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Detlef Garz, Klaus Kraimer et al. (Hrsg.): eIm Gespräch mit Ulrich Oevermann und Fritz Schütze

Rezensiert von Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt, 14.10.2020

Cover Detlef Garz, Klaus Kraimer et al. (Hrsg.): eIm Gespräch mit Ulrich Oevermann und Fritz Schütze ISBN 978-3-8474-0656-3

Detlef Garz, Klaus Kraimer, Gerhard Riemann (Hrsg.): Im Gespräch mit Ulrich Oevermann und Fritz Schütze. Einblicke in die biographischen Voraussetzungen, die Entstehungsgeschichte und die Gestalt rekonstruktiver Forschungsansätze. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 277 Seiten. ISBN 978-3-8474-0656-3. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR, CH: 54,60 sFr.
Reihe: Studien zur rekonstruktiven Sozialforschung - Band 3.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

Wenn »Gesellschaft als Text« definiert wird, wie ist der Text (die verschiedenen Textsorten) zu lesen und zu verstehen? Das ist hier das Thema. Das vorliegende Buch ist ein „Gespräch mit Ulrich Oevermann und Fritz Schütze“ und insofern eine durchaus besondere Einführung in die Forschungswelt rekonstruktiver Sozialforschung, basierend auf autobiographisch-narrativen Interviews mit beiden Protagonisten, eine Idee, zu der sich, wie es im Vorwort der Herausgeber Detlef Garz, Klaus Kraimer und Gerhard Riemann lautet, beide Protagonisten dieser Erzählung „anfangs eher verhalten“ (S. 7) aufstellten: Sie „fremdelten zunächst mit der Vorstellung, sich in dieser Form autobiographisch zu äußern.“ (S. 7)

Entstehungshintergrund

Das Buch basiert auf dieser Form der Interviews mit Ulrich Oevermann und Fritz Schütze, die jeweils an zwei Terminen (23. Juni und 17. September 2012) stattgefunden haben. Ort war das Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) in Delmenhorst. Der institutionelle Rahmen war die Study Group „Rekonstruktive Sozialforschung“ der HWK (vgl. S. 7). Schütze hat (; und es gibt auf der Verlagshomepage noch ergänzende Texte von Schütze) spätere Ergänzungen und Anmerkungen noch eingebaut (vgl. die redaktionspraktische Ausführungen auf S. 13 f.).

Aufbau

Nach einem Vorwort folgen die beiden Erzählungen von Oevermann und Schütze. Der Beitrag von Oevermann ist kürzer als der Teil von Schütze: Es ergab sich wohl ungeplant so. Auf mögliche innere Strukturen des Verlaufs der Erzählungen wird im Zuge der Wiedergabe und Diskussion eingegangen.

Inhalt

Die Eigenheit des Buches als Wiedergabe zweier Erzähltexte macht eine Trennung von Inhalt und Diskussion in reiner Form unmöglich. Daher erfordert diese Problematik, Inhaltsdarstellung und interpretative Diskussion passagenweise immer wieder auch zu integrieren. Formal halte ich die gliedernde Unterscheidung von Inhalt und Diskussion aber bei.

Beginnen werde ich bei der Erzählung von Oevermann, weil auch das Buch so gegliedert ist. Ganz lässt sich die Aufteilung in Oevermann-Teil und Schütze-Teil nicht durchhalten, geht es doch auch um Zusammenhänge, um Differenzen, Gemeinsamkeiten, Schnittstellen, Konvergenzen. Der Oevermann-Teil kann wiederum, ebenfalls nicht ganz trennscharf, in zwei Abschnitte unterteilt werden.

Erzählungen von Oevermann – Teil 1

Der erste Teil wird, auch schon mit Blick auf den Schütze-Teil, mit einigen produktiven Umwegen erschlossen. Ich nutze die Metapher der Odyssee als Suche: Ich suche Zugangsmöglichkeiten mittels „Arbeit am Mythos“ mit Bezügen zum Vorwort.

Vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte erzählen zwei Soziologen – Ulrich Oevermann (*1940) und Fritz Schütze (* 1944) – der qualitativen Sozialforschung ihre Forschungsbiographie als jeweils lange Suchprozesse. Und der Suchprozess wurde zu einem Findungsprozess. Damit – und die nachfolgenden Passagen legitimieren sich durch die Textstelle bei Oevermann zur Interpretation von Odysseus und den Sirenen und der »Dialektik der Aufklärung« (S. 76 ff.) – erinnert mich die außergewöhnliche Darstellung in einer doppelten Weise an die Liebe. Seit Platons Symposium versteht man die Situation des Menschen im Kosmos im Kern als ein dialektisches Drama, da es um das Problem des Getrenntseins geht. Subjekt und Objekt und auch Ego und Alter Ego sind getrennt, nicht eine Einheit: Liebe ist das Werden des Eins-Sein im Getrenntsein.

Oevermann selbst legitimiert diesen Zugriffspfad: Er diskutiert das Kunstwerk mit Blick auf diese metaphysische Problematik des »Nichtidentischen« (S. 78) und kann darlegen, dass er gelernt habe, die Ästhetische Theorie von Theodor W. Adorno (1903-1969) besser als früher zu verstehen (S. 78 f.).

Insofern ist die Odyssee (im Lichte psychoanalytischer Rezeption) als metaphorisches Epos eine Narration der Liebe als Telos des menschlichen Lebens als eine Reise, als eine Suche, zurück zu Penelope, der Liebe. Der Suchprozess bei Schütze und Oevermann, so wird erzählt, sei auch von Offenheit und von Mühsal geprägt gewesen. Die Wahlverwandtschaft der erzählten Forschungsbiographien zur Liebe passt auch noch in einem weiteren Sinne: Im Zuge der Einblicke in die biographischen Voraussetzungen und der Entstehungsgeschichte, so lautet es im Untertitel, wird „die Gestalt rekonstruktiver Forschungsansätze“ zum Ausdruck gebracht. Liebe ist ja jene Form, in der die Wahrheit des Daseins des Menschen Gestalt annimmt.

Der Gestaltbegriff ist hier theoretisch ernst zu nehmen. Bei Goethe ist Gestalt das Ergebnis von Metamorphosen, als Formbildung im Sinne einer Entelechie. In Bezug auf das vorliegende Buch lautet die Frage: Was hat hier wie Gestalt angenommen? Sollte damit (was auch im Vorwort angedeutet wird: S. 11) das vorliegende Buch sogar – quasi wie die Umwege, die Odysseus in seinen Irrfahrten durch das ionische und ägäische Meer nehmen musste – eine ganz andere Art von Einführung in die Forschungslogik der von beiden Forschern verkörperten qualitativen Sozialforschung sein? Oevermann und Schütze legen Erzählungen vor: Einführung in die Forschungslogik im Modus der Erzählung komplexer, vielschichtiger, verwickelter Geschichten über Geschichten: also eine auf das eigene „Selbst im Kontext“ bezogene Anwendung der Methodologie rekonstruktive Sozialforschung, ohne hier nähere Versuche zu Einordnungen von analytischen Erzählypen der Autobiographie von Wissenschaftler*innen (ich denke an Pierre Bourdieu, an Didier Eribon (*1953) oder Annie Ernaux (*1940), die sich als „Ethnologin ihrer selbst“ bezeichnet, zu versuchen.

