Zülfukar Çetin, Peter-Paul Bänziger (Hrsg.): Aids und HIV in der Türkei
Rezensiert von Dani Spiegler, 17.12.2019
Zülfukar Çetin, Peter-Paul Bänziger (Hrsg.): Aids und HIV in der Türkei. Geschichten und Perspektiven einer emanzipatorischen Gesundheitspolitik.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2019.
305 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2826-6.
D: 32,90 EUR,
A: 33,90 EUR.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 16.
Thema
HIV und Aids erfahren in der Türkei seit einigen Jahren steigende Sichtbarkeit und Relevanz, da die Anzahl bekannter Infektionen rasant ansteigt. Diskriminierung aufgrund des positiven Status, aufgrund von Unwissenheit und falschen Informationen gehört ebenso zur gesellschaftlichen Realität wie emanzipatorische Bestrebungen gegen diese, ausgehend von Menschen verschiedener Disziplinen sowie Betroffenengruppen. Deren Kämpfe werden mithilfe Çetins Interviews dokumentiert und der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Interviews geben Einblick in die Entwicklungen der Diskurse um Sexualität und Gesundheit in der Türkei, deren Wechselwirkung_en sowie den Einfluss sozialer Bewegungen auf entsprechende politische Entscheidungen.
Herausgeber*innen/Autor*innen
Peter-Paul Bänziger ist Projektleiter des HERA-Forschungsprojektes „Disentangling European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health“ (EUROPACH), welchem das vorliegende Buch entstammt. Außerdem arbeitet er als Privatdozent an der Universität Basel im Bereich Neuere Allgemeine Geschichte. Die Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der Geschichte von Sexualität, Therapie, Beratung, Wirtschaft, Aids & Drogen sowie Körper-, Medien- und Wissensgeschichte.
Zülfukar Çetin arbeitet ebenfalls in dem bereits genannten HERA-Forschungsprojekt und ist Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Queer Theorie und Politik, Heteronormativität und Homonationalismus, (Post-) Kolonialismus, (antimuslimischer) Rassismus, Migrations- und Antidiskriminierungspolitik.
Übersetzung
Koray Yılmaz-Günay ist Aktivist und Publizist in rassismuskritischen und queeren Kontexten, Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Koordinator der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrates Brandenburg, Gründer des Verlages Yılmaz-Günay sowie Dolmetscher und Übersetzer (türkisch-deutsch) unter anderem für diesen Band.
Entstehungshintergrund
Die vorgestellten Interviews wurden im Rahmen des HERA-Forschungsprojektes „Disentangling European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health“ (EUROPACH) durchgeführt. Dieses untersucht in fünf Fallstudien das Zusammenspiel von Sexualität, Gesundheit und Staats-/Bürger*innenschaft am Beispiel HIV/Aids. Dabei wird auf die Rolle sozialer Bewegungen fokussiert, insbesondere auf die Schwulenbewegung in verschiedenen westeuropäischen Kontexten. Da es bislang kaum wissenschaftliche Auseinandersetzungen zum Thema HIV und Aids in der Türkei gibt, werden die in diesem Buch vorgestellten Zwischenergebnisse als erste Annäherung veröffentlicht.
Aufbau und Inhalt
Der ca. 305 Seiten umfassende Band gliedert sich in drei Teile.
Die Herausgeber*innen Peter-Paul Bänziger und Zülfukar Çetin beginnen mit der Einbettung des Themas sowie der Erläuterung der wissenschaftlichen Herangehensweise. Sie verorten das Themenfeld HIV und Aids in der Türkei innerhalb europäischer Diskurse, zeichnen den institutionellen Umgang mit HIV-Infektionen nach, arbeiten dominierende Narrative im gesellschaftlichen Diskurs heraus und verdeutlichen die eigene Zielstellung davon. Sie beschreiben gesellschaftliche Kämpfe um Deutungshoheit und Maßnahmen und deren Auswirkungen auf staatlich-politisches Handeln, ohne dabei auf homogenisierende Darstellungen zurück zu greifen. Anhand der nachfolgend dargestellten Interviews verfolgen sie die Frage, inwiefern sich zukünftig gesundheitspolitische Strategien aus dem möglicherweise entstandenen diskursiven Raum der vergangenen 30 Jahre ableiten lassen. Es folgt eine kurze Darstellung der vier Phasen des Diskurses um HIV und Aids in der Türkei bis heute. Dazu fassen sie bereits die zentralsten Erkenntnisse der nachfolgenden Interviews zusammen und verbinden diese mit den Ergebnissen der Literatur- und Archivrecherche.
