Petra Böhnke, Jörg Dittmann u.a. (Hrsg.): Handbuch Armut
Rezensiert von Laura Sturzeis, 19.03.2020

Petra Böhnke, Jörg Dittmann, Jan Goebel (Hrsg.): Handbuch Armut. Ursachen, Trends, Maßnahmen.
UTB
(Stuttgart) 2018.
366 Seiten.
ISBN 978-3-8252-4957-1.
D: 29,99 EUR,
A: 30,90 EUR,
CH: 37,50 sFr.
Reihe: UTB - 4957.
Thema
Das Handbuch Armut widmet sich den Ursachen, Trends und Maßnahmen im Feld der Armut und bietet einen Überblick über den aktuellen Stand der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung. Der Fokus des Buches liegt auf der Auseinandersetzung mit Armut in Deutschland unter Verwendung aktueller Daten (überwiegend des SOEP, Sozio-oekonomisches Panel) und Erkenntnisse.
HerausgeberInnen
Petra Böhnke ist Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg und beschäftigt sich insbesondere mit Fragen des sozialen Wandels. Jörg Dittmann ist Professor am Institut für Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung an der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz (FHNW). Jan Goebel ist Mitarbeiter am DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) und Direktoriumsmitglied des SOEP (Sozio-oekonomisches Panel).
Aufbau
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die sich schwerpunktmäßig in mehreren Beiträgen mit den folgenden Fragen auseinandersetzen:
- (1) Wie sprechen wir über Armut?
- (2) Was wissen wir über Armut?
- (3) Wie bearbeiten wir Armut?
- Konzepte, Diskurse und Messung
- Problemfelder und Ursachen
- Ansatzpunkte der Armutsbekämpfung
Inhalt
Einleitend halten die Herausgeber und Herausgeberin fest, dass die Beschäftigung mit Armut immer eine „komplizierte“ Angelegenheit darstellt. Demgemäß soll das Handbuch eine Einordnungshilfe für aktuelle Themen der Armutsforschung bieten, daneben aber auch eine „Übersetzungshilfe in die Beratungspraxis“ darstellen (9).
Die ersten fünf Beiträge zum Themenblock (1) widmen sich Theorien und Konzepten zu Armut. Eva Barlösius beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den gesellschaftstheoretischen Grundlagen und Potenzialen soziologischer Armutsforschung (1.2). Dabei rekurriert sie auf Georg Simmel und seine Ausführungen zu „der Arme“ von 1908, in denen er zwischen Armut und arm sein differenziert. Armut stellt ihm zufolge eine gesellschaftliche Beziehung dar, die Arme durch ihren Unterstützungsbedarf durch die Gesellschaft zugleich in diese einbindet. Die soziale Hilfe gründet sich auf das Gebot, dass niemand aufgrund von Armut aus der Gesellschaft exkludiert wird („ökonomisches Apriori“, S. 37). Auf der anderen Seite bezeichnet ‚arm sein‘ die sozialstrukturelle Positionierung des Armen, die ihn relativ zu den Mitgliedern seines Milieus oder seiner Schicht ‚arm sein‘ lässt („soziales Apriori“, S. 39). Während Armut „sich auf die ‚Gesellschaftstotalität‘ [bezieht] (…)“, gibt „arm sein“ Auskunft über die Sozialstruktur und das soziale Gefüge einer Gesellschaft. In Kombination dieser beiden Perspektiven lässt sich Armutsforschung „zugleich als eine Form von Gesellschaftsanalyse“ betreiben, so die Autorin. Das oftmals Kontroverse an der Armutsforschung ist Barlösius zufolge dem Umstand geschuldet, dass diese nicht nur über Armut und arm sein Aussagen trifft, sondern über die Gesellschaft insgesamt (vgl. S. 41).
In einem weiteren Beitrag zum ersten Teil des Buches beschäftigen sich Marco Giesselmann und Leen Vandecasteele (1.5) mit Armut in der Lebensverlaufsperspektive. Anders als die weit verbreitete Querschnittsperspektive, wird im Längsschnitt ersichtlich, „dass das Armutsrisiko während des Lebensverlaufs oftmals starken Schwankungen ausgesetzt ist“ (69). Zentrale Fragen sind zum einen, wie es um die soziale Mobilität in die und aus der Armut bestellt ist und welche Lebensphasen und -ereignisse mit einem hohen Armutsrisiko einhergehen (vgl. S. 71). Hier weisen neueste Studien auf Basis von SOEP-Daten darauf hin, dass sich die Armut in gesellschaftlich benachteiligten Gruppen verfestigt. Während sich kurzzeitige Armutsepisoden auch in Mittelschichtsbiographien finden lassen, dort allerdings transitorisch auftreten, „breitet sich [stabile Armut] dagegen überwiegend innerhalb traditionell benachteiligter Klassen und Schichten aus“ (S. 73). Besonders kritische Lebensereignisse stellen Trennungen dar – „und zwar ausschließlich für Frauen“ (ebd.), da sie in Partnerschaften ökonomisch schlechter dastehen. Das größte Armutsrisiko geht allerdings von einer Arbeitslosigkeit aus, „das Ereignis, welches in Deutschland mit dem höchsten Anstieg des Armutsrisikos verbunden ist“ (S. 75). Hier hat sich die Situation in den vergangenen Jahrzehnten verschärft. Auch junge Erwachsene und Berufseinsteiger zählen zu den Risikogruppen; in dieser Lebensphase ist das Armutsgefährdung besonders hoch. Allerdings spielt hier die Armutsgefährdung des Elternhauses eine große Rolle dabei, ob die hohe Armutsgefährdung der jungen Erwachsenen einen transitorischen oder einen dauerhaften Zustand darstellt.