Im Hintergrund meines Zugangs zu dieser Buchbesprechung, die mich viel tiefer einbezogen hat als es sonst bei meinen eher nur »sachbezogenen« Buchbesprechungen üblich ist, und die mir daher viel mehr Zeit der Reflexion abgefordert hat, wurde mir auch nochmals deutlich, dass es bei aller Differenz zwischen Wissenschaft und Kunst (vgl. dazu auch Oevermann: S. 94 f.) als Formen der Erkenntnis der Wirklichkeit (die Religion einmal ausklammernd) doch auch eine Schnittfläche gibt: Erkenntnis der Wirklichkeit wird immer erzählt, auch Wissenschaft (hier die Sozialwissenschaft) – selbst im Modus mathematischer Modelle und statistischer Zusammenhänge – erzählt (rekonstruktive) Geschichten über die Geschichten des Alltagsgeschehens der Menschen der sozialen Wirklichkeit im geschichtlichen Zeitstrom. Und hier nun liegt ein Buch vor, das Geschichten erzählt über diese rekonstruktive Logik der Geschichten über Geschichten. Das sollte faszinierend sein für Leserschaften, die auch daran interessiert sind, Wissenschaft als endogener Teil der Wirklichkeit, die von der Wissenschaft erforscht – ob nomologisch oder hermeneutisch, um an die Ursprungszeiten der Schismogenese von »Erklären versus Verstehen«, von Natur- versus Geisteswissenschaften anspielend zu erinnern – werden will, tiefer eintauchend zu verstehen. Hier ist die Anmerkung von Oevermann passend, wonach „auch für die Naturwissenschaften letztes Endes eine hermeneutische Methodologie grundlegend ist.“

Ganz offensichtlich war das jeweilige Forschungsleben beider Protagonisten dieser Gespräche und der daraus resultierenden Erzählungen ein Abenteuer, so wie einst Roland Barthes (1915-1980), sich als ein Selbst mit der Methode der Wirklichkeitserfassung mischend, auch von seinem Leben als »semiologisches Abenteuer« sprach. In diesen Erzählungen – generiert in einer Art von Oral History (S. 8) – wird deutlich, „‘wie alles miteinander zusammenhängt‘“ (S. 7): „Lebensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Universitätsgeschichte und Geschichte der Disziplin.“ (S. 8)

Hintergrund der Idee zu dieser Rekonstruktion rekonstruktiver Sozialforschung war die Frage nach Einheit und Differenz, Verbindendes und Trennendes zwischen verschiedenen Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung, hier der Objektiven Hermeneutik einerseits und der soziolinguistisch fundieren Prozessanalyse andererseits.

Im Vorwort (S. 10 f.) wird zu Recht auch angesprochen, man wolle an die Gestaltqualität dieser Variationen rekonstruktiver qualitativer Sozialforschung jenseits der Domänenabgrenzungsrituale der Selbstkonstitution durch Ab- und Ausgrenzung der anderen Strömungen, die das Feld der qualitativen Sozialforschungsrichtungen prägen und auf die vor allem Schütze auch eingeht (S. 167 f.; vor allem S. 176 f.), wenn er von „tiefe(n) Gräben“ spricht, herankommen. Man kann sich in der Tat fragen, ob die Liturgieordnungen der agonalen destruktiven Selbstbehauptungsbemühungen einzelner Strömungen in diesem unübersichtlichen Feld stärker ausgeprägt ist als der frühere Kampf zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung, so in der Zeit, als sich die qualitative Sozialforschung um aufnehmender Anerkennung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (vgl. ferner S. 175 ff.) bemühte. Es geht dem Buch in seiner Konzeption im Rahmen einer komplexen Motivstruktur also auch um ein Verstehen dieser rekonstruktiven Ansätze jenseits von Stereotypen der Strategien der Verstümmelung authentischer Gestalt.

Diese »Einführung auf anderer Weise« in die Theorie beider Formen der rekonstruktiven qualitativen Sozialforschung, jenseits einer Zusammenstellung anspruchsvoller Grundlagentexte beider Forscher (S. 11), erfolgt im Modus „sehr persönlicher Texte“ (S. 12): „Es kommen schmerzhafte Verlusterfahrungen und die Spuren des Zweiten Weltkrieges in Lebensgeschichten zur Sprache“ (S. 12). Ein letztes Anspielen auf Homer: Auch Odysseus‘ Reise begann nach dem Krieg um Troja; und er verlor alle seine Kameraden während seinen Irrfahrten.

Zugleich werden Bedingungen einer Kreativität erzählt: Oevermann‘s Präferenz für vogelkundliche Streifzüge in Kindheit und Jugend wie auch die „Bedeutung von frühen und langandauernden Krankheits- und Klinikerfahrungen für Fritz Schütze‘s Sinn für das Abgründige und die Störanfälligkeit menschlicher Kommunikation und für biographische Leidensprozesse.“ (S. 12)

So ist das Buch einfach gegliedert: Auf „Die Erzählung von Ulrich Oevermann“ (S. 15 ff.) folgt „Die Erzählung von Fritz Schütze“ (S. 101 ff.). Es sind die Fließtexte der jeweiligen Erzählungen, gegliedert (besser: strukturiert) nur nach den kursiv gesetzten Fragen der Interviewer*innen.

Dieser Teil ist wiederum tendenziell in zwei Teile zerlegbar: Im ersten Abschnitt (S. 15–44) legt er die Eckpunkte und Konturen seiner objektiven Hermeneutik im Rahmen seiner akademischen Entwicklungsphasen dar; im zweiten Abschnitt (S. 44 ff.) ist der autobiographische Teil dominant.

Oevermann wirkt oftmals (wie er selbst sieht: „apodiktisch“: S. 21; vgl. auch S. 91). Diese Haltung löst sich aber im Verlauf des Textes, so, als ob er anfangs manche Narbe, die man ihm zugeführt hatte, abarbeiten müsste: So die Frage, wie denn seine Arbeit überhaupt noch Wissenschaft (S. 18; wenn man keine Zahlen liefert: S. 43) sei oder auch mancher Angriff in der 1968er Umbruchphase, ob er denn links genug sei, oder auch der Spott Kritischer Theorie (S. 23).

Ich wende mich der Bemerkung von Oevermann über einen notwendigen methodologischen Minimalkern Émile Durkheim’s und einer entsprechenden Anti-Psychologie zu. Oevermann betont seins „Anti-Psychologie“(S. 15; ferner als Test-zentrierte [S. 29] „Betriebswirtschaftslehre der Seele“: S. 20). Man wird das schon wie in der klassischen Position der anti-psychologischen Konstitution der Soziologie als eigenständiger Disziplin bei Émile Durkheim (1858-1917) in dessen »Regeln der soziologischen Methode«, wonach das »Soziale durch das Soziale« zu erklären sei, verstehen müssen. Oevermann betont die wissenschaftslogische Notwendigkeit zumindest eines „latente(n) Durkheim-Minimalismus“ (S. 25)

In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung von Bourdieu prägnant im Text. Diese Bedeutung von Pierre Bourdieu (1930-2002) (vgl. S. 23) wird mehrfach betont. Oevermann bestätigte mir diesen engen Bezug in einem Gespräch in Köln, als er einen Gastvortrag auf Einladung meines Lehrstuhles hielt. Es ist signifikant, worauf ich gleich nochmals zurückkommen werde, dass er im Rahmen seines Vortrages exemplarisch einen religionsgeschichtlichen Text sequenzanalytisch erschloss. Es ist aber nicht zufällig, dass sich Oevermann mit religionsgeschichtlichem Material beschäftigte. Mit Blick auf die lange Vorgeschichte moderner Hermeneutik, also noch vor Friedrich Schleiermacher (1768-1934) und Wilhelm Dilthey (1833-1911) zurückgehend, liegen die Wurzeln natürlich in der Bibelexegese. Bis heute ist die Bibelforschung ein Feld des Fortschritts in der Modernisierung der Hermeneutik. Die modernen kulturwissenschaftlich orientierten und auch tiefenpsychologisch aufgeklärten Formen der Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments legen die Texte, philologisch abgesichert, im Kontext der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Archäologie, Ethnologie, der Linguistik etc. aus.

Oevermann verlor wohl später die Nähe zu Bourdieu, dessen erklärende Methode struktureller Kausalität ihm etwas „hilflos“ (S. 26) vorkam, weil Bourdieu ihm zu sehr intellektualistisch abstrahierte (S. 27). Hier fehlt mir doch die positivere Einschätzung der »Habitushermeneutik« von Bourdieu, die er als marxistischer Theoretiker der sozialen Relationen doch selbst als Synthese von Hermeneutik und Strukturalismus bezeichnete. Und dass die französische Szene offener für Oevermann war als die deutsche Kritische Theorie lag vielleicht daran, dass die in der Durkheim-Tradition stehende französische Soziologie immer eine Nähe zur Ethnologie hatte (wie u.a. bei Marcel Mauss [1872-1950] so auch bei Pierre Bourdieu, der im Prinzip eine Ethnologie der französischen Klassengesellschaft erarbeitete).

Oevermann betont, er hätte eventuell lieber den Begriff der strukturalen Hermeneutik zur Selbstdefinition genommen (S. 38), was er mir auch in Köln im Rahmen des genannten Gastvortrages erzählte, weil der Objektivitätsbegriff seiner Hermeneutik oftmals missverständlich rezipiert worden ist (S. 37). Er deutete damit die innere Beziehung zum Strukturalismus an; Claude Lévi-Strauss (1908-2009) wird von ihm auch einmal angeführt (S. 3).