Der zweite Teil des Bandes umfasst zwölf der insgesamt 25 qualitativen Interviews, die im Zeitraum von Frühjahr 2017 bis Januar 2018 von Zülfukar Çetin geführt wurden. Sie behandeln die Frage, wie HIV und Aids geschichtlich und gegenwärtig in der Türkei diskutiert werden. Dazu werden die Interviews in vier Bereiche geteilt:
- In Kapitel eins finden sich Gespräche mit queeren und trans* Personen, die sich gegenwärtig professionell und/oder aus persönlicher Betroffenheit mit HIV auseinandersetzen. Das erste Interview führte Çetin mit Efe, einem jungen schwulen Mann mit positivem HIV-Status, der sich in der Schwulenszene Ankaras bewegt und einen persönlichen Einblick in die HIV-bezogenen Herausforderungen seines Alltags gewährt. Dabei berichtet er von seinem Selbstbild, Diskriminierung und dem Umgang damit, von Zugängen zum Gesundheitssystem und von den Themen Homosexualität und HIV im Militär. Die beiden folgenden Interviews führte Çetin mit Kemal Ördek und Buse Kılıçkaya, zwei trans* Personen, die in der Sexarbeit tätig sind und sich in den Organisationen Kırmızı Şemsiye Cinsel Sağlık ve İnsan Hakları Derneği (Roter Regenschirm. Verein für sexuelle Gesundheit und Menschenrechte) bzw. Pembe Hayat LGBTT Dayanışma Derneği (Rosa Leben LSBTT-Solidaritätsverein) aktivistisch engagieren. Sie berichten von ihren Kämpfen für trans* Personen und Sexarbeiter*innen im Kontext internationaler Rechte für sexuelle und reproduktive Gesundheit, Migration, Diskriminierung und Menschenrechte in einer Zeit, in der der gesellschaftspolitische Konservatismus zunimmt.
- Im zweiten Kapitel geht es um den Prozess der kollektiven Selbstorganisierung. Çetin spricht mit drei Personen die bei der ersten Basisorganisation von und für HIV-positive Menschen – Pozitif Yaşam Derneği (Verein Positives Leben) – engagiert sind oder waren. Canberk Harmancı, Yasin Erkaymaz und Arzu Rezzan Sunam zeigen die Veränderungen der Organisierung rund um HIV und Aids auf und verdeutlichen dabei einerseits die Fokusverschiebung auf Selbstermächtigung und Prägung gesellschaftlicher Diskurse und andererseits die Ambivalenzen und Herausforderungen, die sich zwischen Zielsetzung und Umsetzung ergeben.
- Das dritte Kapitel bildet die Professionalisierungsprozesse in den 1990er und 2000er Jahren ab. Welche Rolle nehmen internationale Organisationen wie die WHO in Debatten innerhalb der Türkei ein? Wie positionieren und entwickeln sich die Interessensvertretungen? Doğan Güneş Tomruk und Muhtar Çokar sprechen vor allem über die Geschichtsschreibung um HIV und Aids. Sie betrachten diese aus einer staatlich institutionalisierten Perspektive und machen dadurch eine weitere Erzählung neben denen anderer Aktivist*innen auf. Umut Güner geht anschließend detaillierter auf die Fehler institutioneller Gesundheitspolitik ein und leitet daraus Anforderungen an eine aktuelle Antidiskriminierungsarbeit ab. Muhtar Çokar kommt abschließend noch einmal zu Wort und schaut auf die Frage, inwiefern westliche Narrative und Modelle Einzug in die türkische Politik genommen haben. Des Weiteren blickt er auf die Verbindungen zwischen den Kämpfen um HIV/Aids und Sexarbeit.
- Im letzten Kapitel der Interviews bittet Zülfukar Çetin die Aktivist*innen der sogenannten ersten Stunde zu Wort. Veli Duyan, Tuğrul Erbaydar und Deniz, dessen*deren Name und Geschlecht anonymisiert wurden, gehören zu der ersten Generation in der Türkei zu den Themen HIV und Aids aktiv arbeitenden Personen. Veli Duyan, Professor für Gesundheit in der Sozialen Arbeit, beschreibt, wie die Soziale Arbeit HIV erst zu einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema gemacht hat, nachdem die Medizin lange Zeit eine diskursdominierende Rolle inne hatte. Tuğrul Erbaydar und Deniz, gehören zu den Mitbegründer*innen von AİDS Savaşım Derneği (Verein für den Kampf gegen Aids), einer der ersten Organisationen zum Thema HIV in der Türkei, in der mehrheitlich medizinisches Fachpersonal organisiert war. Sie geben Einblick in den damaligen Diskurs sowie die Verbindung biopolitischer Interessen und internationaler Projektförderung. Außerdem zeigen sie deutlicher als alle anderen Gesprächspartner*innen, wie HIV von einer mikrobischen zu einer sozialen Frage wurde und geblieben ist.
