Thomas Klie, Alexander Spermann (Hrsg.): Persönliche Budgets - Aufbruch oder Irrweg?
Rezensiert von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, 22.11.2005
Thomas Klie, Alexander Spermann (Hrsg.): Persönliche Budgets - Aufbruch oder Irrweg? Ein Werkbuch zu Budgets in der Pflege und für Menschen mit Behinderungen. Vincentz Network (Hannover) 2004. 466 Seiten. ISBN 978-3-87870-488-1. 29,80 EUR. CH: 52,10 sFr.
Was sind Persönliche Budgets?
Bei "Persönlichen Budgets" handelt es sich um am individuellen Bedarf orientierte Geldleistungen, die an von Behinderung oder/und Pflegebedürftigkeit betroffene Menschen ausgezahlt werden. Damit sollen Unterstützungs- bzw. Pflegeleistungen direkt bei entsprechenden Anbietern "eingekauft" und bezahlt werden. Damit verbundene Erwartungen sind gegenüber dem herkömmlichen Sachleistungsprinzip die Schaffung von Anreizen für flexiblere und bedarfsgerechtere Angebote, die Erhöhung von Dispositionsspielräumen für den Leistungsberechtigten (mehr "Autonomie" und "Selbstbestimmung"), eine Stärkung ambulanter Hilfen und damit nicht zuletzt: Kostenersparnis für die Leistungsträger.
Sozialpolitisch brisant, praktisch wenig dokumentiert
Die Anzahl von Tagungen, Veranstaltungen und Fortbildungsmaßnahmen zu diesem Thema dürfte in den letzten Jahren mittlerweile die Marke des dreistelligen Bereichs erreicht haben. Auch die Produktion von Konzepten und Grundsatzpapieren meist in Form grauer und halbgrauer Papiere zu Persönlichen Budgets ist nicht mehr überschaubar. Dazu in Kontrast steht - zumindest in Deutschland - der Umstand einer recht zurückhaltenden Umsetzung Persönlicher Budgets in der Praxis sowie der Umstand, dass es bislang keine gleichermaßen inhaltlich tragfähige wie Einblick in praktische Erfahrungen bietende Monographie in Buchform zu diesem Thema gibt. Daran ändert, das sei gleich vorneweg gesagt, auch das im Untertitel als "Werkbuch", in der Einführung gar als "Materialienzusammenstellung" bezeichnete hier zu besprechende Buch nichts.
Zum Einen ist das dem Umstand geschuldet, dass sich die praktischen Erfahrungen noch in Grenzen halten (allerdings liegen auch aus dem europäischen Ausland, wo ja seit längerer Zeit Persönliche Budgets realisiert werden, keine wirklich aussagefähigen Studien vor). Zum Anderen muss gesagt werden, dass die Entwicklung in Deutschland in den letzten Jahren derart im Fluss war, dass z.T. sogar Gesetzestexte schon wieder überarbeitet wurden, bevor sie überhaupt in Kraft traten.
Entstehungshintergrund
Der Band von Thomas Klie bezieht sich vor allem auf zwei Stationen der sozialrechtlichen Verankerung Persönlicher Budgets:
- die sogenannten "trägerübergreifenden Persönlichen Budgets" (nach dem Vorbild des Baden-Württembergischen Modellprojekts) im SGB IX und im speziellen Leistungsrecht der Rehabilitationsträger (2004) sowie der Pflegeversicherung und der Integrationsämter verankert (in Erweiterung der schon seit dem In-Krafttreten des SGB IX geltenden § 17);
- die durch das Pflegeleistungsergänzungsgesetz Anfang 2002 in Kraft gesetzte Experimentierklausel, die die Erprobung sogenannter "personenbezogener Budgets" im Bereich der Pflegeversicherung vorsieht.
Zu Ersteren sind ungefähr zeitgleich zum Erscheinen des Bandes die Bundesmodellprojekte zum trägerübergreifenden Budget angelaufen. Das Modellprojekt in Baden-Württemberg, dessen Konzeption im Wesentlichen das Vorbild für die gesetzlichen Veränderungen im Jahr 2004 abgab, endete im Herbst des Jahres 2005. Die Personenbezogenen Budgets in der Pflegeversicherung werden derzeit ebenfalls in einem bundesweiten Modellprojekt erprobt. Die Begleitforschung obliegt der Evangelische Fachhochschule Freiburg (Arbeitsschwerpunkt Gerontologie und Pflege) und steht unter der Leitung des Herausgebers, Prof. Dr. Thomas Klie.
