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Sebastian Kraus: Der begegnungs­orientierte Ansatz bei Menschen mit Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 01.04.2020

Cover Sebastian Kraus: Der begegnungs­orientierte Ansatz bei Menschen mit Demenz ISBN 978-3-17-036977-1

Sebastian Kraus: Der begegnungsorientierte Ansatz bei Menschen mit Demenz. Wahrnehmen, erkennen, begegnen. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2019. 197 Seiten. ISBN 978-3-17-036977-1. 29,00 EUR.

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Thema

Die Demenzpflege lässt sich u.a. in praktische Pflege im häuslichen Bereich durch Angehörige und Pflegende ambulanter Dienste und in die Pflege im stationären Bereich (Pflegeheime u.a.) unterscheiden. Des Weiteren kann eine Unterteilung in die praktische Pflege einerseits und in Konzepte über diese Pflege (u.a. Validation und das Modell von Kitwood) vorgenommen werden. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird dann vom Verhältnis zwischen Theorie und Praxis gesprochen. In der Regel decken sich hierbei die beiden Ebenen dergestalt, dass die Theorie grundlegende Aussagen bzw. Erklärungen über das praktische Tun u.a. in Gestalt von Wirkmechanismen und Kausalzusammenhängen enthält, die sich in der Praxis empirisch überprüfen lassen. Bezüglich der Demenzpflege muss gegenwärtig die betrübliche Feststellung getroffen werden, dass hier dieses allgemeine Theorie-Praxis-Verhältnis nicht existiert. Im Gegenteil, in der Demenzpflege besteht zumindest in Deutschland die paradoxe Situation, dass wirksame Strategien der Beruhigung und Ablenkung (James 2011) von normativ-ideologischen Positionen als ethisch nicht tragbar diskreditiert werden (Dämmert et al. 2016, Kitwood 2000). Auf diesem Hintergrund kann keine allgemein verbindliche Verhaltenssicherheit im Umgang mit Demenzkranken entstehen. Es wird auf der anderen Seite jedoch von vielen der Versuch unternommen, in Ansätzen ein theoretisches Gefüge in der Demenzpflege zu entwickeln. Die vorliegende Veröffentlichung lässt sich in diese Rubrik einfügen.

Autor

Sebastian Kraus ist Altenpfleger gerontopsychiatrische und leitende Pflegefachkraft bei der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg in Berlin.

Aufbau

Das Buch ist in fünf Abschnitte nebst Vorwort und Literaturverzeichnis unterteilt:

  1. Einleitung (Seite 13 – 20)
  2. In Begegnung lernen (Seite 21 – 30)
  3. Der begegnungsorientierte Ansatz (Seite 31 – 176)
  4. Leitbild und Soziale Praxis (Seite 177 – 188)
  5. Nachwort (Seite 189 – 195)

Inhalt

Bereits im Vorwort weist der Autor deutlich auf seine Sichtweise bezogen auf die Demenz hin, wenn er ausführt, Demenz nicht nur als Krankheit und Fähigkeitsverlust einzuschätzen, sondern zugleich auch als „Lebensweise“ (Seite 5). Des Weiteren verwehrt er sich gegen die Einstellung, dass Demenzkranke „nur noch in ihrer eigenen Welt leben“ (Seite 9).

Bei der Fundierung seines Konzeptes bezüglich des interaktiven Verhaltens wird zu Beginn auf den Ansatz der unterschiedlichen Erfassungsebenen verbaler Kommunikation von Paul Watzlawick zurückgegriffen. Es folgen Ausführungen über den Zusammenhang zwischen „situativer Verkennung“ als Ursache eines „fremdaggressiven“ Verhaltens, „kognitiver Verschlechterung“ und der Wirkung von Psychopharmaka nebst Klinikeinweisung. Hieran anknüpfend wird die Kernaussage des „begegnungsorientierten Ansatzes“ skizziert: „1. Verhalten hat immer einen Sinn. 2. Verhalten ist Ausdruck von Bedürfnissen. 3. Verhalten ist Kommunikation.“ (Seite 41). In diesem Ansatz wird in Abgrenzung zu Kitwood mit seinen fünf Grundbedürfnissen von drei „grundlegenden psychischen Basisbedürfnissen bei Menschen mit Demenz“ ausgegangen: „emotionale Zuwendung“ mit den Aspekten „Liebe, Trost und Verbundenheit“, „Alltagsnormalität“ (Selbstständigkeit, Sicherheit und Akzeptanz) und das „Bedürfnis nach Identität“ (Selbstbewusstsein, „Personsein“ und Selbstbestätigung) (Seite 50ff). Identitätsstabilisierende Milieuelemente wie eine generationsspezifische Möblierung und die Einrichtung einer „Bushaltestelle“ werden als künstlich und teils kontraproduktiv eingeschätzt, ohne Bezug auf die einschlägigen Erkenntnisse zu nehmen (Elmstahl et al. 1987, Minde et al. 1990). Ergänzend hierzu wird in diesem Ansatz von drei „physischen Grundbedürfnissen“ ausgegangen: „Ruhe und Bewegung“, „Nahrung und Flüssigkeit“ und „Wärme und Berührung“, die nochmals in Teilelementen untergliedert werden (Seite 55f).