„Wir wissen es ja sehr gut: HIV und Aids mögen als mikrobische Epidemie begonnen haben, aber um die Krankheit herum ist eine soziale Epidemie entstanden, die fast schlimmer ist als die mikrobische. Mit Aids ist das gesamte Ausgrenzungs- und Diskriminierungspotenzial in den Menschen zum Vorschein getreten. […] Was ich sagen will, ist dies: Das ist nicht bloß eine Krankheit, die von einem Erreger stammt. Es ist eine Krankheit, die zu einem bösartigen Gespenst geworden ist – ein Gespenst, das aus Diskriminierung und Stigma gewebt ist.“ (vgl. S. 274 - Gespräch mit Deniz)
Anschließend an das Bild des Gespenstes beendet der Essay „M. – Das Gespenst einer Aids-Dystopie“ von Yener Bayramoğlu den Band zu Aids und HIV in der Türkei auf andere Weise. Anhand der medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für Murtaza Elgin, der als erste HIV-positive Person in der Türkei bekannt wurde und an Aids gestorben ist, geht er der Frage nach, ob und wie das Sterben auch als queer gedeutet werden kann. Gibt es einen spezifischen queeren Tod und beeinflussen die Gespenster queerer Vorfahr*innen die gegenwärtige politische und aktivistische Landschaft? Mit der Annäherung an diese Fragen schließt der Band.
Diskussion und Fazit
In dem Band wird ein intersektionaler Einblick in die Verwobenheit_en von Thematiken deutlich. Die Herausgeber*innen spannen ein Netz von Themen, Lebensrealitäten, Umgangsweisen, Kämpfen und Forderungen rund um den zentralen Punkt HIV: HIV zwischen Prävention und Antidiskriminierung, Homosexualität und trans*Sein zwischen Anfeindung und Sichtbarkeit, Aktivismus zwischen Selbstermächtigung und zunehmendem Konservatismus, Sexarbeit zwischen Selbstbestimmung und Kriminalisierung, sexuelle und reproduktive Rechte international zwischen Biopolitik und Emanzipation, u.v.m. Diese Diskurse sind eng miteinander verwoben und bestimmen die Lebensrealität_en vieler Menschen – vor allem derer, die marginalisierten Gruppen angehören. Sie machen deutlich, dass das Kredo der zweiten Frauenbewegung des globalen Nordens „Das Private ist politisch!“ keinesfalls an Aktualität verloren hat. HIV als Dispositiv vereint Kämpfe um und gegen Machtverhältnisse auf vielerlei Ebenen.
Mit dem gesetzten Schwerpunkt, HIV-positive Aktivist*innen sowie deren Unterstützer*innen und andere Akteur*innen in dem Themenbereich HIV und Aids mithilfe von qualitativen Interviews zu Wort kommen zu lassen, geben Çetin und Bänziger diesen Hör- und Sichtbarkeit im deutschsprachigen Raum. Sie lassen Betroffene und Engagierte sprechen und fragen nach Errungenschaften, Kritik und offenen Baustellen. Sie geben den Gesprächspartner*innen Raum, um Forderungen zu stellen, ein Fazit zu ziehen und Entwicklungen zu reflektieren. Ihre persönliche Zusammenfassung der Gespräche setzen sie den Gesprächsprotokollen voran und leiten damit in die Vielfältigkeit der folgenden Perspektiven ein.
Die Textform des verschriftlichten Gesprächs ermöglicht einen niedrigschwelligen Zugang zu komplexen Zusammenhängen und macht das enthaltene Wissen somit einem breiten Publikum zugänglich, da Quellenverweise u.Ä., die den Lesefluss erschweren könnten, entfallen. Gleichzeitig verweisen die Herausgeber*innen innerhalb der Interviews auf angrenzende Aussagen anderer Gesprächspartner*innen, was das entstehende Gedankennetz bestärkt und erweitert.
Der Band bietet einen verständlichen und gleichzeitig umfassenden Einblick in die Diskurse rund um HIV und Aids in der Türkei. Als selbsternannte Grundlagenliteratur in einem Feld ohne große Auswahl erfüllt der Band seine eigenen Ansprüche und übertrifft sie gleichzeitig, indem unzählige Anknüpfungspunkte zu anschließenden Debatten eröffnet werden, die das Verständnis gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge ermöglichen, wenngleich die Verweise nicht immer explizit sind. Spannend bleibt der direkte Vergleich zu anderen Ländern, der im Rahmen des Forschungsprojektes nachfolgend zu erwarten ist.
Rezension von
Dani Spiegler
Rezensent*in, Referent*in für Antidiskriminierungs- und sexuelle Bildung, Berater*in zu sexuellen und reproduktiven Rechten und Gesundheit mit Schwerpunkt auf HIV & Aids sowie diverse Lebens- und Liebensweisen
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Zitiervorschlag
Dani Spiegler. Rezension vom 17.12.2019 zu:
Zülfukar Çetin, Peter-Paul Bänziger (Hrsg.): Aids und HIV in der Türkei. Geschichten und Perspektiven einer emanzipatorischen Gesundheitspolitik. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2019.
ISBN 978-3-8379-2826-6.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 16.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26101.php, Datum des Zugriffs 18.09.2024.
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