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Lars Geiges, Tobias Neef et al.: Lokale Konflikte um Zuwanderung aus Südosteuropa

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 19.12.2019

Cover Lars Geiges, Tobias Neef et al.: Lokale Konflikte um Zuwanderung aus Südosteuropa ISBN 978-3-8376-3884-4

Lars Geiges, Tobias Neef, Julia Kopp, Robert Mueller-Stahl: Lokale Konflikte um Zuwanderung aus Südosteuropa. "Roma" zwischen Anerkennung und Ausgrenzung. transcript (Bielefeld) 2017. 277 Seiten. ISBN 978-3-8376-3884-4. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Reihe: Göttinger Institut für Demokratieforschung: Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen - Band 13.

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Thema

Die EU-Osterweiterung ist spätestens mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien zu einem Einfallstor für einen neuen Antiziganismus geworden, der sich auch in Deutschland vor allem an der Migration aus Südosteuropa festmacht. Wie dieser neue Antiziganismus, für den im Unterschied zum alten die Konstruktion der fiktiven Ethnizität „Roma“ zentral ist, funktioniert, ist bislang wenig erforscht. Das Buch „Lokale Konflikte um Zuwanderung aus Südosteuropa. ‚Roma’ zwischen Anerkennung und Ausgrenzung“ von Lars Geiges, Tobias Neef, Julia Kopp und Robert Mueller-Stahl kann als Beitrag zu dieser Forschungsfrage gelesen werden. Die Studie zeigt, dass die Chiffre „Roma“ in lokalen Konflikten die ideologische Funktion hat, die mit der EU-Osterweiterung einhergehenden Formen der sozialen Ausgrenzung und ökonomischen Ausbeutung zu verdecken.

Aufbau

Vor dem Hintergrund der bislang sehr überschaubaren Forschungsliteratur zu den Debatten und Konflikten im Kontext der EU-Binnenmigration aus Bulgarien und Rumänien legt das Team vom Göttinger Institut für Demokratieforschung die erste „fallanalytisch angelegte akteurszentrierte Untersuchung“ vor, „die Handeln und Verhalten der unterschiedlichen Konfliktteilnehmer im Verlauf rekonstruiert, analysiert und vergleicht“ (S. 19). Nach einer Einleitung, in der Ziele und Methoden der Studie vorgestellt werden, werden in sechs Kapiteln „lokale Konflikte um Zuwanderung aus Südosteuropa“ in einem ländlichen Raum und in fünf städtischen Kontexten dargestellt und analysiert. Es handelt sich um

  • Konflikte im sogenannten „Problembezirk“ Dortmunder-Nordstadt,
  • Konflikte um Werkvertragsarbeit im Oldenburger Münsterland,
  • Konflikte um Mieten in einem maroden Altbau in der Berliner Grunewaldstraße,
  • Konflikte um ein späteres bundesweites „Vorzeigeprojekt“ in der Berlin-Neuköllner Harzer Straße,
  • Konflikte um sogenannte „Klau-Kids“ in Köln und
  • die Proteste von Romano Jekipe Ano gegen die repressive Abschiebepolitik in Hamburg.

Gleichwohl es sich um Konflikte handelt, die in ihrer Entstehung, ihrem Verlauf und ihrem Inhalt sehr unterschiedlich sind, weisen die Autor*innen in den „Schlussbetrachtungen“ auf eine strukturelle Gemeinsamkeit hin. In allen Fällen konnten Strategien der Grenzziehung auf Seiten der einheimischen Bevölkerung beobachtet werden, die sich in Form einer „Grammatik des ‚Asozialen‘“ (S. 248) antiziganistischer Stereotype bedienten.

Inhalt

Nach Auffassung der Verfasser*innen ist es der „Wesenskern“ von „Prozessen der Zuwanderung“, dass sie „konfliktär“ seien (S. 21). Nicht dass es im Kontext von Migration Konflikte gibt, sondern wie diese verlaufen, sei deshalb von Interesse. Um herauszufinden, welche Faktoren eher zu einer Verschärfung oder aber zu einer „Befriedung“ eines Konflikts führen, müsse der Konfliktverlauf rekonstruiert und „das Handeln und Verhalten“ der am Konflikt beteiligten Akteure analysiert werden. Der Begriff „lokaler Konflikt“ bezieht sich dabei sowohl auf den konkret abgrenzbaren, physischen Raum als auch auf den sozialen Raum. Beide stehen in einem Wechselverhältnis zueinander: „Die lokalen physischen Räume sind von gesellschaftlichen Hierarchisierungen und Auseinandersetzungen durchdrungen, sie repräsentieren die Differenzen, die einer Gesellschaft agonale Strukturen verleihen“ (S. 29). Lokale Konflikte um Migration seien deshalb immer auch als Konflikte um die Struktur des sozialen Raums zu verstehen. Mit Bezug auf Bourdieu verweisen die Autor*innen darauf, dass die Positionen, die die Akteure im sozialen Raum einnehmen, von ihrer Ausstattung mit kulturellem, sozialem, ökonomischem und symbolischem Kapital abhängen. Insbesondere die Formen des symbolischen Kapitals stabilisieren die gesellschaftliche Anerkennungsordnung.