Chomsky bekommt für das Denken von Oevermann eine Ankerfunktion. Die Theorie der generativen Grammatik bei Noam Chomsky (*1928) war seine „Erlösung“ (S. 28; vgl. auch S. 81). Gerade diese Passagen helfen, seine Hermeneutik zu entfalten. Dort, wo er über die Entdeckung der Unterscheidungen von Symptomtext, Spurentext und Fallstrukturhypothese erzählt (S. 19 f.), dort, wo er seine Verankerung in der Sprachtheorie (S. 21) betont, sofern man in der „Rekonstruktion der regelgenerierten objektiven Bedeutungsstrukturen“ (S. 22) sequenzanalytisch (S. 21, S. 25) in der „in situ-Forschung“ (u.a. S. 18) den Schritt von den „Verlaufsschemata“ zu den „Regeln“ (S. 21) gelingend vollzieht. Immer im Feld eng am „Sprachmaterial“ (S. 27) stehend, mit Blick für die Kreativität (S. 16) der Menschen in der Problembewältigung in Krisensituationen im „realen Prozess“ (S. 16): Das ist seine Methodologie. Die Betonung der Kreativität (auch der Kinder im Sozialisationsprozess) erinnert mich etwas an das »Magma« bei Cornelius Castoriadis (1922-1997). Bei aller Betonung der Sozialmilieu-Gebundenheit der Deutungsmuster und der Handlungsmuster (als „Habitusformationen“: S. 33) der Menschen betont Oevermann neben der Rolle der sozialen Herkunft (vgl. S. 25: dort mit Bezug auf die soziolinguistische 'Theorie schichtenspezifischer Codes bei Basil Bernstein [1924-2000]: vgl. auch S. 80) eben diese schöpferische Fähigkeit des Menschen. Soziologie muss „die Erzeugung des Neuen“ (S. 16) erklären können. Daher geht es Oevermann um die „Strategien“ der Menschen, die auf solchen Codes „unbewusst“ (25) basieren. Auf das Unbewusste ist gleich nochmals zurückzukommen.

Nun zur Sequenzanalyse. Oevermann kann (S. 39 ff.) am Beispiel von Jesus als charismatischer Wanderprediger einer intra-jüdischen Strömung im Kontext der Krise der römischen Antike – der Althistoriker E. R. Dodds (1893-1979) sprach bekanntlich von einem „Zeitalter der Angst“ – eine, wie ich es nennen möchte, kultursemiotisch verankerte Hermeneutik der Erzählungen des Neuen Testaments in gelungener Weise vorlegen, die mich vor dem Hintergrund von Rudolf Bultmann’s (1884-1976) Ent-Mythologisierungsprogramm der Exegese an neuere Forschungen erinnert, die als kulturanthropologisch fundierte Historische Psychologie der Jesus-Zeit zu klassifizieren wären. Bescheiden betont er, er sei ja kein Theologe. Aber seine Erfahrungen in Forschung und Lehre sprechen für ihn. Nicht eingegangen werden kann hier, was sich eigentlich zwingend aufdrängt, auf die neuere wissenschaftstheoretische Debatte um den Status der Geschichtswissenschaft als methodisch kontrollierte, aber dennoch eher narrative Wissenschaft bzw. als eher analytische Disziplin. Ohne auch hier auf konstruktivistische Theorien verschiedener Art eingehen zu wollen, so wird doch überaus bedeutsam, wie Oevermann über die Unabdingbarkeit einer rekonstruktiven Logik aller Wissenschaften nachdenkt: Es gibt Wissenschaft nur als »rekonstruktive Konstruktion von Wirklichkeit«.

Hier wird seine Krisenkontextualisierung seiner Subjektbewältigungsstrategien deutlich (S. 39), wenn er der Wissenssoziologie vorsichtig vorwirft, nie hinreichend zwischen Wissen und Erfahrung zu unterscheiden. Wissen bezieht sich auf Routinen; Krisen sind Kontexte der Erfahrung, in der es zu Neuem kommen kann. Man benötige einen „dramaturgischen Blick“ auf die Quellen (S. 34).

In der methodologischen Betonung der Nähe am Sprachmaterial kommt Oevermann sodann dazu, wichtige Kernbegriffe seiner Sequenzanalyse zu definieren (S. 36 ff.): Totalitätsprinzip, Protokollbegriff und der Status der erfahrungswissenschaftlichen Dokumente sowie die Offenheit für die Tiefe des Unbewussten jenseits der „Vulgärpsychoanalytiker“ (S. 38).

Knapp angesprochen wird das Verhältnis von Oevermann zur Tiefenhermeneutik. Oevermann betrachtet eine „Auseinandersetzung mit der sogenannten Tiefenhermeneutik“ (S. 35) differenziert. Er betont die Differenz, aber auch die Kooperationsfläche mit der Psychoanalyse. Das „szenische Verstehen“ begeistert Oevermann, doch sei dies eben noch keine Methodologie, ebenso wenig wie Assoziationen eine Methode seien. Ihm sei ja mitunter vorgeworfen, das alles sei ja Psychoanalyse, was er betreibe (S. 31): „Was es überhaupt nicht war.“ (S. 31) Dennoch gilt doch, dass es erlaubt sei, „die Expressionen des Unbewussten empirisch zu identifizieren.“ (S. 31) und: „Dafür habe ich mich immer interessiert.“ (S. 31)

In das Zentrum der Überlegungen im Erzähltext rückt sodann die Frage nach einer Mehr-Ebenen-Hermeneutik. Weiter oben sprach Oevermann bereits von der Performanz (S. 29) in der Theorie von Chomsky. Das verweist uns auf ein bis heute strittiges Thema in den Strömungen der qualitativen Sozialforschung. Es gibt nur »eine« Welt. Aber die hat unterschiedliche Ebenen. Man müsste, wie in der Zusammenarbeit mit Archäologen (S. 24), das Sprachmaterial dechiffrieren (S. 24). Signifikant scheint mir sein Satz zu sein: „Deswegen gehen mir sozusagen ‚Oberflächen-Empiriker‘ wahnsinnig auf den Nerv, aber Philosophen genauso.“ (S. 92)

Daher sind Variationen der Inhaltanalyse sicherlich von Formen subjektiver wie objektiver Hermeneutik zu unterscheiden. Damit kann eine Hermeneutik nicht der Logik der Subsumtion des Materials unter vorgegebenen Klassifikationssystemen (S. 22) sein. Hier kann man subjektive Hermeneutiken als Ein-Ebenen-Modelle (Abstellen auf den subjektiven Sinn) und Mehr-Ebenen-Hermeneutiken differenzieren, wobei die Differenz von Manifestationsebenen und latenten Sinnschichten ebenso möglich sind wie die Dechiffrierung des objektiven Sinns, durchaus angelehnt an Erwin Panofsky’s (1892-1968) Differenzierung der ikonographischen und der ikonologischen Stufe der Rekonstruktion. Doch damit beginne ich bereits, Oevermann in Relation zu anderen Hermeneutiken zu lokalisieren. Lassen wir das hier.

Von grundlegender Bedeutung ist das Verhältnis von Oevermann zur Arbeit der historischen Forschung. Oevermann erzählt von verschiedenen interdisziplinären Erfahrungen. Deutlich ausgeprägt sind die Erfahrungen in der Forschungs- und Lehrkooperation mit Historikern der neueren, mittelalterlichen und antiken Epochen, auch gerade dann, wenn es zu Schnittflächen mit religionswissenschaftlichen Forschungsfragestellungen kam. Hier erklärt sich eine erfolgreiche Kooperation aus den ontologischen Überlegungen, die weiter oben von mir als Metatheorie (quasi als eine Art von Poetologie) der Wissenschaft als „rekonstruktive Konstruktion von Wirklichkeit“ benannt worden ist. Insbesondere Hayden White (1928-2018) hat veranschaulicht, dass sich konkurrierende Geschichten erzählen lassen, Geschichtsforschung demnach eine unvermeidbare poetische Dimension hat.

