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Thomas Wittinger (Hrsg.): Handbuch Soziodrama. Die ganze Welt auf der Bühne

Rezensiert von Dr. Birgit Szczyrba, 24.01.2006

Cover Thomas Wittinger (Hrsg.): Handbuch Soziodrama. Die ganze Welt auf der Bühne ISBN 978-3-8100-4091-6

Thomas Wittinger (Hrsg.): Handbuch Soziodrama. Die ganze Welt auf der Bühne. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2005. 200 Seiten. ISBN 978-3-8100-4091-6. 44,90 EUR. CH: 40,10 sFr.

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Einführung

Mit dem "Handbuch Soziodrama" wird eine Säule des psychodramatischen Gesamtwerkes Morenos vorgestellt, in seiner Anwendungspraxis beschrieben und in Teilen mit theoretischen Bezügen zur Soziologie und Psychologie diskutiert. "Gegen die egozentrische Individualisierung unserer Gesellschaft" stellt das Soziodrama den Menschen eingebunden in soziokulturelle und politische Netze und Geschehnisse in den Mittelpunkt. Damit rücken gesellschaftliche Gruppen in den Fokus der soziodramatischen Arbeit. Durch ausgefeilte Techniken und Arrangements werden soziale Erfahrungen und Handlungsalternativen sichtbar und gestaltbar macht.

Das Buch wird vorgestellt als "erste anwendungsorientierte Grundlegung" des Soziodramas mit Konzentration auf den deutschen soziokulturellen Raum. Dabei lassen sich die "Soziodramakonzepte", wie der erste Teil des Buches lautet, auf zwei verschiedene Ansätze bzw. Betrachtungen des Soziodramas zurückführen, die von Soziodramatikern noch nicht ausreichend elaboriert wurden: Während ein Ansatz das Soziodrama als eigenständiges, von den anderen Säulen des Psychodrama-Werkes (der Soziometrie und dem Protagonistenspiel) unabhängiges Verfahren betrachtet, das sich der Gruppe-als-Ganzer widmet und keine Protagonistenzentrierung vorsieht, gibt es Auffassungen, die immer dann soziodramatische Arbeit sehen, wenn die soziodramatische Rollenebene (soziale Rechte und Pflichten, Kultur, Politik u.a.) einbezogen wird.

Das Buch verspricht einen unkomplizierten Transfer in die Praxis von Sozial- und Bildungsberater/innen in Supervision, Mediation, in das Studium der Sozialpädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpsychologie, außerdem in die Arbeit des Projektmanagements und der Teamentwicklung.

Der Herausgeber

Thomas Wittinger ist evangelischer Pfarrer, Religionslehrer und Psychodramaleiter (DFP/DAGG). Mit dem Herausgeberband "Psychodrama in der Bildungsarbeit" (vgl. die Rezension) hat er bereits im Jahr 2000 ein Buch für PsychodramatikerInnen vorgelegt, die auf der Suche nach theoretisch unterlegten Praxisbeispielen aus der Bildungsarbeit waren und sind.

Aufbau und Inhalte

Im Editorial schlägt der Herausgeber die Brücke zur "therapeutischen Weltordnung" Morenos, die Utopie, die ihn bei der Entwicklung seines Gesamtwerkes geleitet hat. Morenos Kritik galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts der "ICH-Seuche", die sich durch Gewinnsucht, Prahlerei, Menschenmord und andere "Plagen" zeigte und die bis heute ihren Einfluss und ihre Macht über die Menschen nicht verloren hat. Pathetisch und altmodisch klingend, so räumt Wittinger ein, haben diese Plagen nicht an Aktualität eingebüßt: Egozentrische Ignoranz wird mit Freiheit verwechselt und hat sich zur typischen Lebenseinstellung der westlichen Welt gemausert. Trotz der Kenntnis der kollektiven Probleme der Erde wird gemeinhin die Mitverantwortung des eigenen Handelns mit ihren ökologischen und sozialen Konsequenzen abgestritten.

