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Michael Klundt: Gestohlenes Leben

Rezensiert von , 27.11.2019

Cover Michael Klundt: Gestohlenes Leben ISBN 978-3-89438-696-2

Michael Klundt: Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland. PapyRossa Verlag (Köln) 2019. 197 Seiten. ISBN 978-3-89438-696-2. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.
Reihe: Neue kleine Bibliothek - 268.

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Thema

Die Schere zwischen den Haushaltseinkommen der Familien in Deutschland ging in den letzten zehn Jahren noch weiter auseinander, wie jüngst eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom August 2019 belegte. Während eine durchschnittliche Familie rund 600 Euro im Monat für ein Kind ausgibt, sind es bei den ärmsten zehn Prozent der Paarhaushalte lediglich 364 Euro, bei den reichsten zehn Prozent hingegen 1.200. Wenig überraschend ist, dass dies Folgen für den Bildungserfolg, die Gesundheit und die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben hat.

Michael Klundt geht diesem Phänomen in seinem Buch „Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland“ systematisch auf den Grund: Welche Auswirkungen hat materielle Deprivation für die Heranwachsenden? Wie verzehrt der öffentliche Diskurs die Tatsache der Kinderarmut in Deutschland? Und schließlich: Worin liegt sie – jenseits aller Anlässe, auf die sich große Teile der Armutsforschung kaprizieren – tatsächlich begründet?

Autor

Dr. Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Aufbau und Inhalt

Nach der knappen Einleitung, in der der Autor die Struktur seines Buches skizziert, befasst sich das erste Kapitel mit „Umfang, Strukturen und Erscheinungsformen“ der Kinderarmut. Klundts leitende These besteht hierbei darin, darzulegen, „warum und wie Armut als Kinderrechtsverletzung und durch die herrschende Politik mit zu verantwortende Kindeswohlgefährdung zu verstehen ist“ (S. 10). Dabei nimmt der Autor auch eine globale Perspektive ein und erläutert unter Berufung auf den ehemaligen UN-Beauftragten für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, inwiefern die Statistiken zu Sterblichkeitsraten, Hunger und anderen politisch zu vermeidende Phänomene einen „Völkermord“ (S. 15) darstellen, der dennoch das „Business as usual“ (ebd.) nicht unterbricht.

Vor dem Hintergrund der „Euro-Krise“ gibt der Verfasser außerdem einen kurzen Überblick über Armut im Kontext der Europäischen Union, da – siehe unter anderem der öffentliche Diskurs über „die Griechen“ in der letzten Krise – „oft kaum noch Interesse an der sozialen Lage anderer Völker und Nationen besteht“ (S. 8). Dabei ist es Klundt zufolge besonders verheerend, dass zahlreiche Politiker die Sozialstaatsreformen der letzten Jahrzehnte in Deutschland als Erfolgsmodell für die anderen Staaten propagieren – „mit entsprechenden Folgen auch für Kinder“ (S. 21). In Deutschland lebt inzwischen jedes fünfte Kind in Armut, wobei vor allem Heranwachsende in alleinerziehenden und kinderreichen Familien besonders betroffen sind (S. 22).

Im zweiten Kapitel erläutert Klundt „Folgen und Auswirkungen“ der materiellen Deprivation von Kindern auf sämtliche Bereiche des Lebens sowie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. So sind beispielsweise eine höhere postnatale Säuglingssterblichkeit, größere Gesundheitsrisiken und geringere Bildungschancen für Heranwachsende aus den sozial benachteiligten Schichten statistisch belegt. In diesem Kontext verweist der Autor auf eine „Krise der Repräsentanz“ (S. 65): In einer Begleitstudie zum 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde nachgewiesen, dass die Wahlbeteiligung der sozial prekären Klassen geringer ist und eine politische Entscheidung dann mehr Chancen auf Umsetzung hat, wenn sie von den Besserverdienenden unterstützt wird. Insofern werden Arme nicht nur ihrer individuellen Lebenschancen beraubt, sondern sie sind auch politisch unterrepräsentiert (S. 65 f.). Es besteht also die Gefahr, dass sich armutsgefährdete Kinder auch als Erwachsene „aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln“ (S. 83).

