Befreiung von Schuld erwarte, weil es keine Erlösung gibt, brauche ich doch Hoffnung. Man muss doch etwas tun können? Versuchen wir es nach so vielen gescheiterten agogischen Idealen, nach Normalisierung, Integration und Inklusion mit Empowerment. Wenn Diskriminierung behinderten Lebens unüberwindbar ist, weil die Angst vor Leiden einfach in unser Leben hineininterpretiert wird, ohne eine Chance für uns, dann machen wir uns stark, die Diskriminierung zu entmachten.
August, ein Protagonist des rezensierten Buches fragt: „Muss ich das mein Leben lang aushalten?“ Der Autor antwortet: „Ja, er muss.“ Und ich ergänze: „Ja, das könnte er!“ Emanzipation von der Diskriminierung.
Fazit
Ein kleines soziologisches Buch voller toller (weil hilfreicher) Gedanken und Geschichten, akribisch gesammelt oder selbst erlebt. Geschrieben für Leserinnen und Leser, die was aushalten können und wollen. Ein Buch von Udo Sierck, Nati Radtke und Michael Bentfeld.
Rezension von
Dipl.-Psych. Lothar Sandfort
Psychologischer Leiter des „Institutes zur Selbst-Bestimmung Behinderter“ (Trebel), seit 1971 querschnittgelähmt und so seit vielen Jahren als Peer-Counselor in Beratung und Psychotherapie tätig. Unter anderem Supervisor und Coach für Teams in Einrichtungen der Behindertenarbeit von körperlich, geistig bzw. psychisch behinderten Menschen.
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