Hier greift Morenos Sicht des Individuums, das im Gruppenarrangement Soziodrama allerdings nicht unwichtig wird: Die Beschäftigung mit dem ICH führt bei Moreno unweigerlich in die Beziehungen, die der Mensch in seiner allernächsten und weiteren bis hin zur indirekten, über viele andere Individuen reichenden, Umgebung pflegt. Die so entstehenden soziokulturellen Netzwerke werden über Kriterien der Wahl und Abwahl bzw. Anziehung und Abstoßung unter den Individuen bestimmt. Sie funktionieren über die Kombination von individuellen und kollektiven, also kulturell vorgegebenen, und verkörperten Rollen. So erklärt sich auch im Morenoschen Sinne die Erhaltung von kulturellen Errungenschaften oder auch von Missständen: Ohne in direktem Wirken auf Prozesse, Ereignisse oder Verhältnisse beteiligt zu sein, ist die Kollektivität sozialer, kultureller oder politischer Vorgänge über viele miteinander im Netzwerk verbundener Individuen zu sehen. Wird das ICH unter der Marke "Stärkung der Eigenverantwortung" den Risiken der Individualisierung im globalen Maßstab ausgesetzt, bedeutet das eine Gefahr für bewährte Netzwerke im Kleinen wie z.B. Familien, für ein friedliches Zusammenleben u.v.m.

Im Teil Soziodramakonzepte wird in neun Beiträgen die Anwendung des Soziodramas mit Praxisbeispielen erläutert. Hier finden sich Beschreibungen über:

  • Großgruppenarbeit mit der Aufarbeitung geschichtlicher Themen, z.B. die Eltern als Nazis (Dudler/Bosselmann)
  • Supervision für Führungskräfte (Weiß) und Lehrer/innen (Krahl)
  • Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Kuchenbecker/Engelbertz)
  • gewerkschaftliche Bildungsarbeit (Jancovius)
  • interkulturelle Arbeit (Groterath)
  • Arbeit zur Veränderung in Organisationen (Wagenhals)
  • Therapie in einer Suchtklinik (Voigt)
  • musikalische Gruppenarbeit (Geisler/Geisler)

Im Teil Theoriebausteine widmen sich drei Beiträge der theoretischen Einordnung und Diskussion des Soziodramas. Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Soziodramakonzepte werden in politische Kontexte und in das Gesamtwerk Morenos gefügt (Geisler). Soziodrama wird als Großgruppenverfahren konkretisiert und als wirksam für politische Veränderungsprozesse beschrieben (Kellermann). Besonderheiten des Soziodramas, insbesondere seines Auftrages, der Themen, für die es sich eignet und anbietet und des Verständnisses, das die soziodramatische Arbeit leitet, werden thematisiert (Wiener). Aufgaben der Leitung werden gründlich expliziert.

Fazit

Das "Handbuch Soziodrama" leistet eine wichtige Positionierung des Soziodramas, das bisher noch eine Nebenrolle neben der "großen Schwester" Psychodrama spielt. Bei aller Fürsorge für das Individuum, das in fast allen Verfahren der Bildungs- und Beratungsarbeit eine wesentliche Rolle spielt, sieht das Soziodrama immer auch oder explizit den gesellschaftlichen Kontext individueller oder gruppenbezogener Konflikte und Probleme.

Betrachtet man die Auswüchse der Individualisierung der Gesellschaft, so scheint ein Verfahren wertvoll, dem die Sicht auf Gruppenkontexte, Gemeinschaftsarten, Gesellschaftskonzepte und darin enthaltene Macht, Politik und Kämpfe zwischen Indivuduum und Gesellschaft immanent ist. Werden in den gängigen beraterischen und therapeutischen Angeboten die individuellen Dispositionen des Menschen in den Mittelpunkt gestellt, und entwickeln diverse Professionsgruppen beraterische Praxeologien zur Förderung und Heilung des Individuums im Einzel- oder Gruppensetting, so ist das Soziodrama eines der wenigen Verfahren, das die Ebene des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Konsens konzeptionell und praxeologisch stets mit einbezieht.

Rezension von
Dr. Birgit Szczyrba
Sozial-und Erziehungswissenschaftlerin, Psychodrama-Leiterin (DFP/DAGG), Leiterin der Hochschuldidaktik in der Qualitätsoffensive Exzellente Lehre der Technische Hochschule Köln, Sprecherin des Netzwerks Wissenschaftscoaching
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Es gibt 24 Rezensionen von Birgit Szczyrba.

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Kommentare

Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wird in der Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie (ISSN 1619-5507, herausgegeben von Ulrike Fangauf und Franz Stimmer, Verlag für Sozialwissenschaften), Heft 1/2006, als Printversion veröffentlicht.


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ISSN 2190-9245