Bedeutsam für das Verständnis der Idee der Objektiven Hermeneutik ist die Selbsteinschätzung von Oevermann mit Bezug auf die Einordnung in das Feld der Qualitativen Sozialforschung. Oevermann hebt hervor, dass er an sich den Begriff der qualitativen Sozialforschung für unglücklich hält (S. 42). Der Grund ist oben bereits angeführt: Auch nomologische Sozial- wie Naturwissenschaften der Erklärung der Welt beruhen auf einer Grundlagentheorieebene auf einem hermeneutischen Wissenschaftsverständnis, weil die Wirklichkeit – ich ergänze mit Kant: Weil wir die »Dinge an sich« nie kennen – immer nur rekonstruiert zu bekommen ist. Man müsse hier unterscheiden zwischen der „theoretischen Begründung der Objektiven Hermeneutik und dem faktischen Vorgehen als Kunstlehre“ (S. 35). M. E. drückt Oevermann hier deutlich aus, dass die rekonstruktive qualitative Sozialforschung eine eigenständige »Ontologie des Sozialen« voraussetzt. Im Zentrum steht dabei der Prozessgeschehenscharakter des Sozialen, geprägt von einem Subjektverständnis zwischen dem, was Karl Mannheim (1893-1947) in seiner Wissenssoziologie die Standortgebundenheit jeglichen Denkens (auf die die rekonstruktive Sozialforschung von Ralf Bohnsack [*1948] aufbaut) nannte einerseits, und andererseits der bereits betonten Kreativität des Menschen. Dieser Punkt mag uns auf hier nicht thematisierte Zusammenhänge mit Bausteinen aus der philosophischen Anthropologie erinnern, die die transgressive Kraft des Menschen – als „Arbeit am Mythos“ als dionysisch zu benennen – bezeichnet. Dazu sei der Mensch infolge seiner selbsttranszendierenden Plastizität und der von Helmuth Plessner (1892-1985) so genannten »exzentrischen Positionalität« dem Grunde nach fähig. Etwas sei die Soziologie jedenfalls nicht: „Benennung von sozialen Randbedingungen“ (S. 26) für die Psychologie. Diese Kritik ist relevant, um die Sackgassen der verschiedenen Strukturationssoziologien bei Anthony Giddens (*1938), James S. Coleman (1926-1995) oder Hartmut Esser (*1943) zu erkennen. Sie haben kein Verständnis für die generativen Mechanismen des sozialen Prozessgeschehens, in die die Subjekte in ihren Figurationen eingelassen – verstrickt – sind.

Erzählungen von Oevermann – Teil 2

Komme ich zum zweiten Abschnitt des Teils von Oevermann. Oevermann diskutiert sehr differenziert seine Betroffenheit durch die Herkunft aus der Nazi- und Kriegszeit im Spiegel seiner Erfahrungen der 1968er Zeit (S. 47 ff.). Seine Differenzierung zwischen Schuld und Scham in der kollektiven Aufarbeitung ist wichtig (S. 48).

Einige Eckpunkte eines Psychogramms von Ulrich Oevermann können herausgearbeitet werden. Was ich jetzt mache, ist eigentlich höchst problematisch, weil ich nicht genug Material habe. Da Oevermann aber seinem Interviewabdruck so zugestimmt habe, gehe ich davon aus, er meine, da sei das Wesentliche enthalten. Vor dem Hintergrund seines Aufwachsens in der Nazi-Kriegs-Zeit sind die Eckpunkte seiner Selbstformation als Wachstumsprozess seiner biographisch fassbaren Persönlichkeit: Verluste, Schule/​Lehrer, Vogelwelt und Landschaften, Bildungsweg, Entfaltung eines wissenschaftlichen Forschungsweltbildes.

Zum Eckpunkt der Melancholie: Seine Psychodynamik seiner Landschaftserlebnisgeschehens ist nicht nur ornithologisch (56) geprägt: Er nennt intensiv Postpreußen und die Masuren als Imagination (52), die Lüneburger Heide (60): „also die Natur war meine Heimat.“ (S. 94) Melancholiepsychologisch gesehen: Da passt es auch, dass er Rilke’s „Duineser Elegien“ auswendig konnte (S. 66).

Zum Eckpunkt der sozialen Selbstplatzierung: Oevermann berichtet, dass es eine Sozialstatus-Verunsicherung aufweist: Zur Mittelschicht gehört er nicht (S. 52), zur bildungsbürgerlichen Oberschicht hat er eher eine Disposition des Ekels, ja des Hasses (S. 53). Von Tilmann Allert‘s (*1947) Familie erzählt er (S. 53). Identifikation findet er eher mit den Ausgegrenzten »da unten«, so mit Flüchtlingen (S. 53).

Zum Eckpunkt der Schulerfahrungen und des Leidens am Frankfurter Institut für Sozialforschung: Schule fand er schrecklich (S. 56). Seine Ausführungen sind hier knapp, aber überaus dicht und substanzreich. Das gilt auch für die Lehrergestalten, die er erzählt (S. 62). Das ist wohl ein Schlüsselthema bei Oevermann. Seine persönlichen Erfahrungen prägen sodann seine wissenschaftliche Einstellung zum Programm der Kritischen Theorie überhaupt. Diese Erfahrung ist zunächst vor dem Hintergrund der vielen Begegnungen zu sehen, die Oevermann möglich waren in der Nachkriegsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie. Das ist eine Erzählung der großen Namen. Aus heutiger Sicht kommt da fast schon Neid auf, wenn man sieht, wen er alles begegnen konnte. Die konkreten Erlebnisgeschichten sind dann allerdings nicht immer so erfreulich. Im Fall von Friedrich Tenbruck (1919-1994) und der Rollentheorie wird ein theoretisches Schlüsselerlebnis berichtet (S. 67 f.): Jenseits von Psychologie und Philosophie „außerhalb der Erfahrungswissenschaften“ (S. 68) – obwohl er sich an einer Stelle doch in die Höhen der Metaphysik begibt (S. 77 f.) – wurde ihm klar, dass der Rollenbegriff eine „konstitutionstheoretische Funktion“ für eine „Strukturtheorie“ hat (S. 68).

Da von der Seitenabfolge passend, sei eingeschoben: Schön seine Erinnerung an Erich Kästner (S. 68).

Komme ich zum Frankfurter Institut für Sozialforschung (S. 71 ff.). Das hört sich eher traumatisch an: Daher die Ablehnung der Auffassung der normativen Rolle der Wissenschaft: „Wenn man die Welt ändern will, dann muss man das als Bürger tun und in der Praxis. Aber nicht mit dem Vehikel Wissenschaft.“ (S. 71) Hier sei er ganz Weberianer (S. 82 f.), und kein „verkappte(r) Theologe“ (S. 83), kein „Weltverbesserer“ (S. 89).

Er hält die 11. Feuerbachthese von Marx für völlig falsch rezipiert (S. 90), den Dezisionismus-Vorwurf ebenso (S. 90) und konstatiert: „mit den Philosophen habe ich immer riesige Probleme“ (S. 91). Seine Naturrechtsbemerkungen (S. 91) bleiben mir etwas unklar.

Das hat m.E. viel mit kränkenden Ausgrenzungen seitens der großen Köpfe der Frankfurter Schule zu tun. Oevermann macht das in seiner Erzählung überaus plastisch. Sein Bild zu Jürgen Habermas (*1929) ist aber höchst differenziert zwischen Wertschätzung (als Mensch) und Ablehnung (in der Theorie): dazu S. 71 ff. Prägnant als Fazit: „Das Institut für Sozialforschung war für mich ein Horror-Institut, das war so etwas von autoritär.“ (S. 74)

Habermas (wie auch M. Rainer Lepsius [1928-2014]: S. 86) seien aber letztendlich von positiver Bedeutung für ihn, ebenso Bourdieu: S. 86).

Oevermann fand sich in Frankfurt am Main platziert als brauchbarer Positivist; er hat sich dennoch etabliert und verspürt nun am Ende seiner Laufbahn, aus meiner Sicht der aktuellen Universitätswissenschaftskultur leicht nachvollziehbar: „So jemand wie mich beruft man nicht. Schon lange nicht mehr“ (S. 75). Jetzt aber nicht mehr wegen des Verdachts der Zugehörigkeit im Umkreis Kritischer Theorie, sondern weil Wissenschaft heute nochmals nach einer ganzen anderen DNA (Richard Münch [*1945] spricht von einem »akademischen Kapitalismus«) funktioniert. Doch die Ausdeutung muss ich mir hier aussparen.

Erzählungen von Schütze

Ich komme nun zum Teil der Selbsterzählung von Fritz Schütze. Alles beginnt mit dem Krieg. Der Vater als Fremder, der auch krank blieb (S. 110), kam spät heim, „zwölfeinhalb Jahre seines Lebens verloren“ (S. 107). Er blieb dem Sohn ein Fremder (S. 118), auch wohl für dessen Ehefrau (S. 121). Es folgen dann früh schon die Jahre der eigenen Erkrankungen (S. 109 ff.). „Sprechen über die Nazizeit“ (S. 111) blieb ein schwieriges Unterfangen.

