Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Patrice C. McMahon: Das NGO-Spiel

Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 02.07.2020

Cover Patrice C. McMahon: Das NGO-Spiel ISBN 978-3-86854-331-5

Patrice C. McMahon: Das NGO-Spiel. Zur ambivalenten Rolle von Hilfsorganisationen in Postkonfliktländern. Hamburger Edition (Hamburg) 2019. 308 Seiten. ISBN 978-3-86854-331-5. D: 35,00 EUR, A: 35,90 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Nichtregierungsorganisationen genießen einen guten Ruf. Sie stehen dafür, Konflikte mit zivilen Mitteln zu lösen, die Stimme der Gesellschaft zu Gehör zu bringen und die Politik der Regierungen kritisch zu hinterfragen. Bei Lichte betrachtet, können Nichtregierungsorganisationen ein gewaltiger Machtfaktor sein. Bei alldem arbeiten Nichtregierungsorganisationen gar nicht so uneigennützig, wie sie gern vorgeben; sie verfolgen eigene Interessen und versuchen, für ihre eigenen Ziele mitunter keineswegs unbeträchtliche Ressourcen an Land zu ziehen. Die politische Kontrolle wird ihrem nicht geringen Einfluss oftmals keinesfalls gerecht: Grund genug, einmal etwas genauer hinzuschauen, wie Patrice C. McMahon es tut. Die Politikwissenschaftlerin will aufdecken, nach welchen durchaus problematischen Spielregeln Nichtregierungsorganisationen die Entwicklung in einzelnen Ländern mit gewaltsamer Konfliktgeschichte beeinflussen. Als Beispiele dienen ihr dabei die Transformationsprozesse im ehemaligen Jugoslawien.

Verfasserin

Die Verfasserin lehrt Politische Wissenschaften an der University of Nebrasca-Lincoln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind humanitäre Angelegenheiten, internationale Friedensbildung, Nichtregierungsorganisationen und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika.

Kontext

Wie die Autorin in ihrer Danksagung am Ende des Bandes ausführt, kam ihr die Idee zu diesem Buch Ende 2000, als sie zum ersten Mal nach Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen Bosnien besuchte. Wie die Autorin auflistet, hat sie anschließend immer wieder das Balkanland besucht, jeweils unterstützt durch verschiedene Forschungsstipendien, u.a. im Rahmen des National Research Concil Young Investigator Program, von Seiten des National Council for Eurasian and European Research, vom Amt für Geheimdienstinformation und Forschung des US-Außenministeriums oder vom American Council for Learned Societies.

Die von Ursel Schäfer besorgte deutsche Übersetzung aus dem Englischen erscheint im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

Aufbau

Der Band setzt zunächst mit einer längeren Einführung in Chancen und Probleme bei der Friedenskonsolidierung in Postkonfliktstaaten ein.

Im Rahmen ihrer Einführung erläutert die Verfasserin auch den Ursprung des Buchtitels: Der Begriff „NGO-Spiel“ (S. 28 – 34) entstammt ursprünglich der Begegnung mit dem Direktor einer Nichtregierungsorganisation im bosnischen Sarajevo. Dieser berichtete der Verfasserin von einer Führungskräftekonferenz auf Nichtregierungsebene, bei der es um die Arbeit in Postkonflikt- und Transformationsländern gegangen sei. Man habe sich über entsprechende Erfahrungen und bewährte Praktiken ausgetauscht: „Alle hätten über das NGO-Spiel und seine Auswirkungen Bescheid gewusst und sogar Witze darüber gemacht. Es gebe verschiedene Varianten, aber immer gehöre dazu, dass in einem von einem Konflikt zerrissenen oder im Umbruch befindlichen Land Menschen aus dem Westen auftauchen mit viel Geld und tonnenweise guten Absichten“ (S. 28 f.). Zu den problematischen Spielbedingungen gehöre allerdings, dass die wenigsten der beteiligten Akteure tatsächlich Kenntnisse über das betreffende Land und die Entstehung seiner Probleme mitbringen.

