Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.: Kinderarmut bekämpfen - Armutskarrieren verhindern

Rezensiert von Prof. Dr. Ina Schildbach, 05.02.2020

Cover  Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.: Kinderarmut bekämpfen - Armutskarrieren verhindern ISBN 978-3-7841-3133-7

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.: Kinderarmut bekämpfen - Armutskarrieren verhindern. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. - DV (Berlin) 2019. 96 Seiten. ISBN 978-3-7841-3133-7. D: 14,50 EUR, A: 15,00 EUR.
Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit. Ausgabe 03/2019.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Thema

In Armut lebende Kinder haben ein „gestohlenes Leben“, so der treffende Titel von Michael Klundts 2019 erschienen Buch: Materielle Deprivation wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus und zeitigt Konsequenzen für das Erwachsenenalter. So haben von Armut betroffene Kinder dem aktuellen Bildungsbericht zufolge in allen Lebensphasen schlechtere Bildungschancen und schließen demzufolge die Schule deutlich seltener mit dem Abitur ab. Dies spiegelt sich im Erwachsenenalter durch eine prekäre Inklusion bzw. auch Exklusion auf dem Arbeitsmarkt wider. Zu nennen wären außerdem die von Studien nachgewiesene schlechtere gesundheitliche Verfassung sowie die Folgen auf politischer Ebene wie ein geringeres politisches Interesse und Engagement.

Dass circa jedes fünfte Kind in Deutschland von einem gestohlenem Leben betroffen ist, kontrastiert Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Münster und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, im Editorial des Bandes mit der Tatsache, dass Deutschland zweifellos zu den reichsten Ländern der Welt gehört. Angesichts dessen ist es umso erschreckender, dass knapp zwei Millionen Heranwachsende in Armut leben.

Worin also liegen die Ursachen für diesen frappierenden Kontrast? Welche Ansatzpunkte gegen Kinderarmut gibt es und welche werden von der Bundesregierung und bestimmten Kommunen bereits praktiziert? Diesen Fragen geht das Vierteljahresheft in einzelnen Aufsätzen von unterschiedlichen Autoren/​innen nach.

Herausgeber

Der Band „Kinderarmut bekämpfen – Armutskarrieren verhindern“ ist im dritten Quartal 2019 als Vierteljahresheft der Fachzeitschrift „Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit“, die von Prof. Dr. Peter Buttner (Hochschule für Angewandte Wissenschaften München) im Auftrag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. herausgegeben wird, erschienen.

Aufbau und Inhalt

Das Vierteljahresheft untergliedert sich in neun relativ knappe Beiträge.

Gerda Holz erläutert einen kindgerechten Armutsbegriff und skizziert die Folgen für die betroffenen Heranwachsenden. Sie sind von materiellem und sozialen Ausschluss bedroht, haben häufiger eine prekäre Bildungsbiographie und leiden unter einer schlechteren Gesundheit. „Armut“, so folgert Holz, „ist ein kumulierendes Risiko für die kindliche Entwicklung und die Zukunftschancen“ (S. 9), weswegen eine Neuorientierung auf eine kindbezogene Armutsprävention nötig sei.

Dass kinderreiche sowie alleinerziehende Familien ein erhöhtes Armutsrisiko haben, ist statistisch eindeutig belegt. Prof. Dr. Anne Lenze weist in ihrem Beitrag nach, dass bei der Ursachenforschung häufig die hohe Sozialversicherungsabgabenlast übersehen wird. So hat die OECD nachgewiesen, dass höhere Einkommen aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze weniger Steuern und Abgaben zahlen müssen als geringverdienende Alleinerziehende (S. 24). Dabei liegt Deutschland im europäischen Vergleich mit an der Spitze: Während Alleinerziehende in Höhe von 18 Prozent ihres Bruttoeinkommens belastet werden, beträgt die Belastung in den Niederlanden 2,4 Prozent. In Staaten wie Großbritannien, der Schweiz und Luxemburg erfolgt keinerlei Besteuerung, vielmehr erhalten sie durch staatliche Transferzahlungen sogar ein Einkommensplus (S. 25). Angesichts dieser Ergebnisse plädiert Lenze unter andere, für eine „Sondersteuer für Menschen […], die gegenwärtig keine Unterhaltungspflichten für Kinder tragen“ (S. 29). Neben einer Kindergrundsicherung muss perspektivisch im Interesse von armutsfesten Löhnen der deutsche Niedriglohnsektor zur Diskussion gestellt werden (S. 30).