Das altsprachlich-humanistische, jedoch liberale Schiller-Gymnasium in Münster war, wie Schütze sagt, dann seine „Rettung der Schullaufbahn“ (S. 119). Latein war sein Lieblingsfach (S. 120). In der Familie gab es eher Spaltungen zwischen Vater und Mutter, zwischen Katholizismus und Protestantismus, Naturwissenschaften versus Geisteswissenschaften (S. 121 f.; S. 125 f.). Sollten hier schismogentisch wirksame binäre Codes eine Tiefengrammatik des Familienlebens dargestellt haben? Das könnte für die wissenschaftslogischen Orientierungen von Schütze von konstitutiver Bedeutung gewesen sein. Schütze deutet viele erzählbare Details an (S. 123), erzählt sie quasi unerzählt im Modus dieser dichten Andeutung. Der verstiegene Geiz der Vaters als Haltung deutet Schütze als Prägung durch die Entbehrungen der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit (S. 123). Ein Zwischenfazit betitelt er durch die Formulierung „Die schwierige, aber auch produktive Beziehung zu meinem Vater“ (S. 124). Fremdheit, Distanz, aber auch Versöhnliches klingt hier an.

Der Tod seiner Mutter (S. 121 ff.) ist der nächste Einschlag. Eine schwere depressive Grundgestimmtheit trieb sie in den „Freitod“ (S. 123).

Die Erzählung seines Zugangs zum „Fach Soziologie“ ist von zentraler Bedeutung im Erzähltext und verweist auch auf einige Parallelen zu Oevermann. Auch nicht geradlinig kam Schütze zum Studium der Soziologie (S. 129). Er deutet an, dass zuvor seine sehr guten Kenntnisse „der realistischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts und auch der des frühen 20. Jahrhunderts“ (S. 129) eine bahnende Bedeutung gehabt haben können. Das ist ein Thema, das ich gut nachvollziehen kann, hatte ich oben Kunst immer auch als einen Weg der Hermeneutik der jeweils eigenen Epoche und deren sozialen Wirklichkeit begriffen. Ein Roman kann eine Art von soziologischer Deutung der Zeit sein, die reflektiert wird; ebenso kann Sozialforschung als (allerdings methodisch kontrollierte) Erzählung über die Geschichten einer solchen Zeit zu verstehen sein. Mit Bezug auf Büchner und Kafka sowie Dostojewski hatte Schütze einen epistemischen Zugang gefunden, „um die Abgründigkeit und Zerbrechlichkeit von Interaktionsabläufen“ (S. 129) – was weiter unten noch zu erläutern sein wird – zu erkennen und zu verstehen. Damit ist sein Weg zu seinem Forschungsparadigma gebahnt, zugleich die Fallgeschichte seiner eigenen Familie meinend.

Die schismogenetischen Strukturen in seinem Elternhaus spielen offensichtlich bei seinem Werden als Soziologe eine Rolle: Seine Skrupel mögen von einer Skepsis getragen worden sein, ob und inwieweit die Soziologie eine zu den Naturwissenschaften gleichwertige Wissenschaft wäre (S. 132). Die Ideenwelt des einheitswissenschaftlich eingestellten Vaters mag hier nachwirken (S. 132). Analog zu Oevermann vertritt auch er die Meinung, selbst die Naturwissenschaften beruhen auf einer hermeneutischen Metagrundlagentheorie (S. 133), die aber nicht die Ebene der handwerklichen Kunstlehre der Methoden betreffen.

Wie Oevermann hat auch Schütz Affinitäten zur Geschichtswissenschaft (auch zur Alten Geschichte: vgl. explizit S. 221 f.) – wohl wegen der Arbeit mit dem Quellenmaterial (S. 134). Doch die Kombination von Geschichtswissenschaft und Soziologie galt damals, wie er erzählt, als völlig abwegig, anders als viel später etwa bei Jürgen Kocka oder Hans-Ulrich Wehler (S. 134 f.). Perspektiven der Alltags- und Mentalitätsgschichte haben die Geschichtswissenschaft verändert. Die Historische Anthropologie führt zur Hinwendung zu den »Lebensformen« der Menschen in den Epochen. Heute ist Biographieforschung in der Kulturgeschichte methodologisch modern aufgestellt.

Das Verbindende der rekonstruktiven Forschung zur Geschichtesfoschung war aber nicht nur die Nähe zum Material als Quelle; die „geschichtlichen Entwicklungen“ werden als „Entfaltungsraum“ verstanden (134), also völlig analog zum Lebenslauf. Und auf beiden Ebenen des Prozessgeschehens muss die jeweilige „Ordnungsstruktur“ erkannt werden (S. 134). Es geht um das Verstehen „der historischen Details als Ausdruck von menschlichem Leben“ (S. 134): Spricht hier Schütze nicht fast wie Oevermann als Biologe des menschlichen Lebens? Geschichtsanalyse und Biographiearbeit: eine Analogie. Wie bei Oevermann spielt auch bei Schütze (bei Frau und Tochter) Kunst und Kunstgeschichte eine Rolle (S. 143). Ich hatte ja schon angedeutet: Rekonstruktive Hermeneutik in der Sozialforschung der Soziologie hat es leicht, Zugänge zu historischen Material, auch zur Kunstgeschichte, zu finden und verbindet sich leichter mit den Forschungen der Literaturwissenschaften als im Fall nomologischer quantitativer Soziologie. Ähnlich wie Oevermann fand auch Schütze Zugang zur Linguistik und der Allgemeinen Sprachwissenschaft (S. 135); Bernstein (S. 149) war ihm dabei natürlich von Bedeutung.

Vor dem Hintergrund dieser Erzählungen über die Hinwendung zur Soziologie folgen ausführliche und spannende Erzählungen zur Erfahrung der nachkriegsdeutschen Universitätsgeschichte im Fach Soziologie. Schütze erzählt (S. 130 ff.) dann ausführlich von der Landkarte der Soziologie in Deutschland nach 1945, skizziert die Hauptzentren (Münster, Köln, Frankfurt) und die Nebenzentren (Berlin und Hamburg), dann vor allem die Gründung und Entwicklung von Bielefeld (S. 142 ff.). 1970 (S. 143) ging Schütze dorthin, kam nach seinem Aufenthalt in den USA dort wieder zurück (S. 193). Sehr ausführlich kommt die Herrschaftsrolle von Helmut Schelsky (1912-1984) – wie üblich im Nachkriegsdeutschland: trotz seiner Nazi-Zeit – zur Sprache. Erzählt wird sein Verhältnis zu Joachim Matthes (1930-2009), bei dem er sich entwickelt hatte (S. 140 f.). In dieser Darstellung der akademischen Landschaft fehlt bald kein großer Name mehr mit Blick auf die Entwicklung des symbolischen Interaktionismus, der Wissenssoziologie, der phänomenologischen Soziologie, der Ethnomethodologie, weder aus Deutschland noch aus den USA: Dorthin zog ihn Anselm L. Strauss (1916 bis 1996) (vgl. S. 184 ff.) für ein Jahr (S. 180 ff.). Hans-Georg Soeffner (*1939) wird herausgestellt (S. 171 ff.).

Soeffner ist für uns hier deshalb eine wichtige Position, weil damit ein Thema angeschnitten ist, das durchgängig im Spiegel einer grundlagenwissenschaftliche Metatheorie der Hermeneutik ganz wichtig ist, obwohl sie eigentlich eine Ontologie des (lebensweltlichen) Alltags benötigt, die trotz der Vorarbeiten bei Georg Lukács, Henri Lefebvre, Agnes Heller, Karel Kosík u.a. noch nicht hinreichend ausgearbeitet ist: Die »Auslegung des Alltags« ist die Aufgabe der Wissenschaft; der »Alltag als Auslegung« ist die hermeneutische Praxis des Menschen der sozialen Wirklichkeit selbst. Das sind zwei verschiedene ontologische Ebenen, die aber aufeinander bezogen sind.

Die Affinitäten zum englischsprachigen Raum (S. 136 ff.) wurden für Schütze kennzeichnend, eventuell Spannungen mit Matthes aufwerfend.