Es folgen fünf Kapitel:

  • Unsichere Zeiten: Zunächst wird die Ausgangslage gewaltsamer Konflikte und die neuen Formen des Krieges in den Blick genommen.
  • Von Macht und Versprechungen: Schließlich geht es um Anspruch und Realität der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen im Kontext solcher Auseinandersetzungen.
  • Bosnien – Viel Lärm um NGOs sowie Kosovo – Kopieren, einfügen und löschen: Danach folgen zwei exemplarische Länderstudien, am Beispiel Bosniens und des Kosovo.
  • Schluss – Das Ende des Goldenen Zeitalters: In einem wiederum längeren Schlusskapitel zieht die Verfasserin Folgerungen für die Friedenskonsolidierung in Postkonfliktländern und die zukünftige Rolle, welche Nichtregierungsorganisationen dabei spielen sollten.

Eine Bibliographie und Danksagung beschließen den Band.

Inhalt

Unsichere Zeiten

Das besondere Interesse an Nichtregierungsorganisationen setzte nach Ende des Kalten Krieges ein. Der Zivilgesellschaft wurde ein nicht unbeträchtlicher Einfluss auf die Transformationsprozesse in den Reformstaaten Ost-, Mittel- und Südosteuropas zugeschrieben. Mit dem Aufkommen neuer ethnischer Konflikte nach Ende des Blockgegensatzes richteten sich die Hoffnungen im Westen und in den internationalen Organisationen darauf, dass die Nichtregierungsorganisationen eine wesentliche Rolle bei der Friedenskonsolidierung spielen würden. In Postkonfliktländern wurden die Nichtregierungsorganisationen zu bevorzugten Ansprechpartnern, weil man ihnen eine besondere Nähe zu den Menschen vor Ort zutraute. Die gestiegenen Erwartungen führten dazu, dass ihre Zahl deutlich zunahm.

Die Forschung über die tatsächliche Wirkung sei hinter dieser Entwicklung zurückgeblieben, stellt die Verfasserin fest. Hier setzt der vorliegende Band programmatisch an und will folgender Frage nachgehen: „In unsicheren Zeiten weiß man wenig, fürchtet aber viel. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es viele Vermutungen über und Versprechen von NGOs hinsichtlich ihrer Aktivitäten und Wirkung. Doch was hat sich, von neuen Erwartungen und Wunschdenken abgesehen, wirklich durch die Einbeziehung der NGOs in die liberale Friedenskonsolidierung verändert?“ (S. 95).

Von Macht und Versprechungen

Der erste Antwortversuch im Folgekapitel führt nach Mostar im Süden Bosniens, einer Stadt mit traditionell großer ethnischer Vielfalt. Die Verfasserin zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten auf, die Zahl, die finanziellen Mittel und den Einfluss von Nichtregierungsorganisationen zu erfassen. Diese handelten keineswegs uneigennützig: „Problematisch […] ist, dass diese Organisationen trotz ihres bekundeten Interesses, Partnerschaften vor Ort aufzubauen, die Ressourcen und die Agenda kontrollieren und nur solche Veränderungen und Akteur_innen akzeptieren, die ihre zentrale Position stärken und ihren Interessen nützen“ (S. 111). In jedem Fall besäßen diese eine wesentliche wirtschaftliche Macht, die deutlich über die zwischenstaatlicher Organisationen hinausgehe.

Alles in allem beurteilt die Verfasserin die Ergebnisse der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, die nach dem Jugoslawienkrieg in Mostar engagiert waren, äußerst negativ. Die meisten von ihnen seien mittlerweile weitergezogen und hätten „Unmut und Desillusionierung“ (S. 144) hinterlassen. Das zentrale Problem sei, dass es kaum einen Austausch mit lokalen Gruppen gegeben habe; das Wissen über das Land und die besondere Situation vor Ort sei äußerst gering gewesen. Mostar sei bis heute eine zwischen Kroaten und Muslimen faktisch geteilte Stadt: eine „enttäuschende, dysfunktionale Situation“ (S. 144), die für Bosnien keineswegs singulär sei.