Ausführlich wird ein Fallbeispiel einer tätlichen Gewalt eines Demenzkranken gegenüber einem Pflegenden beschrieben (Faustschlag ins Gesicht). In diesem Zusammenhang beschreibt der Autor das Konzept der „negativen Integration“, das aus dem „negativem Entwicklungskreislauf“ mit den Faktoren „negative Interaktion“, „situative Verkennung“ und „Arbeitsdruck und Überlastung“ besteht (Seite 70).

Bezüglich des Umgangs werden Beobachtungen beschrieben, die ein Vermeidungs- und Rückzugsverhalten gegenüber Demenzkranken mit einem starken Kommunikationsbedürfnis (ständiges Fragen) beinhalten. Hieran anknüpfend werden die Aspekte einer „negativen Interaktion“ („bevormunden, infantilisieren“, „ignorieren, missachten“ und „bloßstellen, konfrontieren“) im Umgang mit Demenzkranken aufgelistet, ohne jedoch darauf zu verweisen, dass es sich hierbei um so genannten „Detraktionen“ von Kitwood handelt (Kitwood 2000). Dies lässt sich als bloßes Abschreiben (Plagiat) bezeichnen.

In dem Unterabschnitt „Nähe und Distanz“ (Seite 89–95) wird sehr ausführlich das „Du“ in der Kommunikation mit Demenzkranken erörtert. Es wird diesbezüglich u.a. vermutet, dass das „Du“ Ausdruck einer negativen Haltung gegenüber dieser Personengruppe im Sinne einer „Entpersönlichung“ darstellen könnte (Seite 94).

Es werden erläuternd mehrere Fallbeispiele über das alltägliche Verhalten Demenzkranker im stationären Bereich angeführt: bei Pflegehandlungen, im Gemeinschaftsbereich und im Kontakt mit Pflegenden und Mitbewohnern.

Im Unterabschnitt „Grenzsituationen“ (Seite 125–139) wird u.a. der Fall eines wütenden Demenzkranken beschrieben, der nachts derart massiv die Nachtwache bedrohte, dass die sich im Dienstzimmer einschließen musste und Polizei und Feuerwehr zwecks Einweisung des Rasenden in die Psychiatrie zu Hilfe rief. Der letztlich banale Anlass für diesen Ausbruch war die Weigerung, dem Demenzkranken nachts Zigaretten auszuhändigen.

In den folgenden Abschnitten macht sich der Autor Gedanken über die Sinnhaftigkeit und Praktikabilität einer Pflegeplanung bereits zwei Tage nach Heimeintritt. Alternativ hierzu wird der „Regelkreis“ und das „Prozessmodell“ des „begegnungsorientierten Ansatzes“ mit den Elementen „Handlungsbasis entwickeln“, „Wahrnehmen und Erproben“ und „Erfahrenes Reflektieren“ vorgestellt. Des Weiteren wird die Abschaffung des Biografiebogens im Rahmen der „Entbürokratisierung der Pflege“ in Frage gestellt. Eingehend wird auch auf die Problemlagen im Umgang mit den Angehörigen eingegangen, die einerseits kontrollierend auftreten, andererseits aber auch in die Planung und Gestaltung des Alltags mit einbezogen werden. Beobachtet wurde in diesem Zusammenhang, dass Pflegende im Kontakt mit Angehörigen sich teils recht unterschiedlich verhalten: manche können Kritik nicht annehmen und reagieren gereizt, andere wiederum vermeiden bewusst die Begegnung mit den Angehörigen. Es folgen die Ansichten und Gedanken des Autors über die Bedeutung der Räumlichkeiten für Demenzkranke, jedoch ohne den Stand des Wissens zu referieren (Heeg et al. 2008), den Stellenwert von Leitbildern, Aspekte der Pflegequalität und diesbezüglich die „normativ-ethische Grundlagen“ seines Ansatzes.