Die 1968er Revolution erlebte er oftmals in Schlichtungsrollen, die ihm im Universitätsleben zukamen (S. 138 f.). Ähnlich wie im Fall von Oevermann stand er doch etwas abseits vom revolutionären Strom. Schütze reflektiert: Er hätte seinen Generationenkonflikt ja schon hinter sich und verweist nochmals auf sein Verhältnis zum Vater (S. 138).

Anders als im Fall von Oevermann interessierte sich Schütze für die großen Richtungen und Köpfe der philosophischen Anthropologie (147 ff.). Bekanntlich war hier auch so mancher Verstrickter der Nazi-Zeit dabei. Vor allem auch das Werk von Norbert Elias wird herausgehoben (S. 147 ff.). Die Idee der Figurationenanalyse fasziniert Schütze (S. 148).

Die Beschäftigung mit der Dissertation von Oevermann („Sprache und soziale Herkunft“) betont er mehrfach (S. 149, ferner S. 162).

So kristallisierte sich bei Schütze zunehmend die Forschungsperspektive heraus, den „Niederschlag von Strukturen von Macht und Gewalt“ auf die „aufgezwungenen und inauthentischen Lebensverläufe und Identitätsfaltungen“ (S. 150) verstehen zu wollen: wie im Fall von seinem Vater? Lebensgeschichtliche Erzählungen generieren Bezüge zu kollektiven Phänomenen (S. 153). Epoche und Zeitgeschichte, gesellschaftliche Verhältnisse und die biographischen Verlaufsformen verschachteln sich und können in diesen Faltungen rekonstruiert werden (S. 154). Dazu muss man sich die Erzählformen (S. 154) in ihrer Struktur anschauen: Da gibt es Sequenzen, Verkettungen, narrative Abschnitte als Einheiten, Gliederungen, Einschnitte, Übergänge (S. 155): die „größere(n) Zusammenhänge“ (S. 156) nehmen Gestalt in diesem Erzählverlauf der „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“ (S. 156) an.

Dieses Forschungsperspektive hatte es nicht leicht, sich selbst zu entfalten. Noch kürzlich sagte ein Kölner Kollege im Institut für Soziologie und Sozialpsychologie (ISS), dem ich mit meiner Professur für Sozialpolitik und Methoden qualitativer Sozialforschung und als Direktor des Seminars für Genossenschaftswesen angehöre, er sei unsicher, ob der Lebenslauf ein Thema der Soziologie sei. Ein anderer Kollege sagte vor Jahren einmal zu mir: Soziologie sei nichts anderes als angewandte Mathematik. Auch heute ist es in multidisziplinären Graduiertenkollegs noch üblich, an mich die Frage zu richten, ob das, was ich mache, eigentlich noch Wissenschaft sei. Gewiss, an Wertschätzung und Respekt fehlt es nicht: So hatte ich früh nach meiner Berufung die Bezeichnung „Literarische Intelligenz“ erhalten. Und man traut mir nunmehr auch im 15. Jahr Dekanatsaufgaben zu. Vieles hat sich im Spiegel der Erzählungen von Oevermann und Schütze gewandelt, manches ist geblieben, wie es war.

Was Schütze vereint mit Oevermann ist der Blick auf das Erleiden – ich spreche immer vom homo patiens im Spiegel der Idee der Inklusion – in den Verlaufskurven der lebensgeschichtlichen Prozessstrukturen (S. 156). Dabei interessieren dann subjektive Handlungsschemata, die institutionellen Kontexte sowie die Metamorphosen im weiteren Verlauf („Karrieren“: S. 156). Hier werden nun die sog. „suprasegmentalen Marker“ (S. 154) verständlich. Daher kann ich auch verstehen, dass Schütze angedeutet, er hätte in Münster auch noch gerne Ethnologie (was dort kaum möglich war) studiert, denn in der Ethnologie bzw. Sozialanthropologie ist die Erforschung der kulturell regulierten Statuspassagen klassisch verankert. In der Sozialpolitik- bzw. Sozialstaatsforschung, aber auch in anderen Themenfeldern der Kulturwissenschaften, hat sich dieser Blick heute breit verankert. Die „Trajectory“-Forschung von Anselm Strauss (S. 157) ordnet sich hier plausibel ein.

Von verschiedenen Stationen wird sodann erzählt. Den Teil zur Professur in Kassel kann ich selbst gut nach vollziehen, da ich 2 Semester im Fachbereich Sozialwesen eine Gastprofessur für Gesundheitspolitik inne hatte und später auch einen Ruf auf eine C3-Professur bekam, den ich zugunsten des Rufes nach Köln ablehnte. Ich kann vor alle die wertschätzenden Ausführungen (S. 208) zu Florian Tennstedt (*1943) sehr gut nachvollziehen. Schütze kam hier auch mit der Psychoanalyse in engeren Kontakt und betont das „große Potenzial der interdisziplinären Zusammenarbeit“ (S. 214), reflektiert aber auch seine damalige Naivität und sein Harmoniebedürfnis, unterschätzte die Eigeninteressen einzelnen Disziplinen und der einzelnen Forschungsrichtungen innerhalb der verschiedenen Disziplinen (S. 215).

Dann ging es episodisch nach Princeton. Dort kam er u.a. mit Clifford Geertz (1926-2006) zusammen. Entscheidend war hier aber die Möglichkeit zur Biographieforschung (S. 220 ff.), die Kooperation mit Martin Kohli (*1942) überaus wertschätzend herausstellend. Sein Horizont weitete sich dort: Er schätzte dort auch Albert Hirschman (1915-2012), ein heterodoxer Sozialwissenschaftler und Sozialökonom (S. 222).

Dann kam der Wechsel von Kassel (C2) danach Magdeburg (C4), in Tübingen und Erlangen-Nürnberg kam er nur auf Platz 3. Es ging ihm nicht um das Gehalt, sondern um die Augenhöhe mit anderen soziologischen Lehrstühlen (S. 223). Hier nun, in Magdeburg, kam es zur nachhaltigen Entwicklung seiner Forschungsperspektive.

Seine humorvollen Erzählungen als Prüfungsausschussvorsitzender im Institut für Musik (S. 252 ff.) zeigen, wie er in der Begriffsanalytik seiner Forschungsorientierung seine eigene Rolle in der Kultur des Instituts reflektieren kann.

Der Kontakt zum Ehepaar Strauss in den USA wurde weiter gelebt. Er reflektiert dabei seinen Lernprozess, mit der deutschen Schuldproblematik („Zugehörigkeit zur Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen“: S. 275) allmählich erfolgreich umzugehen.

Wie endet die Erzählung von Schütze? In der Weise einer humorvollen Melancholie? „Ja, das ist es jetzt, und nun fällt mir eigentlich nichts mehr ein.“ Viel schleppe er noch an „Nachdenk-Potenzial“ mit sich herum; nicht alles kann realisiert werden. „Damit kann ich aber gut leben und hoffentlich auch gut sterben.“ (S. 276)

Diskussion

Die beiden Erzählungen, wenn man sie jeweils auf ihre innere Verlaufsstruktur, aber auch mit vergleichendem Blick rezipiert, bieten unterschiedlich tiefe Einblicke in die Lebensgeschichten beiden Protagonisten der Erzählungen. Die Struktur des Teils von Schütze ist ganz anders als im Fall von Oevermann. Um eine dichte analytische Nacherzählung der Erzählung von Schütze zu entfalten, kann ein Fazit zu Oevermann helfen, um aus dem Kontrast heraus – sozusagen komparativ mit Blick auf die Differenz – auch Ähnlichkeiten oder Gemeinsames zu verstehen.

