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Erwin Böhm: Psychobiographisches Pflegemodell

Rezensiert von Gisela Stoll, 25.10.2005

Cover Erwin Böhm: Psychobiographisches Pflegemodell ISBN 978-3-85175-733-0

Erwin Böhm: Psychobiographisches Pflegemodell. Maudrich Verlag (Wien, München, Bern) 2004. 3. Auflage. ISBN 978-3-85175-733-0. 57,40 EUR.
Band 1 Grundlagen (289 Seiten). Band 2 Arbeitsbuch (331 Seiten).

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Autor

Professor Erwin Böhm, geb. 1940, machte 1963 sein Krankenpflegeexamen und danach eine Reihe von Zusatzausbildungen. Heute ist er Präsident des AGPK (Angewandte geriatrische und psychiatrische Krankenpflege und Pflegeforschung, in der die komplette Ausbildung zum Praxisanleiter für Pflegediagnose und Übergangspflege absolviert werden kann). Er selbst ist Praxisanleiter für psychogeriatrische Pflege, Präsident des ENPP (Europäisches Netzwerk für Psychobiographische Pflegeforschung) und Autor zahlreicher Fachbücher. Er gilt als einer der bedeutendsten österreichischen Pflegeforscher, ist Träger mehrerer Auszeichnungen und wurde aufgrund seiner hervorragenden Leistungen in der Krankenpflege zum Professor ernannt.

Konzept

Böhm selbst betont, dass er sich mit seinem Psychobiographischen Pflegemodell der Sache nur versuchsweise annähern wollte. Er sieht diese Arbeit nicht als Modell im eigentlichen Sinne; denn Modelle scheinen ihm im Allgemeinen als sehr statisch. Deshalb würde er viel lieber von einer "dynamischen Systemtheorie" sprechen. Es ist ihm wichtig, dass jeder, der mit seinem Konzept sinnvoll arbeiten will, sich gezwungen sieht, seine eigene Position zu reflektieren und sie infrage zu stellen. "Warum pflege (gerade) ich und zwar so, wie ich pflege?" Böhm würde sein Modell am ehesten in das aus Holland stammende "Mäeutische Pflegekonzept" einreihen. Darunter versteht man eine Art "erlebnisorientierte Pflege". In den letzten Jahren wird dieses Konzept auch mit anderen Methoden wie Validation, Snoezelen und dem ROT (Realitätsorientierungstraining) in Verbindung gebracht.

Böhm zitiert zwar eifrig aus den verschiedenen Sparten der Humanwissenschaften; seine Erkenntnisse stammen aber aus der eigenen jahrzehntelangen Pflege- und Forschungspraxis. Altenpflege nach Böhm ist ein dynamischer, kreativer und höchst anspruchsvoller Prozess, in dem es gilt, die für die alten Menschen bedeutsamen, individuellen Gefühle und Geschichten zu erkunden. "Bevor der Körper mobilisiert wird, muss erst die Seele bewegt werden!" Böhm kritisiert an der klassischen Altenpflege, dass sie sich zwischen medizinischer Orientierung und "Warm-Satt-Sauber-Pflege" bewegt. Dieser Status des ausführenden "Arztgehilfen" und das oft mangelhafte Fachwissen sind mitverantwortlich dafür, dass bei alten Menschen häufig Hilflosigkeit und Abhängigkeit vom Helfer eher gestärkt statt abgebaut werden. Böhm möchte von der "verwahrenden" hin zu einer verstehenden, einfühlsamen und reaktivierenden Seelenpflege kommen. Dabei wird der Altenpfleger zum hellhörigen Beobachter, der den alten Menschen dort "abholt", wo er gerade steht, z.B. im Altgedächtnis. Böhm betrachtet deshalb Symptome der alten Menschen nicht aus der Sicht der Krankheitsbilder, sonder als Ausdruck biographischer Phänomene.

Nicht nur die individuelle Biographie, sondern auch das jeweils relevante regionale Brauchtum und die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die den alten Menschen vor Jahren geprägt haben, spielen dabei eine wichtige Rolle. Böhm spricht von der "gefühlten Biographie", das heißt, wie etwas erlebt wurde, ist von größerer Bedeutung für den alten Menschen als das Ereignis selbst oder das Datum.