Bosnien – Viel Lärm um NGOs

Bosnien ist für die Verfasserin ein Beispiel, welche Hoffnungen die internationale Gemeinschaft in die Zivilgesellschaft gesetzt habe. Diese Versprechen seien auch eine bestimmte Zeit aufgegangen. Viele Projekte hätten aber nur bestimmten Einzelpersonen oder Gruppen geholfen, seien nach Auslaufen der Gelder ziemlich schnell wieder eingeschlafen, seien nicht auf Langfristigkeit angelegt gewesen oder hätten auf die Menschen vor Ort bevormundend gewirkt – das Urteil fällt reichlich desillusioniert aus: „Die hektischen Aktivitäten und Versprechungen mit hochgespannten Erwartungen und die Jagd nach Geld haben jedoch etwas hinterlassen: isoliert agierende Gruppen und Misstrauen“ (S. 179). Für die weitere Demokratisierung besonders problematisch seien die gesellschaftliche Apathie und die fehlende Verbindung vieler Bürger zu politischen Prozessen.

Am Ende bleibt für die Verfasserin die Erkenntnis, dass es nicht gelungen sei, die unterschiedlichen Vorstellungen der internationalen und lokalen Akteure miteinander zu vermitteln. Erst spät habe man begonnen, hier korrigierend einzugreifen. So bindet die Europäische Union erst seit 2005 finanzielle Hilfen für Nichtregierungsorganisationen an die Bedingung, dass diese mit der Regierung vor Ort zusammenarbeiteten. Was bleibt? „In Bosnien ist das NGO-Spiel weitgehend vorbei, aber leider ist kein klarer Sieger auszumachen.“ Eben: Viel Lärm um nichts.

Kosovo – Kopieren, einfügen und löschen

Das nächste Beispiel beschäftigt sich mit dem Kosovo, dessen Unabhängigkeit bis heute immer noch reichlich prekär geblieben ist. Im Falle des Kosovo wollte die internationale Gemeinschaft durchaus ähnliche Fehler wie in Bosnien vermeiden, etwa durch eine klare Führungsstruktur und gemeinsame Prioritäten für die Friedenskonsolidierung. Nach Ansicht der Autorin gelang es aber auch in diesem Fall nur bedingt, eine klare, transparente und abgestimmte Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Stellen herzustellen.

Mitunter sei der internationale Einfluss sogar kontraproduktiv gewesen: „Der Zustrom finanziell gut ausgestatteter und gut vernetzter internationaler NGOs brachte beinahe sofort das lokale Umfeld durcheinander und veränderte die Anreize, sich gesellschaftlich zu organisieren. Zur Frustration trug auch bei, dass internationale Gruppen bestehende kosovarische Gruppen für ungeeignet und unfähig hielten“ (S. 221). Ferner sei die Bereitschaft lokaler Akteure erlahmt, angesichts der übermächtigen internationalen Akteure eigene soziale Projekte zu verfolgen und durchzusetzen. Das Ergebnis der Verfasserin fällt entsprechend deutlich aus, wenn sie die Entwicklung im Kosovo auf folgende Formel bringt: „Von Friedenskonsolidierung zu wohlwollender Kolonialherrschaft“ (S. 228) – für die Stärkung eigener tragfähiger, gesellschaftlicher Strukturen spricht das nicht.

Schluss – Das Ende des Goldenen Zeitalters

Am Ende ihres Bandes verfolgt die Verfasserin zwei Ziele: Zum einen will sie die Zukunft der internationalen Friedenskonsolidierung evaluieren, zum anderen bietet sie eine Zusammenfassung der dargestellten Zyklen in der Arbeit internationaler Nichtregierungsorganisationen in Postkonfliktländern. Dabei geht sie über die Erfahrungen auf dem Balkan hinaus und bezieht auch weitere Beispiele, etwa Afghanistan oder Libyen, mit ein.

Patrice C. McMahon bleibt vorsichtig optimistisch. Die Hilfe über Nichtregierungsorganisationen sei in den meisten Fällen doch der bessere Weg, als direkt mit autoritären Regimes vor Ort zu kooperieren – und mitunter auch eine der wenigen Möglichkeiten, die westliche Staaten oder internationale Organisationen überhaupt hätten, um den Menschen vor Ort zu helfen.