Angesichts der so beschriebenen Machtstruktur des sozialen Raums sei klar, dass Konflikte um Migration sinnvollerweise nicht als Konflikte um Integration – als solche werden sie in Wissenschaft und Politik fast immer dargestellt –, sondern als Konflikte um Anerkennung verstanden werden müssen. Wie diese Kämpfe um Anerkennung verlaufen, hänge nicht zuletzt von der Wirkmächtigkeit sozialer Klassifikationsmechanismen ab, die entweder die Partizipation oder den Ausschluss migrierter Gruppen legitimeren. Folgerichtig platzieren die Autor*innen den Gegenstand ihrer Forschung genau an dieser Stelle: „In welcher Weise solche Klassifikationen in die Auseinandersetzungen um die Anerkennung migrierter Gruppen aus Südosteuropa eingehen und unter welchen Kontextbedingungen der Konflikt unterschiedliche Verläufe nimmt, ist Gegenstand dieser Studie“ (S. 31). Daraus ergibt sich eine doppelte Analyseperspektive. Zu untersuchen ist sowohl die „kommunikative Ebene“ als auch die „soziale Ebene“ des Konflikts. Auf der sozialen Ebene gilt es, den „Umgang der ansässigen Bevölkerung mit dem Phänomen der Migration wie auch die Praktiken lokaler Akteure im Umgang mit den Gruppen der Migrierten“ zu rekonstruieren, auf der kommunikativen Ebene werden „die Zuschreibungen und Chiffrierungen sowie die Erklärungen und Deutungen von Veränderungen im sozialen Raum untersucht. Gerade auf dieser Ebene sind ethnisierte Zuschreibungen, Stereotype und antiziganistische Vorurteile oftmals entscheidend für den Verlauf eines Konflikts, da sie sinnbildende Strukturen vorgeben“ (S. 32). 

Diskussion

Der Studie gelingt es, durch die historische Kontextualisierung der untersuchten lokalen Konflikte Einblick in die Entstehung und Funktionsweise neuer „Ökonomien der Ausgrenzung“ (S. 249) zu geben. Lesenswert ist dazu besonders das Kapitel über die Entstehung des Billiglohnsektors in der Fleischindustrie des Oldenburger Münsterlands, das seinen enormen Wohlstand einem perfiden System massiver Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen aus Südosteuropa verdankt.

Hingegen gelingt es dem Forschungsteam nicht immer, den zweiten Aspekt ihrer Analyseperspektive – die Untersuchung der kommunikativ-sinnbildenden Ebene der „Zuschreibungen und Chiffrierungen“ – am empirischen Material umzusetzen. Ein Mangel an rassismuskritischer Analysekompetenz, die dazu notwendig gewesen wäre, zeigt sich etwa in der Darstellung des Konflikts um Migration in der Dortmunder-Nordstadt. Die Autor*innen konstruieren ihn als fast mustergültigen kommunalen Lernprozess, in dem die verantwortlichen Akteure in Politik, Verwaltung und Sozialer Arbeit nach anfänglichen Schwierigkeiten zunehmend anerkennungsorientiert und partizipativ agieren. Allein: Liest man die zitierten Interview- und Gesprächspassagen, kommen Zweifel auf, ob die Geschichte wirklich so schön verlaufen ist. Sie sind voll von rassistischen Differenzkonstruktionen, ethnisierenden Problemzuschreibungen und paternalistischen Integrationsphantasien (z.B. S. 86 ff.). In die „Konflikt-als-Lernprozess“-Perspektive, der die Forscher*innen mindestens implizit in Teilen ihrer „Rekonstruktionen“ zu folgen scheinen, passt dieser artikulierte Alltagsrassismus nicht und wird wohl deshalb auch nicht weiter thematisiert.

Anders verhält es sich bei der Analyse der Konflikte um die so genannten „Klau-Kids“ in Köln. Hier gelingt es den Autor*innen, den institutionellen Rassismus der Kölner Polizei seit den 1980er Jahren bis heute deutlich herauszuarbeiten. Sie stoßen hier auf eine Wirklichkeitsebene, die Sergio Carrera, Julius Rostas und Lina Vosyliute (dies. 2017) zu Recht als die relevanteste und beunruhigendste im Kontext des neuen Antiziganismus hervorgehoben haben: den „Institutional Anti-Gypsyism“. Dieser ist nicht nur in den von der Bundesregierung „zu sicheren Herkunftsstaaten“ erklärten Westbalkanstaaten an der Tagesordnung, sondern auch in Deutschland, wofür die Anti-Roma-Gesetze von 2014 und 2015 ja ein deutlicher Beleg sind. Die Proteste von Romano Jekipe Ano in Hamburg, die im letzten Fallbeispiel der Studie dargestellt werden, zielten genau auf diesen menschenrechtlichen Skandal.

Fazit

Die Studie zeigt, wie der dominanzkulturelle „Roma“-Diskurs lokale Konflikte um Migration aus Südosteuropa bis in die Praktiken der kommunalen Verwaltung, der Justiz, der Polizei und der Sozialen Arbeit hinein prägt. Zu untersuchen, wie diese Praktiken funktionieren und welche ausgrenzenden Effekte sie haben, stellt zweifellos eine der wichtigsten Aufgaben dar, vor denen die noch recht junge Antiziganismusforschung in Deutschland aktuell steht.

Literatur

Sergio Carrera, Julius Rostas, Lina Vosyliute: Combating Institutional Anti-Gypsyism. Responses and promising practices in the EU and selected Member States, in: CEPS Research Report, Nr. 2017/08, 2017.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Zitiervorschlag
Wolfram Stender. Rezension vom 19.12.2019 zu: Lars Geiges, Tobias Neef, Julia Kopp, Robert Mueller-Stahl: Lokale Konflikte um Zuwanderung aus Südosteuropa. "Roma" zwischen Anerkennung und Ausgrenzung. transcript (Bielefeld) 2017. ISBN 978-3-8376-3884-4. Reihe: Göttinger Institut für Demokratieforschung: Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen - Band 13. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26105.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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