Böhm konnte gewisse Gesetzmäßigkeiten nachweisen, z.B. dass psychische Probleme im Alter schon in der Kindheit geprägt werden - ein Leben lang latent vorhanden sind und im Alter durch entsprechende Auslöser als Regression wieder auftreten können. Dann treten Gefühle von früher wieder in Kraft, jetzt ungebremst. Wenn Pflegende die Biographie kennen, können sie in dem scheinbar absurden Verhalten des alten Menschen eher eine verborgene Logik entdecken und darauf eingehen.

Aufbau und Inhalt

  1. Band I bietet die Grundlagen. Böhm beschreibt sein Modell, sein Menschen- und Weltbild, die Theorieableitung, seine verwendeten Untersuchungsmethoden, Evaluierung und Begleitforschung. In den folgenden Kapiteln geht es um den Umgang mit Gefühlen, und wie diese mit Erinnerungen in Verbindung gebracht werden, z.B. mit Hilfe von Leitsätzen aus dem Volksmund und dem sog. "Daheim-Gefühl". Böhm beschreibt Alterstheorien, psychische Störungen und Demenz-Syndrome. Es folgen die Grundlagen des Modells - Konzept, Dokumentation und Planung, ein Abschnitt über Copings und die Umsetzung in die Praxis. Dabei unterscheidet Böhm 7 Erreichbarkeitsstufen, in denen ein Mensch sich befinden kann (in etwa zu vergleichen mit den Stadien der Demenz). Für die Begleitung eines Verhaltensauffälligen ist es nun sehr wichtig, die Stufen klar zuzuordnen, um den Menschen auch psychisch zu erreichen, um ihn besser zu verstehen, um Regression zu verhindern, um entsprechende Fördermaßnahmen in der Pflege und Betreuung anbieten zu können und um bei pathologischen Abbauprozessen wenigsten symptomlindernd pflegen und reaktivierend eingreifen zu können. Abschließend geht Böhm sehr ausführlich auf das Thema Pflegequalität ein und beschreibt anhand eines Stufenplans den oft schwierigen Weg der Pflegenden bei der Einführung seines Modells auf den Stationen.
  2. Band II gibt als Arbeitsbuch die Anleitung zur Umsetzung des Modells in die Praxis. Es befasst sich mit der Erhebung einer Psychobiographie auf der Emotionsebene, mit Interpretationsversuchen, mit Impulsen im Sinne von Interventionen, mit unterschiedlichen Pflegemethoden und dem Normalitätsprinzip. Böhm beschreibt, wie alte Menschen in den sieben Erreichbarkeitsstufen ihre Bedürfnisse zeigen und wie sie motiviert werden können, soviel wie möglich selbst zu ihrer Bedürfnisbefriedigung beizutragen.

Fazit

Böhms Modell entstand aus der Praxis heraus und ist nach meiner Erfahrung auch sehr gut in der Praxis anzuwenden, sofern die Pflegenden genügend fortgebildet und motiviert sind. Unklar bleibt, mit welcher Forschungsmethode Böhm seine Erkenntnisse gewonnen hat. Er selbst definiert Empirik im Glossar, Band I, folgendermaßen: "Methode, die neue Erkenntnisse und Gesetze aufgrund der praktischen Erfahrung schafft. Das Böhmsche Pflegemodell ist ein rein empirisches, das erst in seiner Spätform in wissenschaftliche Literatur subsumiert wurde." Wer die Zeit und Geduld hat, die insgesamt 623 Seiten durchzuarbeiten, wird eine Fülle von Theorie, von "praktischem Handwerkszeug" und Erkenntnissen gewinnen. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, dass viele Pflegende in der Praxis dankbar wären für eine verkürzte und vereinfachte Fassung.

Rezension von
Gisela Stoll
Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Validationsanwenderin (VTI)
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Es gibt 14 Rezensionen von Gisela Stoll.

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ISSN 2190-9245