Ralf Lutz: Sinnvergessenheit in der Professionalisierung?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.03.2020

Ralf Lutz: Sinnvergessenheit in der Professionalisierung? Ein empirischer Vergleich zweier Therapiekonzepte. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 283 Seiten. ISBN 978-3-7799-6102-4. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Dem handelnden Leben einen Sinn geben
Woran kann es liegen, dass im aktuellen, bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs Professionalisierungsanalysen, -tendenzen und -forderungen Konjunktur haben? Sind es die lokal- und global auffällig und forciert wirkenden Unsicherheiten bei Fragen nach den Werten und Normen von Bildung, Erziehung und Aufklärungsvermittlung? Oder könnten Antworten darin zu finden sein, dass die globalen Veränderungsprozesse neue, andere Formen und Selbstverständnisse von professioneller Bildung und Erziehung fordern? Gibt es ein „nachhinkendes“ Bewusstsein der pädagogischen Profis und allzu festgemauerte Sinndeutungen bei den sozialpädagogischen und therapeutischen Berufsausbildungen und -ausübungen? Wenn die Sozialwissenschaftlerin Margret Dörr 2019 den 2006 zusammen mit dem Sozialpädagogen Burkhard Müller (+2013) vorgelegten Band „Nähe und Distanz“ neu und erweitert herausgibt und insistiert, dass dieses Spannungsfeld pädagogischer Professionalität nach wie vor und insbesondere bedeutsam und beachtenswert ist (Margret Dörr, Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26070.php); und wenn die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme darauf aufmerksam macht, dass körperliche Berührung und Empathie lebenswerte und existenzfördernde Eigenschaften sind ( Rebecca Böhme, Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​22261.php) – darf gefragt werden: Haben Pädagoginnen und Pädagogen Probleme mit ihrer Professionalisierung?
Entstehungshintergrund und Autor
Ein Lehrer …, Erzieher …, Pädagoge …, Therapeut …, ist ein Lehrer …, ist ein Lehrer … das ist die logische wie gleichzeitig eher nichtssagende und unbefriedigende Antwort auf die Fragen nach dem Selbst- und Funktionsverständnis von sozialpädagogischen, beruflichen Tätigkeiten. In der Aus-, Fortbildung und beruflichen Praxis werden Theoriekonzepte eingesetzt, die das professionelle Verständnis bestimmen. Erfahrungsgemäß handelt es sich dabei um unterschiedliche, auf Theorie und Praxis fokussierte berufliche Sinnfindungen und Tätigkeiten. In den (sozial-)pädagogischen Professionen herrschen zwei grundlegende Sinnbegriffe vor. Da ist zum einen der „funktionalistische Sinnbegriff“, wie er von Niklas Luhmann entwickelt und von Rudolf Stichweh professionstheoretisch für die Pädagogik aufgenommen wurde; zum anderen ist es der „hermeneutische Sinnbegriff“, wie ihn Ulrich Oevermann anthropologisch, sozial- und existenzphilosophisch begründet hat und von Viktor Emil Frankl weiterentwickelt wurde. Es geht also um die Frage: „Lässt sich ein schulenspezifischer empirischer Nachweis der Wirksamkeit von Psychotherapie-Ausbildungen auf zukünftige Psychotherapeuten bzgl. klinisch (besonders) relevanter Therapeutenvariablen erbringen, zumindest Unterschiede in denselben nachweisen?“. Auch wenn sich der Autor mit seiner erkenntnisleitenden Frage zuvorderst an die Professionen der Logo- und Verhaltenstherapeuten richtet und mit der empirischen Studie deren Befindlichkeiten und Identifikationen zu ihren Berufen erkundet, lässt sich der theorie- und praxisorientierte Ansatz zur Professionalisierungsforschung auch für andere pädagogische Berufe anwenden.
Der Autor, Theologe und Sozialwissenschaftler von der Katholischen Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen, Ralf Lutz, hat 2019 seine (zweite) Dissertation zu Fragen der Sinnhaftigkeit und Sinnvergessenheit in sozialpädagogischen Berufen vorgelegt. Es sind verstandes-, verständnis- und motivatorische Aspekte einer verantwortungsvollen, professionellen beruflichen Tätigkeit, die nicht zuletzt Lebensglück und -erfüllung ermöglichen und damit Bestandteil einer humanen Lebenslehre bereiten sollen.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung gliedert Ralf Lutz seine Studie in die folgenden, weiteren Kapitel:
- „Die Professionalisierung sozialpädagogischen Handelns in helfenden Berufen und die Frage nach dem Sinn – Theoretischer Hintergrund“
- „Die Professionalisierung sozialpädagogischen Handelns … – Empirische Studie“
- „Die Professionalisierung … – Ertrag und Ausblick“.