Der Thematik der Armut von Jugendlichen und jungen Erwachsene geht auch Olaf Groh-Samberg in seinem Betrag zum zweiten Teil des Buches, den Problemfeldern und Ursachen, nach (2.3). Er kommt zu dem Schluss, dass Armut „eine hohe >Trägheit< im Lebensverlauf [hat]. Wachsen Jugendliche bereits in armen Elternhäusern auf, so tragen sie ein hohes Risiko, auch im Alter von 20 Jahren von Armut betroffen zu sein“ (S. 127 f.). Selbst wenn sich der Zusammenhang in weiterer Folge abschwächt, so „hält sich diese starke Pfadabhängigkeit über den gesamten Lebensverlauf hinweg in bemerkenswerter Weise durch“ (128).
In einem weiteren interessanten Beitrag zu den Ursachen der Armut beleuchten Jan Goebel und Markus M. Grabka das Zusammenspiel von Armut, Einkommen und Vermögen (2.1). Auch diese Befunde bestärken die Einsicht, dass sich Armut zunehmend verfestigt. „[M]ehr als 10 % der Gesamtbevölkerung haben in den letzten 10 Jahren die überwiegende Zeit in Armut verbracht, und immerhin 35 % der Gesamtbevölkerung waren in einem Zehnjahreszeitraum mindestens ein Jahr von Armut bedroht“ (104). Im Hinblick auf Vermögen zeigt sich ebenfalls, dass „85 % der von Armut bedrohten auch so geringe Nettovermögen haben, dass diese als ‚vermögensarm‘ gelten“ (101). Wenn ärmere Personen – geringe – Geldbeträge sparen, so werden diese Reserven in der Regel durch die nächste Reparatur oder größere Anschaffung (wie z.B. Waschmaschine, etc.) zeitnah wieder aufgebraucht. Der enge Zusammenhang von Einkommen und Vermögen wird hier bestätigt. Insbesondere Vermögen sind etwas, das fast die Hälfte der Bevölkerung nicht aufweist, und insbesondere einkommensarme Personen in großer Mehrheit auch vermögensarm sind.
Im Rahmen ihres Beitrags beleuchten Annette Spellerberg und Christoph Giel auf Basis des SOEP die Wechselwirkungen von Armut und Wohnen in Deutschland (2.16). Durch steigende Mietpreise in Städten hat die „Wohnungsfrage“ in jüngerer Zeit wieder an Brisanz gewonnen. Denn gerade arme Personen leben überwiegend in Mietwohnungen (Anteil: 72 %) und die Höhe und der Anteil der Mietkosten bestimmt gerade bei ihnen stark, wie viel Einkommen zum Leben verbleibt (vgl. S. 272). „Die durchschnittlichen Wohnkosten betragen 27 % und bei armutsgefährdeten Haushalten 51 % des verfügbaren Einkommens“ (Daten für 2014, S. 272). Hier ist die soziale Wohnraumförderung gefragt, die neben der Senkung der Mietbelastung für arme Personen auch die Herstellung guter Wohnbedingungen im Blick haben muss. Ein anschließendes Kapitel setzt sich mit Armut und Wohnungslosigkeit (2.17) auseinander, auf das aber aufgrund gebotener Kürze hier nicht eingegangen werden kann.
Der dritte Teil des Herausgeberbandes ist den Maßnahmen auf sozial-, kommunalpolitischer, zivilgesellschaftlicher und individueller Ebene gewidmet. Mit Blick auf die Sozialpolitik, konstatiert Gerhard Bäcker (3.1.) als primäres Ziel der Sozialpolitik die Bekämpfung und Vermeidung von Armut. Um seine Ziele zu erfüllen, greift der Sozialstaat dabei auf Geldleistungen, Sach- und Dienstleistungen, sowie Arbeitsmarktinterventionen zurück. Trotz eines ausdifferenzierten Sozialstaatsinstrumentariums hat sich die Armutsrisikoquote in den vergangenen Jahrzehnten erhöht. Ein zu niedriges Grundsicherungsniveau und Leistungskürzungen beschneiden die Wirkung des Sozialstaates, die zwar gegeben ist, aber es nicht vermag, das „Armutsrisiko zu vermeiden“ (306). In Zusammenspiel mit steigender Ungleichheit ist dieser Befund besorgniserregend.