Aus diesem Kontext kommt auch der vorgelegte Materialienband. Er enthält in der Planungsphase des Projekts entstandene sowie bei dem 3. Freiburger Pflegesymposium vom Sommer 2003 vorgetragene Beiträge. Der Band selbst ist Ende 2004 erschienen. Die Mitte 2004 absehbaren bzw. faktisch eingetretenen rechtlichen Entwicklungen des SGB XII und SGB IX wurden noch berücksichtigt.
Inhalte des Bandes
Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Einer bündig geschriebenen Einleitung (1) von Thomas Klie die in das Buch einführt und die wesentlichen Linien der sozialpolitischen Diskussion um das Persönliche Budget verdeutlicht, folgen (2) eine Reihe von Beiträgen, die sich mit der Diskussionslage, den Konzepten und der Umsetzungen Persönlicher Budgets auf internationaler Ebene befassen.
Daran schließen im dritten Abschnitt des Buches die Beiträge zur Programmatik von Persönliche-Budget-Modellprojekten im Bereich der Behindertenhilfe an:
- der insgesamt eher programmatische Beitrag von Elisabeth Wacker, Gudrun Wansing und Petra Hölscher greift ebenfalls die internationalen Erfahrungen in den Niederlanden, in Großbritannien und in Schweden auf und vergleicht sie mit der deutschen Situation.
- Peter Gitschmann vergleicht die Konzeptionen der deutschen Modellprojekte in Rheinland-Pfalz, Hamburg und Baden-Württemberg.
- Silvia Pold-Krämer stellt die Mitte 2004 absehbaren Modalitäten des sogenannten "trägerübergreifenden Budgets" vor.
Drei weitere Beiträge beschäftigen sich ausführlich mit der Konzeption des "Personenbezogenen Pflegebudgets".
- Thomas Klie stellt die in diesem Zusammenhang wichtigen sozialrechtlichen, sozialpolitischen und pflegewissenschaftlichen Argumente zusammen und diskutiert absehbare positive Effekte, aber auch Gefahren.
- Melanie Artz und Alexander Spermann knüpfen daran mit ihrem Beitrag an. Vor dem Hintergrund einer Darstellung der Probleme der Gesetzlichen Pflegeversicherung (demographische Entwicklung, steigende Kostenentwicklung, Personalnotstand, zeigen sie eine Reihe von Widersprüche und Inkonsequenzen im SGB XI auf. Insgesamt diagnostizieren sie erhebliche Effizienz- und Qualitäts(sicherungs)defizite, die auf die strukturell schwache Position der Pflegebedürftigen als Nachfrager und Konsumenten und die starke Beschneidung der Gestaltungsmöglichkeiten der Anbieter von Pflegeleistungen zurückzuführen sind. Persönliche Budgets können nach Meinung der Autoren in diesem Zusammenhang sowohl positive ökonomische Effekte als auch positive Effekte auf Qualität, Effizienz und Kundenorientierung der Leistungen erbringen. Dies ist allerdings an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden: insbesondere die Bereitstellung eines sorgfältigen Case-Managements im Sinne eines umfassenden Unterstützungsmanagements für Pflegebedürftige und ihre Angehörige, Einbau von Sicherungen gegen Missbrauch sowie die Aktivierung einer adäquaten regionalen Infrastruktur pflegerischer Versorgung.
- Der Beitrag von Hermann Brandenburg schließlich enthält eine Reihe kritischer Anfragen aus pflegewissenschaftlicher Perspektive. Insbesondere wird der in den sozialpolitischen Diskursen um das Persönliche Budget mitunter allzu unreflektierte und undifferenzierte Autonomiebegriff in seiner Anwendbarkeit insbesondere auf die Situation älterer Menschen in Frage gestellt.