Auch Oevermann hat seine akademische Biographie eingebettet. Dies geschah aber eher zurückhaltend. Die Kränkungen und die Stigmatisierungen vor allem im Alltag der Frankfurter Schule ließ Spuren zurück, die Oevermann auch wissenschaftstheoretisch Abstand nehmen ließen von der Idee der Kritischen Theorie. Das habe ich weiter oben problematisiert. Seine differenzierte Haltung zu Habermas und seine Selbstrevision als Autosupervision in Bezug auf Adorno zeugen von einer großen reflexiven Achtsamkeit; seine Einschätzung von Max Horkheimer (1895-1973) deckt sich mit der Sekundärliteratur. Dennoch ist Oevermann’s Ablehnung der Idee Kritischer Theorie nicht unproblematisch: Seine wissenschaftslogischen Ablehnungen verarbeiten wohl eher die geschilderte eigene emotionale Betroffenheit durch menschliches Fehlverhalten ihm selbst gegenüber. Etwas hart formuliert: Seine Ornithologie spiegeln psychodynamisch seine – legitimen – Harmoniebedürfnisse. Hier fügen sich auch seine Landschaftserlebnisse ein. Diese sind psychoanalytisch überaus verständlich. Aber seine Auffassung zur Werturteilsfreiheit der Wissenschaften sind nach heutigem Stand des Diskurses verkürzt und reduziert: Gesellschaft ist kein Gegenstand eines von ihm in verborgender romantischer Haltung präferierten biologischen Blicks auf die Natur in Fauna und Flora: weil „ich eigentlich Biologe werden wollte.“ (S. 44) Oder: „habituell bin ich eher Naturforscher.“ (S. 92) In der Tat, meine ich, sind die Schlussfolgerungen der Methodologie seiner Arbeit am Sprachmaterial nicht radikal genug. Er kann nicht argumentieren: Wissenschaft deckt hermeneutisch Befunde auf: Und es sei sodann die Sache des Wissenschaftlers als bürgerlicher Privatmensch, daraus moralische Schlussfolgerungen zu ziehen – so wie im Fall von Max Weber. Hier war Max Weber (1864-1920) ja eher figürliche Signatur des tiefen Problems seiner Epoche. Empirische Befunde sprechen zu uns ja immer erst im Lichte unserer Wertmaßstäbe. Dies begründete den Ethischen Sozialismus. Das hat der Marburger Neu-Kantianismus als Haltung der Empörung formuliert. Bei Max Weber führte dies im Lichte der neu-kantianischen Wissenschaftslehre der südwestdeutschen Schule zum Theorem der kulturbedeutsamen Wertbezüge als transzendentale Voraussetzung von Erkenntnis. Eigentliche geben unsere normativ-rechtlichen Regime mit dem Kern der »Würde« (UN-Völkerrecht; EU-Grundrechtscharta; GG) bereits in Form eines modernen Naturrechts den Maßstab ab, an dem die soziale Wirklichkeit skaliert werden muss. Es ist die von Hans Joas so bezeichnete „Sakralität der Person“ vor dem Hintergrund der »Sattelzeit« von 1789 (Freiheit, Gleichheit, Solidarität), die der empirischen Sozialforschung in ihrer Metaphysikbedürftigkeit eine Orientierung gibt. Ich meine, dass Oevermann‘ s heftige Abneigung gegenüber „der“ Psychologie eigentlich (wie einst in der Epoche von Durkheim) nur jene Psychologie meinen kann, die als »atomistisch« bezeichnet worden ist. Und seine ebenso heftige Abneigung gegenüber „der“ Philosophie ist noch weniger zu verstehen. Haben nicht Martin Heidegger (1989-1996), Hans-Georg Gadamer (1900-2002) und Otto Friedrich Bollnow (1903-1991) darlegen können, dass Hermeneutik immer nur als in der vorgängigen Geschichtlichkeit eingebettet verstanden werden kann, der Mensch seine Existenz immer nur im Rahmen seiner »Geworfenheit« führen kann. Der Mensch tut dies schöpferisch und kann den geschichtlichen Horizont übersteigen. Ist das nicht die strukturale Einbettung der Hermeneutik, von der hier die Rede ist? Ist es überflüssig, Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) zu kennen, der uns aufzeigen konnte, das nicht das Subjekt Wahrnehmung hat, sondern: Die Wahrnehmung hat den Menschen. Diese Umkehrung des cartesianischen Blicks scheint mir gar nicht unwichtig. Sie verweist darauf, dass man die Frames im Werk des mehrfach erwähnten Erving Goffman (1922-1982) z.B. nicht zu eng kognitionspsychologisch weiterentwickeln muss, sondern im Sinne post-strukturaler Dezentrierung des Subjekts.

Und die Verstrickungen der Menschen, von denen die rekonstruktive Sozialforschung handelt: Handelt davon nicht auch die Philosophie der narrativen Identität von Paul Ricoeur (1913-2005)? Natürlich reflektiert Philosophie auf einer anderen Ebene als die Kunstlehre der rekonstruktiven Hermeneutik. Aber gehört solche Philosophie nicht zur Grundlagentheorie, von der die Rede ist (195)? Schütze erwähnt mehrfach die daseinsanthropologisch fundierte Psychiatrie von Wolfgang Blankenburg (168; 174). Blankenburg (1928-2002) – ähnlich wie Hubertus Tellenbach (1914-1994) und Jürg Zutt (1893-1980) – fußen auf der Vorgängergeneration des »Wengener Kreises« von Ludwig Binswanger (1881-1966), Erwin W. Straus (1891-1975), von Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976) und Eugéne Minkowski (1885-1972): Und dieses Denken kommt von der Philosophie bei Heidegger und Husserl her. Also auch hier: phänomenologische und hermeneutische Psychologie nicht ohne Philosophie. Bei Schütze werden derartige protosoziologische Fragen angesprochen (S. 196).

Doch zurück zu Oevermann‘s Erzählung: So dominierte in der Selbsterzählung von Oevermann deutlich die akademische Dimension als Drehbuch, daneben, durchaus eingestrickt, die prägenden Erfahrungen in den sozialen Beziehungen der verschiedenen Standorte der Wissenschaft, die er durchlief. Die familienbiographischen Erzählpassagen machen dennoch verständlich, wie sich langsam seine Forscherhaltung entwickelte. Als Kind der Kriegs-Zeit des Nationalsozialismus versteht er den Menschen weniger von den Routinen des Alltags, sondern aus der Erfahrung der Krisen, die bewältigt werden müssen, heraus. Und hier blieb er, etwas Status-unsicher in der »Sozialstrukturzwiebel« seiner Zeit, den »Menschen da« unten zugeneigt.

Es wird durchaus deutlich, wie sich beide Richtungen rekonstruktiver Hermeneutik in ihrer Entfaltung als Soziologie und Sozialforschung im etablierten Feld schmerzhaft freikämpfen mussten. Die universitäts- und institutsgeschichtlichen Erzählteile bieten einen spannenden Einblick in die Soziologiegeschichte der Bundesrepublik Deutschland nach 1945, durchaus geprägt vom Kontext des langen 20. Jahrhunderts. Erneut wird deutlich, wie autoritär die Herrenwelt der bundesdeutschen Universität geprägt war von Professuren, die oftmals in der Nazi-Zeit verstrickt waren. Aber auch die Forschungsansätze selbst mussten sich gegenüber verschlossenen, entwicklungsblockierenden Strukturen fixierter traditioneller Ordnungen von Disziplinen – immer wieder auch als soziale Machtverhältnisse etabliert – durchsetzen. Exemplarisch sind die Ausführungen von Schütze über das schwierige Habilitationsverfahren in Bielefeld (S. 202 f.).

Er wird auch deutlich, wie die wissenschaftliche Hinwendung beider Protagonisten zum Verstehen der Art und Weise, wie Menschen in der dramatischen Sorgestruktur ihres leidvollen familiengeschichtlichen Alltags im Kontext der Katastrophen ihrer Erfahrung der kollektiven Zeitgeschichte zu bewältigen versuchen, selbst wiederum aus der eigenen Lebensgeschichte zu rekonstruieren sind. Beide akademischen Lebensverlaufsgeschichten spiegeln diese Verarbeitung des jeweiligen schicksalhaften »Geworfenseins« in die Irrungen und Wirrungen der nationalsozialistischen Kriegszeit, der entbehrungsvollen unmittelbaren Nachkriegszeit und der weitern Kulturgeschichte der Bundesrepublik, wie sie sich sodann durch die Umbrüche von 1968 veränderte. Verluste, Kränkungen, belastende Unsicherheiten, Identitätssuche und Entfaltungskämpfe, später dann aber auch differenzierende und versöhnliche Haltungen zeugen von der partiell freigelegten verborgenen Psychodynamik dieser Erzählungen. Die Entwicklung eines akademischen Profils als Eigenschaftsdimension einer Persönlichkeit ist eben nicht zu trennen von der komplexen Lebensverlaufsgeschichte. Und dies ist nicht zu trennen von den Strukturen und Verlaufsprozesse der Gesellschaftsgeschichte, in die alles eingestellt ist.