Heiner Brülle und Rabea Krätschmer-Hahn (3.2) betonen in ihrem Beitrag, dass gerade die Kommune als wichtigster Ort der Armutsbekämpfung gilt, da hier die „Gestaltungsmöglichkeiten“ gegeben sind für „zielgruppen- und sozialraumorientierts Handeln“, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass getrennte Zuständigkeiten und Logiken auf übergelagerten Ebenen (Institutionen, Rechtskreise) durchbrochen werden (317).
Ingo Bode (3.3.) arbeitet in seinem Beitrag zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Armutsbekämpfung heraus, dass zivilgesellschaftliche Initiativen meist in ihrem Radius und ihrer Wirkung als zu begrenzt, um durchschlagende oder bedeutsame Resultate zu erzielen. Mehr noch, zeigt sich der Autor skeptisch im Lichte der jüngeren Entwicklungen: „Zivilgesellschaftliche Praxis stabilisiert Armutslagen mit einem sich zuletzt zuspitzendem sozialen Bias zugunsten gebildeter Mittel- und Oberschichten, mitunter auch im Zuge einer sich mit neuen karitativen Projekten (Tafeln etc.) verfestigenden symbolischen Stigmatisierung“ (327).
Der abschließende Beitrag von Irene Becker (3.6) setzt sich mit der Frage auseinander, ob Armut als Verstoß gegen soziale Gerechtigkeit gilt. In ihrer Analyse orientiert sich die Autorin an der Gesetzesentwicklung als Resultat gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse (dezisionistische Perspektive) (vgl. S. 355 f.). Neben dem Sozialstaatsprinzip als Verfassungsgrundsatz als offensichtlichste Ausprägung der Norm sozialer Gerechtigkeit, offenbaren sich gesellschaftliche Vorstellungen zu „Chancen-, Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit als dominante Ausprägung sozialer Gerechtigkeit“ in gesellschaftspolitischen Debatten (356). Untereinander sind diese Zielsetzungen nicht ohne weiteres miteinander in Einklang zu bringen, sondern stehen in einem „teils komplementären, teils auch konkurrierenden – Beziehungsgefüge“ (360). Gerade die In-Bezug-Setzung von Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit „erfordert gesellschaftliche bzw. politische Kompromisse“, während die Beziehung von Chancen- und Leistungsgerechtigkeit eher komplementär erscheint, was auch auf die Beziehung von Chancen- und Bedarfsgerechtigkeit zutrifft (vgl. S. 361). Ob die Ziele miteinander kompatibel sind oder in Konflikt zueinander geraten, hängt von der spezifischen Konstellation des Ausgangsproblems ab. Aber „[l]etzlich sind alle Maßnahmen zur Beförderung sozialer Gerechtigkeit (…) zur Reduzierung von Armut geeignet. (…) Als hemmend für eine erfolgreiche Politik gegen Armut dürfte eine ‚gefühlte‘ Konkurrenz zwischen Teilzielen sozialer Gerechtigkeit, insbesondere zwischen Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit, wirken“ (363).
Fazit
Das Handbuch Armut bietet eine breite und übersichtlich arrangierte Darstellung des aktuellen Forschungsstandes sozialwissenschaftlicher Armutsforschung. Die Stärke liegt insbesondere im zweiten Teil zu den Problemfeldern und Ursachen von Armut. Dazu finden sich mit 17 Beiträgen die meisten der insgesamt 29 Beiträge des Sammelbandes, die darüber hinaus auch die interessantesten neuen Erkenntnisse vorstellen. Der erste Teil zu den Konzepten und Theorien der Armut, ebenso wie der dritte Teil zu den Maßnahmen zur Armutsprävention und -bekämpfung wirken hingegen weniger ‚rund‘ als vielmehr eklektisch in der Themenzusammenstellung und -ausrichtung. So hätte der erste Teil durch die Trennung von Konzepten und Theorie(n) gewonnen und auch der letzte Teil hätte intern noch stärker differenziert werden können nach unterschiedlicher Reichweite bzw. Skalierung der diskutierten Problemlagen. Nichtsdestotrotz ist das Buch einer breiten LeserInnenschaft anzuempfehlen, die sich durch Interesse an aktuellen Diskussionen im Feld der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung auszeichnen.
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
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Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 19.03.2020 zu:
Petra Böhnke, Jörg Dittmann, Jan Goebel (Hrsg.): Handbuch Armut. Ursachen, Trends, Maßnahmen. UTB
(Stuttgart) 2018.
ISBN 978-3-8252-4957-1.
Reihe: UTB - 4957.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26145.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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