Im vierten Abschnitt des Buches werden eine Reihe von "Konzepten in der Praxis" (Pflegebudgets im Rahmen eines Modellprojekts in Frankfurt, Pflegebudgets in München, Projekt PERLE in Dortmund, Persönliches Budget in Rheinland Pfalz und Baden-Württemberg sowie das Modell Persönlicher Assistenz) vorgestellt. Die Mehrheit der Beiträge legt dabei den Akzent auf die Darstellung von Konzeptionen, die Praxis bleibt (sieht man von einem Fallbeispiel und einigen Interviewzitaten in dem Beitrag von Monika Gottschaller über Persönliche Assistenz ab) überwiegend ausgeklammert. Die wenigen Aussagen über die praktische Umsetzung bzw. deren Schwierigkeiten, die sich ansonsten in den Beiträgen finden, waren bereits mit Erscheinen des Buches schon wieder obsolet geworden. Beispielsweise gewann das Baden-Württembergische Projekt bereits kurz nach der oben erwähnten Tagung an Fahrt, so dass die im Band festgehaltene "kritische Phase" wenig später Vergangenheit war (vgl. dazu den mittlerweile erschienenen Abschlussbericht: http://www.sm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/1442/SCHLUSSBERICHT-Internet.pdf ).
Der Materialienteil (Abschnitt 5) enthält dagegen die für Persönliche Budgets nach wie vor gültigen gesetzlichen Grundlagen sowie einige Materialien zu den Pflegebudgets.
Einschätzung und Fazit
Insgesamt realisiert der Band das, was er ankündigt: nämlich ein "Werkbuch" für relativ kurzfristige Informationsbedürfnisse zu sein. Als wirkliches "Buch", müsste man sagen, wäre er nicht besonders sorgfältig gemacht. Ein Teil der Beiträge ist recht lieblos geschrieben - das trifft insbesondere für die Kurzberichte aus dem Ausland zu. Die die Niederlande betreffenden Beiträge enthalten teilweise fehlerhafte Informationen und sind schon deswegen nicht mehr aktuell, weil sich dort derzeit die Frage stellt, ob Persönliche Budgets ab Mitte 2006 infolge einer Veränderung der Zuständigkeiten überhaupt in der bisherigen Form weiter geführt werden können. Die Beiträge zum "trägerübergreifenden Budget" bzw. zum Persönlichen Budget im Rahmen des SGB IX zeichnen sich durch eine erhebliche Praxis- und Realitätsferne aus, wie die mittlerweile veröffentlichten Erfahrungen im Modellprojekt in Baden-Württemberg deutlich zeigen. Insgesamt gilt für alle in dem Band versammelten Beiträge, dass sie sich notgedrungen überwiegend in konzeptionellen Überlegungen und Visionen ergehen. Am meisten profitiert man von den Beiträgen noch an den Stellen, wo die Autoren versuchen das Für und Wider Persönlicher Budgets, mögliche Effekte Persönlicher Budgets und die Notwendigkeit ihrer infrastrukturellen Einbettung systematisch zu entfalten. Die Beiträge insbesondere von Thomas Klie, Melanie Artz, Alexander Spermann und Hermann Brandenburg zeichnen sich dabei durch eine differenzierte, abgewogene kritische Darstellung und Argumentation aus, die einen guten Einblick in die sich grundsätzlich stellenden Probleme im Zusammenhang mit der Implementation Persönlicher Budgets im Bereich der Pflege gibt. Insofern gehen zumindest diese Beiträge über den Charakter eines für kurzfristige Tagesbedürfnisse entworfenen Werkbandes hinaus. Insgesamt zeigt der Band aber eines: mit der Veröffentlichung von Büchern sollte man in der Tat besser warten, bis die Erfahrungsbasis groß genug ist.
Rezension von
Prof. Dr. Jörg Michael Kastl
Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik. Arbeitsgebiete: Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung, Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen (Persönliches Budget, IFD); Berufs- und Professionssoziologie; Sozialrecht und Sozialpolitik (spez. Rehabilitation); Sozialisationsforschung und allgemeine Soziologie
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Es gibt 14 Rezensionen von Jörg Michael Kastl.
Zitiervorschlag
Jörg Michael Kastl. Rezension vom 22.11.2005 zu:
Thomas Klie, Alexander Spermann (Hrsg.): Persönliche Budgets - Aufbruch oder Irrweg? Ein Werkbuch zu Budgets in der Pflege und für Menschen mit Behinderungen. Vincentz Network
(Hannover) 2004.
ISBN 978-3-87870-488-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2617.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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