In den Medien wird immer wieder der Verdacht geäußert, dass sozial benachteiligten Eltern die staatlichen Geldleistungen für Kinder zweckentfremden. Davon scheint auch das 2011 eingeführte „Bildungs- und Teilhabepaket“ (BuT) auszugehen, da nur Förderungen in Form von Sach- und Dienstleistungen gewährt werden. Hanne Albig, Lukas Riedler, Dr. Holger Stichnoth stellen angesichts dessen eine neue Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) vor, die diese Sorge widerlegt. Dieser Befund ist auch für aktuelle Diskussionen um die Kindergrundsicherung relevant: Dass keine Hinweise auf einen massenhaften Missbrauch der Leistungen für den Konsum von Tabak, Alkohol etc. gefunden werden konnten, erübrigt sich dieses Argument gegen eine Ausweitung der Geldtransfers für von Armut betroffene Familien (S. 33). Zudem stellt sich die Frage, ob die hohen Verwaltungskosten von 20–30 Prozent der Gesamtausgaben für das BuT angesichts dieser Ergebnisse weiterhin zu rechtfertig sind (S. 37).

Prof. Dr. Raimund Geene zeigt in seinem Beitrag auf, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinder- und Familienarmut wie das 2007 eingeführte Elterngeld und das BuT diese sogar verfestigen und verstärken können. Das Elterngeld wird seit 2011 – wie auch das Kindergeld – auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, sodass es für diesen Personenkreis faktisch gestrichen ist. Angehörige der Mittelschicht hingegen werden durch die Reform bessergestellt, sodass sich das Elterngeld auch als „bevölkerungspolitisch[e]“ (S. 42) Maßnahme kennzeichnen lässt. Geene konstatiert demzufolge, dass dem Elterngeld zwar eine präventive Wirkung gegen Armut zugesprochen werden kann, die bestehende wird jedoch sogar verschärft. Ähnlich stellt es sich bezüglich des BuTs dar, was eine im Landkreis Stendal durchgeführte Studie bestätigt: So wurde die zuvor pauschal von der Stadt gewährte Subventionierung der Mahlzeiten in Kitas und Schulen eingestellt, da dem BuT zufolge lediglich individuelle Förderungen möglich sind (S. 44). Außerdem führt die Verortung im Sozialgesetzbuch II (SGB II) dazu, dass Aufstocker/​innen und andere Leistungsempfänger/innen eine Rückzahlungsaufforderung bei höherem Einkommen befürchten und deswegen ihre Bemühungen um ein höheres Einkommen bzw. einen Arbeitsplatz abschwächen (S. 45). Insofern „bürokratisiert“ das BuT und „schafft nicht intendierte Anreize“ (S. 49). Angesichts dieser „Regulierungs- und Normierungsaspekten“ (S. 50) des Elterngeldes sowie des BuTs votiert auch Geene für eine Kindergrundsicherung, die „stigmatisierungsfrei pauschal“ (S. 50) ausgezahlt werden müsste.

Welche Konzepte für eine solche Kindergrundsicherung vorliegen, erläutert Dr. Romy Ahner. Unabhängig von den konkreten Vorschlägen besteht die Grundidee darin, dass sie alle bisherigen Leistungen zu einer einheitlichen zusammenführt und eine „eigenständige finanzielle Absicherung von Kindern“ (S. 57) gewährleistet, die den Heranwachsenden das sächliche und soziokulturelle Existenzminimum sicherstellt, sie aus dem System des SGB II herauslöst und die „Anspruchsinhaberschaft“ (S. 57) ausschließlich bei den Kindern verortet. Zwar verbinden sich mit dem Vorschlag der Kindergrundsicherung einige offene Fragen wie die der Finanzierbarkeit und der Gewährleistung der Unterkunftskosten (S. 59), dennoch plädiert Ahner für die Realisierung, „um zum notwendigen konsistenten Gesamtkonzept für Kinder und Familien zu kommen“ (S. 61).