Fragen nach dem Sinn des menschlichen Daseins stellen sich in vielfältiger Weise: Alltäglich, Ethisch, Religiös, Weltanschaulich ( vgl. dazu z.B.: Gerhard Volker, Der Sinn des Sinns, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/​18151.php ), wie auch spezifisch ( Alcira Mariam Alizade, Weibliche Sinnlichkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​17558.php ). Weil Arbeit und berufliche Tätigkeiten zu den grundlegenden menschlichen Herausforderungen gehören (Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​17372.php), sind Fragen nach der Sinnhaftigkeit und Identifikation mit Berufsausübungen in sozialen (pädagogischen und helfenden) Berufen von besonderer Bedeutung – weil es dabei vor allem auf Formen des Verstehens, der Zuwendung und Empathie ankommt. Es ist die Profession gefragt. Eine Gewisswerdung der theoretischen Grundlagen von berufsethischen Konzepten ist deshalb Voraussetzung für ein verantwortungsbewusstes, professionelles Handeln. In der empirischen Studie untersucht der Autor im theoretischen Teil die Ziel- und Sinnbestimmungen der „Logotherapie“, die auch als „Existenzanalyse“ bezeichnet wird und „Seel-(Lebens-)sorge“ leisten will. Die Auseinandersetzung mit den vielfältigen, therapeutischen Verfahren – von der Einzel-, Familien-, bis zur Gruppentherapie – gründet der Autor auf der Voraussetzung, dass die therapeutischen Sitzungen ad personam, also persönlich und direkt stattfinden; während er die neueren, bisher wenig analysierten und erprobten virtuellen Konzepte nicht thematisiert (siehe dazu: Bernhard Pörksen/​Andreas Narr, Hrsg., Schöne digitale Welt. Analysen und Einsprüche…, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​26586.php).
Es ist die „Salutogenese“ (Sense of Coherence), die Lutz hervorhebt, als Zielsetzung für eine körperlich-seelische Gesundheit. Es sind Fragen nach den Grundbedürfnissen, die für ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben notwendig sind, die mit den verschiedenen vorliegenden Therapiemodellen erreicht werden können: Regulationskompetenz-, Selbstaktivierungs- und Sinnfindungsmodell. Der US-amerikanische Psychologe und Pädagoge Carl Rogers beschreibt einen „gesunden Menschen“, dass er offen ist für neue Erfahrungen und frei von Abwehrhaltungen, dass er bereit und daran interessiert ist, sich weiterzuentwickeln und zu verändern ist; dass er über ein realistisches Selbstkonzept verfügt; dass er innere Unabhängigkeit anstrebt; dass er Selbstwertgefühl hat; dass er sich anderen Menschen gegenüber offen, natürlich und frei von Vorurteilen verhält; und dass er anderen gegenüber Wertschätzung zeigt.
Die Zielsetzungen und Identitätsmuster, wie sie in den beiden grundsätzlich unterschiedlichen „Schulen“ als Therapiegrundsätze und -methoden vorgegeben sind, werden in der empirischen Studie in einer Fragebogenaktion (Trierer Persönlichkeitsfragebogen) bei aktuellen und ehemaligen Studierenden in der Psychotherapie-Ausbildung ermittelt. Die Ergebnisse sind ohne Zweifel wichtig für theoretische Überlegungen, wie Aus- und Fortbildungscurricula und Bildungspläne entwickelt werden sollen, die von körperlich-seelischen und lebensweltlichen Erwartungshaltungen ausgehen. Sie sind aber auch bedeutsam für die Praxis, weil ein professioneller Umgang mit Sinnfragen sowohl die persönlichen Befindlichkeiten der TherapeutInnen begründet und stabilisiert, als auch die professionellen Wirkungen verstärkt.
In zahlreichen Abbildungen, Tabellen, Statistiken und Grafiken werden Aufbau und Verlauf der wissenschaftlichen Studie deutlich und für die Weiterarbeit an der wichtigen Frage nach dem Sinn professionellen Denkens und Handelns verwendbar. In den Abbildungs-, Tabellen- und Literaturverzeichnissen finden die LeserInnen Hinweise; und als Anhänge sind die Fragebögen TPF I und II aufgeführt. Der abschließende Hinweis des Autors, dass im wissenschaftlichen Diskurs die Entwicklung einer „Methodologie des Umgangs mit Sinnfragen“ notwendig sei, die sich an einer „maieutischen und sokratischen Pädagogik“ orientieren möge, spricht dem Rezensenten aus dem Herzen!
Fazit
Die Annahme, dass der Vergleich der zwei verschiedenen Denk- und Theorieansätze in der professionellen Psychotherapie und -analyse unterschiedliche Einflüsse auf die Praxis hätten, konnte in der Studie (vorerst) nicht bestätigt werden. „Sinnvergessenheit“ im professionellen Umgang mit Sinn zeigt sich in beiden theoretischen Zugängen: „Aus diesem Grund ist ein elaborierter, handlungsorientierter, aber anthropologisch und ethisch fundierter Sinnbegriff notwendig, der nicht ausschließlich funktionalistisch auf das gesellschaftliche System hin gedacht wird, sondern dessen komplexe und vielschichtige Semantik und Struktur auch vom praktischen Lebensvollzug und der Handlungswirklichkeit des Menschen und seinen Handlungsfeldern her entwickelt und konstruiert wird“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 31.03.2020 zu:
Ralf Lutz: Sinnvergessenheit in der Professionalisierung? Ein empirischer Vergleich zweier Therapiekonzepte. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2019.
ISBN 978-3-7799-6102-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26075.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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