Der Nachvollzug der „Debatten und Diskurse über extreme soziale Ungleichheit und (Kinder)-Armut“ im dritten Kapitel des Bandes zeigt, wie „politische, mediale und wissenschaftliche Beiträge und Debatten soziale Ungleichheiten mittels demografisierender und biologisierender Kategorien verzerren und auf diese Weise, statt zur Bekämpfung der Armut beizutragen, eher die Bekämpfung von Armen und Minderheiten betreiben“ (S. 85). Der Diskurs um die immer älter werdende Gesellschaft bzw. den „demographischen Wandel“ stellt ein Beispiel für eine solche Verwandlung dar: Was wie eine Art Sachzwang, der sich aus den Naturgesetzten ergibt, dargestellt wird, stellt tatsächlich eine politökonomische Frage dar. So ist es schließlich der Staat, der mit seinem Recht darüber entscheidet, wie die Sozialabgaben und das Rentensystem organisiert werden. Gerade eine kritische Sozialwissenschaft müsste Klundt zufolge dieser „Entpolitisierung der politischen Konfliktfelder“ (S. 102) durch eine Art sachzwanghafte Naturalisierung offenlegen und kritisieren.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den „Ursachen statt Anlässe“ für Kinderarmut und beleuchtet zunächst kritisch die gängige Kinderarmuts-Forschung: Viele Studien würden gesellschaftspolitische Zusammenhänge und Ursachen von vornherein ausblenden oder faktisch lediglich auslösende Faktoren benennen, anstatt den Gründen für materielle Deprivation tatsächlich auf den Grund zu gehen. So werden individuelle Lebensumstände wie Scheidung, Kinderreichtum, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit als Ursachen genannt, die tatsächlich Armut bereits unterstellen – wie ließe es sich sonst erklären, dass beispielsweise eine kinderreiche Familie keineswegs automatisch Ausschluss bedeutet?

Dieser Diagnose entsprechend verortet Klundt die Ursachen der Kinderarmut vielmehr in den zugrundeliegenden wirtschafts- und sozialpolitischen Strukturen, die in den letzten Jahrzehnten durch unterschiedliche Regierungen systematisch zuungunsten der sozial schwächeren Schichten verändert wurden. Für ihn sind deswegen „Regierungsmaßnahmen“ (S. 136) wie die Reform der Alters- und Krankenversicherung, die „Agenda 2010“ und in diesem Kontext verstärkend der Abzug des Kinder- und Elterngeldes von den „Hartz IV“-Zahlungen die eigentlichen Gründe der Armut. Insofern, so resümiert der Autor, „sind die sozialpolarisierenden Folgen gar keine versehentlichen Auswirkungen oder Kollateralschäden, sondern Konsequenzen des neoliberalen Projektes,Ungleichheit` mit einem breiten Niedriglohnsektor und der Prekarisierung der Arbeit“ (S. 142).

Mit möglichen „Gegenmaßnahmen und Alternativen“ beschäftigt sich das fünfte Kapitel. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag von 2018 erstmals beschlossen, dass Kinderarmut mit einem Maßnahmenpaket bekämpft werden soll. Der Verfasser sieht dabei jedoch den grundsätzlichen Mangel, dass dabei gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen nicht in den Blick genommen werden. Stattdessen bediene sich die Bundesregierung der bisherigen Instrumentarien wie Kindergeld, Kinderzuschlag sowie Bildungs- und Teilhabepaket, die auch bislang nichts Wesentliches an der Situation armer Kinder verändert haben.

Klundt zufolge kann eine Trendwende nur dann erreicht werden, wenn sich alle Ebenen des Staates für dieses Ziel einsetzen. Dabei sei es jedoch nicht ausreichend, Kommunen, die Länder und den Bund beispielsweise durch sogenannte „Armutschecks“, die alle politischen Beschlüsse auf ihre Folgen für von Armut betroffene Kinder und Familien überprüfen, in die Pflicht zu nehmen. Vielmehr fordert der Autor, sich nicht auf familienpolitische Maßnahmen zu begrenzen: So bedarf es neben des Ausbaus der Kinderbetreuungseinrichtungen und des Kinderzuschlags auch der Reformen „in den Bereichen Rente, Gesundheit, Pflege, Bildung“ (S. 175). Des Weiteren nennt er eine Arbeitszeitverkürzung sowie eine Anhebung des Mindestlohns zur mittelbaren Bekämpfung der Kinderarmut.