Fritz Schütze validiert mit seiner Erzählung seine eigene Forschungsperspektive. Ulrich Oevermann untermauert mit seiner Erzählung seine soziologische Sicht, wonach der Mensch von seiner sozialen Herkunft tiefgreifend geprägt, aber nicht determiniert ist, sich mit seinem schöpferischen Potenzial befreien kann, eigene neue Wege gehen kann. Insofern war der Rekurs auf Goethe zu Beginn der Analyse nicht falsch gewählt: Es ging um Metamorphosen, deren Grammatik – um nochmals den »linguistic turn« zu bemühen – auf eine Verschachtelung als komplexe Faltung der individualbiographischen Erlebnisgeschehenszeit, der gesellschaftliche Zeitgeschichte und der andauernden Epoche verweist. Mit Automatismus und Determinismus hat eine solche Entelechie nichts zu tun. Alles hätte auch ganz anders verlaufen können.

Oevermann hält weder etwas von Psychologie noch von Philosophie. Anders als im Fall von Schütze habe ich bei Oevermann den Verdacht, die von ihm erzählten Kränkungen durch die autoritative Ordinarius-Kultur der Frankfurter-Schule überträgt er auf die Ebene einer allgemeine Kritik philosophischer Abstraktion. Und mit Blick auf Psychologie gilt: Psychologie ist nicht Psychologie. Schütze verweist ja z.B. auf die daseinsanthropologisch fundierte, phänomenologische Psychiatrie. Und Oevermann selbst hat ja ein explizit differenzierteres Bild, wenn er über Psychoanalyse und Tiefenhermeneutik spricht. Da scheinen doch Gegenübertragungsprozesse eine Rolle zu spielen.

Die Psychologie bietet ja durchaus Perspektiven. Man denke an die Entwicklungspsychologie von Hans Thomae (1915-2001), der nach 1945 die bundesdeutsche Gerontologie prägte und in seiner daseinsthematisch interessierten Psychologie des personalen Erlebnisgeschehens sich biographietheoretisch für die Verlaufsmuster und Gestaltformen des Alterns interessiert hat. Es ging ihm um die Analyse der Ordnung dieses Erlebnisgeschehens, der Verlaufsformen, transaktionalistisch gedacht, in Wechselwirkung zu Daseinstechniken bzw. Reaktionsstilen.

Eine Frage, die sich mir u.a. angesichts der Dynamik diskursanalytischer Entwicklungen stellt, lautet: Wo bleibt das Dispositiv von Foucault und die Diskursanalyse? In dem erwähnten Gespräch mit Oevermann in Köln wurde klar: Bourdieu war wichtig, Michel Foucault (1926-1984) bekommt eine Absage. Warum eigentlich? In der Diskursanalyse als Strömungen qualitativer Sozialforschung wird Foucault und seine Welt der gouvernementalen Dispositive ja runtergebrochen für das hermeneutische Verständnis der Machtgefüge von Wahrheitsspiele der Diskursordnungen, der Institutionen und ihrer Programmcodes, der sozialen Praktiken, der mentalen Modelle der Subjekte. In seiner Problematisierung der Tradition der Hermeneutik wandte sich Foucault kritisch im Rahmen seiner Dezentrierung des Subjekts in der post-strukturalen Methodologie gegen den ideologisierten Cartesianismus des methodologischen Individualismus. Damit bettet Foucault – eigentlich, wohl verstanden – durchaus ganz im Sinne von Soeffner, der ja auch der »Ordnung der Rituale« auf der Spur war, die hermeneutische Problematik ein in vorgängige generative Mechanismen, die mit zu verstehen sind. Die Subjekte der Hermeneutik (als Menschen im Alltag, aber auch als Wissenschaft eben des Alltags) sind Ausdruck von Subjektivierungsformen im Sinne der Vergesellschaftung. Auch Foucault stellt nicht nur auf das »Was« der Diskurse ab, sondern – wie die Logik der Ethnomethodologie – auf die Generativität der grammatischen Ordnung des »Wie« der Diskurse.

Die Fokussierung auf individuelle Fallrekonstruktionen rekonstruktiver Hermeneutik muss ja nicht bedeuten, man konzentriere sich auf der Ebene einer Mikrosoziologie (ohne dabei zur Psychologie zu werden). Die Unterscheidung von Mikro- und Makrosoziologie ist hoch problematisch und wirft Probleme auf, die wir auch aus der Unterscheidung von Mikro- und Makroökonomie kennen. So wie es kein abstraktes (z.B. transzendentales) Subjekt gibt, sondern immer nur das vergesellschaftete konkrete Subjekt, das durch die Vergesellschaftung ja überhaupt erst subjektiviert wird, ob nun eigentlich (wahr) oder uneigentlich (unwahr), gewaltsam verzerrt oder authentisch und weitgehend unentfremdet, so kann es nur eine Soziologie geben, in der die Mikrowelt und Makrowelt im strukturellen Prozessgeschehen des Lebenslaufes unlösbar ineinander gefaltet sind.

Ein weiterer Themenkreis, zu dem ich Nachfragen zu den Erzählungen hätte, wäre der Bezug zu Forschungen fallübergreifender Erkenntnisinteressen: Wo bleibt die Dokumentarische Methode von Ralf Bohnsack? Ralf Bohnsack (*1948) wird nur am Rande genannt (S. 164; S. 223). Das Thema des Stellenwertes der fallübergreifenden Analyse mit Blick auf Typologiebildungen rückt damit in den Mittepunkt der Nachfrage. Geht es mit Leidenschaft nur um individuelle Fallrekonstruktionen? Können Fälle nicht auch eine Gruppe ähnlicher Haltungen und sozialer Praktiken bilden? Karl Mannheim und Erwin Panofsky wurden ja schon angesprochen. Das sind wichtige Quellen auch für Ralf Bohnsack. Bohnsack kommt j auch aus der Schule von Matthes. Das Thema ist der Forschung von Oevermann und Schütze natürlich nicht fremd.

Oevermann und Schütze zentrieren sich jedoch leidenschaftlich um die tiefe Fallrekonstriktion. Bohnsack geht ein Schritt weiter: Es interessieren deutlich auch – fallübergreifend vergleichend generiert – sozialen Typen, geprägt von kollektiv geteilten Deutungs- und Handlungsmustern. Diese soziologisch bedeutsame Fragestellung wird bei Oevermann und Schütze nicht ausgeklammert, aber in der Erzählung weitgehend ausgeblendet. Aber ist es nicht relevant, Sozialcharaktertypen zu identifizieren? Gerade für die Professionenforschung, für die sich die Oevermann und Schütze interessieren, dürfte die Typenbildung doch von fundamentaler Bedeutung sein. Bohnsack ist wie Oevermann von Bourdieu geprägt: Dann aber muss doch das Problem der Habitusformation mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Verteilung von sozial geteilten Deutungsmustern und der Landkarte der Derivationen ein Forschungsthema im Sinne der Soziologie der Sozialstruktur werden.

Fazit

Das Buch ist auch für interessierte Studierende der Sozialwissenschaften im weiten Sinne zu empfehlen. Sie bekommen einen lebendigen Zugang zu dem Abenteuer der rekonstruktiven Sozialforschung, aber weiterhin mit ausgeprägter Resilienz mit der sozialen Tatsache umgehen lernen müssen, dass das Feld der qualitativen Sozialforschung weit und unübersichtlich ist, ausgestattet mit symbolischen Distinktionsstrategien und identitätsstiftenden Abgrenzungen, die zu Ausgrenzungspraktiken werden, die entsprechend selbst erst dechiffriert werden müssen, oftmals chimärenhaft sind: die Welt der Universität des homo academicus bleibt weiterhin eine ganz normale Welt, wie auch die Götterwelt des altgriechischen Olymp ja anthropomorphen Charakter hatte und eine Spiegelung der Vielfalt menschlicher Eigenschaften darstellte. Als störend empfand ich den leseunfreundlichen engen Satz des Textes.

Rezension von
Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt
Univ.-Prof. für Sozialpolitik, qualitative Sozialforschung und Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln
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Es gibt 7 Rezensionen von Frank Schulz-Nieswandt.


Zitiervorschlag
Frank Schulz-Nieswandt. Rezension vom 14.10.2020 zu: Detlef Garz, Klaus Kraimer, Gerhard Riemann (Hrsg.): Im Gespräch mit Ulrich Oevermann und Fritz Schütze. Einblicke in die biographischen Voraussetzungen, die Entstehungsgeschichte und die Gestalt rekonstruktiver Forschungsansätze. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. ISBN 978-3-8474-0656-3. Reihe: Studien zur rekonstruktiven Sozialforschung - Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26163.php, Datum des Zugriffs 05.10.2024.


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