Diskussion

Der Autor ist eindeutig ein Mann der Praxis, der auf jahrelange Erfahrung im Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium zurückblicken kann. Die vielen Fallvignetten belegen diesen Sachverhalt. Bezüglich der Entwicklung neuer theoretischer Konzepte vermag der Autor aus der Sicht des Rezensenten jedoch nicht zu überzeugen, wie im Folgenden gezeigt wird.

Die Grundlage und damit auch der Bezugsrahmen der Ausführungen besteht in Anlehnung an Kitwood aus einer Verdopplung der Demenz in eine Erkrankung und zugleich wiederum auch Nichterkrankung bzw. „Lebensweise“ (das Konzept der Entpathologisierung der Demenz), ohne jedoch die Notwendigkeit eines empirischen Nachweises dieses Nebeneinanders erkennen und erklären zu können. Gemäß der Position einer Entpathologisierung der Demenz entwickelt der Autor euphemistische Begrifflichkeiten, wenn z.B. der neurodegenerative Abbauprozess als eine „demenzielle Entwicklung“ bezeichnet wird.

Der nicht vermittelbare Widerspruch zwischen der Gleichzeitigkeit von Krankheit und Lebensweise bei der Demenz manifestiert sich auch recht evident in dem Modell von den „grundlegenden psychischen Basisbedürfnissen“. So fehlt den vom Autor entwickelten recht abstrakten Kategorien (Zuwendung, Alltagsnormalität und Identität) jedweder Bezug zu den Symptomen und dem Verlauf der Demenz im Sinne einer Demenzspezifität. Dementsprechend besteht auch eine Kluft in der Darstellungsweise dergestalt, dass die alltagsbezogenen Fallbeispiele nicht in Beziehung zu der Modellvorstellung in Gestalt einer Ableitung oder einer Erklärung gesetzt werden.

Angesichts der Tatsache, dass hier ein neuer Ansatz in der Demenzpflege entfaltet wird, muss sich der Autor darüber hinaus den Vorwurf gefallen lassen, sich nicht den hierfür erforderlichen fachlichen und wissenschaftlichen Wissensstand über das komplexe Themenfeld Demenz und Demenzpflege angeeignet zu haben. Deutlich wird dieser Sachverhalt, wenn der Autor an mehreren Stellen seine Ansichten und Meinungen zu bestimmten Themenfelder erläutert, ohne auf den bereits vorliegenden Stand der Forschung zurückgreifen zu können.

Fazit

Der Anspruch, eine innovative Konzeption im Bereich des Umganges mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium entwickelt zu haben, konnte aufgrund der angeführten Unzulänglichkeiten nicht eingelöst werden. So wurde z.B. die implizite Widersprüchlichkeit und damit zugleich auch Paradoxie von zwei Seinssphären – die Identität von Krankheit und Nichtkrankheit – als Rahmenkonzept weder erkannt noch gedanklich durchdrungen. Des Weiteren fehlt der für eine Konzeptbildung im Bereich Demenzpflege erforderliche Rückgriff auf den aktuellen neurowissenschaftlichen Stand der Forschung. Der bloße Verweis auf Watzlawick und Kitwood reicht für die Fundierung eines praxisorientierten Modellansatzes hierbei nicht aus. Es bleibt somit das Fazit zu ziehen, dass vom „begegnungsorientierten Ansatz“ keine neuen Impulse für die Pflege und Betreuung Demenzkranker erwartet werden können.

Literatur

Dammert, M. et al. (2016): Person-Sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Weinheim und Basel: Beltz Juventa Verlag

Elmstahl, S., Blabolil, V. et al. (1987) Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine. 1. Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology, 1: 28–33.

Heeg, S. et al. (2008) Heimat für Menschen mit Demenz. Internationale Entwicklungen im Pflegeheimbau – Beispiele und Nutzungserfahrungen. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag https://www.socialnet.de/rezensionen/5763.php

James, I. A. (2011) Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz. Einschätzen, verstehen und behandeln. Bern: Verlag Hans Huber

Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber

Minde, R. et al. (1990) The ward milieu and its effects on the behaviors of psychogeriatric patient. Canadian Journal of Psychiatry, 35: 133–138.

 

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 01.04.2020 zu: Sebastian Kraus: Der begegnungsorientierte Ansatz bei Menschen mit Demenz. Wahrnehmen, erkennen, begegnen. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2019. ISBN 978-3-17-036977-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26092.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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