Im Fazit bekräftigt Klundt seine Einstufung von Kinderarmut „im reichen Deutschland als Kinderrechtsverletzung und – politisch herbeigeführte – Kindeswohlgefährdung“ (S. 178). Eindringlich verdeutlicht er nochmals den praktischen Anspruch seines Buches, das sich nicht auf eine Analyse der Gegebenheiten beschränken möchte: Die Herausforderung bestünde darin, „gemeinsam für Alternativen zu werben und eine Gegen-Macht aufzubauen gegen diejenigen, die von Benachteiligung und Unterdrückung nicht nur profitieren, sondern Benachteiligte und Unterdrückte auch noch ihrer Menschenwürde berauben“ (S. 179).

Diskussion und Fazit

Michael Klundts Analyse der Kinderarmut in Deutschland hebt sich in mehrfacher Hinsicht positiv von anderen Büchern zum Thema ab. Der Autor hat kein rein wissenschaftliches Buch vorgelegt, das Armut zwar vielleicht als Missstand konstatiert, sich in der Bewertung ansonsten jedoch zurückhält. Vielmehr stellt „Gestohlenes Leben“ eine engagierte Streitschrift dar, die angesichts des Unrechts Kinderarmut für eine radikal veränderte Politik plädiert. Insofern schreibt hier zwar ein Wissenschaftler, der dem Leser durch seine fundierte Analyse – unter anderem der medialen und politischen Diskurse – viele neue Materialien und Erkenntnisse liefert. Zugleich möchte er sich jedoch nicht auf die ansonsten so häufig gepflegte (vermeintliche) Werturteilsfreiheit der Wissenschaft zurückziehen, sondern beanspruch vielmehr politische Konsequenzen, die aus der Erklärung des Phänomens zu ziehen wären.

Dennoch beinhaltet die Argumentation einige Schwachstellen, wobei meines Erachtens vor allem zwei Punkte diskutiert werden müssten. Erstens scheint das Verhältnis von Wachstum und Armut widersprüchlich bestimmt. Der Autor zitiert Karl Marx mit der Erkenntnis, dass in diesem System Wachstums des Kapitalreichtums zugleich Zunahme von Armut und Arbeit auf der anderen Seite bedeutet. Dennoch hält er es an einigen Stellen als Widerspruch fest, dass selbst Zeiten des Wirtschaftsbooms nicht zur Reduktion der Armut geführt hätten (u.a. S. 31). Meines Erachtens steht eine kritische Sozialwissenschaft vor der Aufgabe, ebendieses scheinbar widersprüchliche Verhältnis aufzuklären; schließlich beziehen sich viele Hoffnungen zur Verbesserung der Lage der soziale Schwachen auf ein starkes Wirtschaftswachstum, das dem Staat die (größere) Möglichkeit der Umverteilung einräumt.

Außerdem ist es zwar einerseits zu begrüßen, dass Klundt eindringlich auf den Unterschied zwischen Anlässen und Ursachen für Armut beharrt: Faktoren wie Scheidung und Arbeitslosigkeit stellen lediglich auslösende Momente dar, unterstellen letztlich also bereits die prekäre Situation, die vorgeblich begründet wird. Umso frappierender ist jedoch, dass er selbst letztlich keine Ursachen benennt, sondern vielmehr Reformen und Maßnahmen auf unterschiedlichen Politikfeldern aufführt, die zwar eine Verschärfung bzw. ein Anwachsen der Armut, nicht jedoch ihr prinzipielles Vorhandensein (auch vor den Reformen) erklären können.

Trotz dieser Diskussionspunkte kann die Lektüre dieses Buches uneingeschränkt empfohlen werden: Hier denkt und schreibt ein Wissenschaftler, der sich mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt nicht einfach abfinden möchte.

Rezension von

Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der OTH Regensburg
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Es gibt 9 Rezensionen von .

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ISSN 2190-9245