Der Leiter des Referats „Monitoring familienbezogener Leistungen, Wohlergehen von Familien“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Jörg Plewka, schildert das Thema „Kinderarmut“ aus Sicht der Bundesregierung. Unter anderem wendet er sich gegen das Konzept einer Kindergrundsicherung, da die Annahme einer dadurch erfolgenden Entkopplung zwischen den Entwicklungschancen der Kinder und dem sozialen Status ihrer Eltern „trügerisch“ sei und „nur Symptome“ (S. 65) behandelt werden würden, statt die Prävention in den Mittelpunkt zu rücken. Ohnehin müsse der Begriff der „Kinderarmut“ durch denjenigen der „Familienarmut“ ersetzt (S. 65 und S. 66) und eine Verengung auf die materielle Dimension der Armut aufgehoben werden (S. 64, S. 65, S. 66). Abschließend wird erläutert, wie die Strategien der Bundesregierung – „Erwerbstätigkeit von Eltern stärken“, „Familien finanziell unterstützen“, „Bildung und Teilhabe sichern“ sowie „Zugang zu Familienleistungen“ (S. 68 ff.) – erfolgreich umgesetzt werden.

„Armutssensibles Denken und Handeln von Fachkräften“ (S. 76) in der Kinder- und Jugendhilfe und im Jobcenter ist Prof. Dr. Jörg Fischer zufolge notwendig, um mit dem Phänomen der Armut adäquat umzugehen. Drei fachliche Herausforderungen ergeben sich: Erkannt werden muss, welche Bedingungen struktureller Natur sind und insofern von den Fachkräften selbst bei hohem Engagement nicht verändert werden können (S. 77). Demgegenüber existieren zahlreiche Einflussmöglichkeiten, die die Betroffenheit durch Armut abmildern können, indem zum Beispiel über mögliche Leistungen umfassend beraten und Scham vor ihrer Inanspruchnahme abgebaut wird (S. 78). Schließlich können Fachkräfte nach Fischer Armut nicht nur lindern, sondern kompensieren oder sogar die Armutsursachen beseitigen. Abschließend werden vier Anforderungen an armutssensibles Wahrnehmen und Handeln herausgearbeitet (vgl. 83 ff.).

Reiner Prölß und Thomas Rinklake stellen die neun Handlungsfelder des „Nürnberger Arbeitsprogramm gegen Kinder- und Jugendarbeit“ stichpunktartig vor. Den Autoren zufolge versucht dieses, „den kommunalen Handlungsspielraum zur Prävention und Bekämpfung von Armut zu systematisieren und auszuschöpfen“ (S. 86) – angesichts dessen, dass die Kommune hinsichtlich der Armutsursachen nur einen geringen, in Bezug auf die Bekämpfung der Folgen jedoch einen „großen Spielraum“ (S. 87) hat. Das Konzept der Stadt Bochum erläutert Dolf Mehring. Im Mittelpunkt steht hierbei ein präventives, am Sozialraum orientiertes Handeln. Der Fokus auf Prävention ist zwar vom Standpunkt der Individuen sowie der langfristigen Sicht auf den Haushalt angebracht, schlägt sich jedoch nicht unmittelbar positiv in den Finanzen nieder und muss sich deswegen häufig der reinen Betrachtung unter Kostengesichtspunkten erwehren (S. 92).

Diskussion

Wie in jedem Sammelband sind auch die Beiträge in der vorliegenden Vierteljahreszeitschrift von unterschiedlicher Qualität. Bedauerlich ist, dass sie sich nicht aufeinander beziehen, da beispielsweise zum Thema „Kindergrundsicherung“ theoretisch fruchtbare Diskussionen zu erwarten wären. So positioniert sich Plewka gegen eine solche Maßnahme, während alle anderen Autoren/​innen, die die Kindergrundsicherung thematisieren, sich deutlich dafür aussprechen.

Vor allem jedoch die Beiträge, die sich mit den problematischen Aspekten der Abgabenlast durch Sozialversicherungen, den unberechtigten Vorurteilen gegenüber sozial benachteiligten Erwachsenen sowie den negativen Konsequenzen der Anrechnung des Elterngeldes und des Buts beschäftigen, sind äußerst lesenswert. Hervorzuheben sind auch die unterschiedlichen Blickwinkel auf Kinderarmut, da Autoren/​innen aus der Wissenschaft, des BMFSFJ und der kommunalen Praxis zu Wort kommen.

Fazit

Insgesamt kann die Lektüre all denjenigen empfohlen werden, die einen prägnanten Überblick über die aktuelle Forschung und Praxis zum Thema gewinnen möchten.

Rezension von
Prof. Dr. Ina Schildbach
Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der OTH Regensburg
Mailformular

Es gibt 9 Rezensionen von Ina Schildbach.

Zitiervorschlag anzeigen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245