Doch alles in allem neigt sich das Goldene Zeitalter der Nichtregierungsorganisation für die Verfasserin dem Ende entgegen; die Skepsis ihnen gegenüber wachse. Von Jahr zu Jahr würden international weniger von ihnen registriert. Im Grunde, so die Verfasserin am Ende selbst, sei das Fazit ihrer Studie keine neue Erkenntnis: Nichtregierungsorganisationen seien nicht von vornherein gut, auch sie unterliegen der Versuchung, Geld und Macht zu missbrauchen – mit teilweise fatalen Folgen. Wichtig sei es daher, dass die verbliebenen Nichtregierungsorganisation sich künftig stärker darum bemühten, Rechenschaft über ihre Arbeit abzulegen.

Diskussion

Die Verfasserin entzaubert in vielem den Nimbus, der Nichtregierungsorganisationen in zahlreichen sozialwissenschaftlichen oder menschenrechtlichen Beiträgen umgibt. Die Zivilgesellschaft steht nicht außerhalb der politischen Mechanismen. Nichtregierungsorganisationen können ein Widerlager zu staatlichen Stellen bilden – und haben hier auch ihre wichtige Funktion im Rahmen einer pluralen, demokratischen Gesellschaft. Aber sie haben selbst eben auch Teil am Kampf um Macht, Einfluss und Ressourcen. Die Begriffe, die McMahon verwendet, um das „NGO-Spiel“ zu beschreiben, sind griffig und eindeutig. Da ist von „Kartellbildung“, „humanitärem Zirkus“ oder „Wunschdenken“ die Rede.

Bei alldem bleibt die Verfasserin aber realistisch: Viele Erwartungen, die nach Ende des Blockgegensatzes in die Nichtregierungsorganisationen gesetzt wurden, seien enttäuscht worden. Dennoch: Als ein Akteur unter anderen werden sie in einer unvollkommenen Welt mit beträchtlichen Unsicherheiten und komplexen Konfliktlagen weiterhin gebraucht werden, etwa als Gegengewicht zu autoritären Regimes, denen man internationale Hilfsgelder nicht ohne Weiteres anvertrauen könne.

Der Einfluss internationaler Nichtregierungsorganisationen ist durchaus beträchtlich. Denn als politisch nicht oder wenig kontrolliertes Widerlager übt die Zivilgesellschaft gleichfalls Macht aus. Dieser Machtcharakter darf nicht verschleiert werden: Vielfach steht auf der einen Seite die Meinungsmacht, die symbolisch und semantisch Druck ausübt, Stimmungen erzeugt und Kontrolle verlangt, der aber kaum widersprochen werden kann. Und auf der anderen Seite steht die gesellschaftliche Lebenspraxis, die in der nach außen inszenierten Debatte nicht selten wenig gilt.

Und so ist der Einfluss von Nichtregierungsorganisationen nicht immer unmittelbar in finanziellen Mitteln auszudrücken. Nicht zu unterschätzen, ist eben auch die Deutungshoheit, die sie ausüben können, etwa im Rahmen im Rahmen internationaler Monitoringsysteme und bei der Weiterentwicklung von sogenanntem „soft law“. Auch hier wäre deutlich mehr Transparanz als bisher einzuklagen – so wie es die Verfasserin am Beispiel der Friedenskonsolidierung in Postkonflikt- und Transformationsländern tut.

Am Ende wird die Verfasserin dann selbst zur Lobbyistin in eigener Sache, wenn sie weiteren Forschungsbedarf geltend macht und damit Ressourcen für weitere Studien einfordert.

Fazit

Ein ungeschminkter und zugleich realitätsnaher Blick hinter die Kulissen der Zivilgesellschaft. Ein Ruf nach mehr Transparenz bei den weichen Steuerungsmechanismen der so gern gerühmten Weltgesellschaft. Und dies flüssig geschrieben und gut lesbar.

Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Website
Mailformular

Es gibt 70 Rezensionen von Axel Bernd Kunze.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 02.07.2020 zu: Patrice C. McMahon: Das NGO-Spiel. Zur ambivalenten Rolle von Hilfsorganisationen in Postkonfliktländern. Hamburger Edition (Hamburg) 2019. ISBN 978-3-86854-331-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26108.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht