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Hans-Peter Heekerens: 100 Jahre Erlebnispädagogik

Rezensiert von Monika Pietsch, 10.03.2020

Cover Hans-Peter Heekerens: 100 Jahre Erlebnispädagogik ISBN 978-3-947502-85-1

Hans-Peter Heekerens: 100 Jahre Erlebnispädagogik. Rück-, Rund- und Ausblicke. ZKS-Verlag für psychosoziale Medien (Höchberg) 2019. 264 Seiten. ISBN 978-3-947502-85-1. D: 22,80 EUR, A: 23,50 EUR, CH: 25,99 sFr.

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Thema

Heekerens beschreibt in 8 Buchteilen die Erlebnispädagogik. Er legt das Geburtsjahr auf 1919 fest als Kurt Hahn über professionelles Handeln in der Pädagogik nachdachte.

AutorIn oder HerausgeberIn

Hans- Peter Heekerens, Prof. i.R. Für Soziale Arbeit/​Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München. Er publiziert das Buch Verlag für psychosoziale Medien, damit die beschriebenen Erkenntnisse einer großen Leserschaft finanziell ermöglicht werden.

Entstehungshintergrund

Das Buch entstand als persönliche Schrift nachdem Heekerens 2019 in den Ruhestand ging. Er erörtert hier Themen und Bereiche, die ihm seit seinem Beginn in der Erlebnispädagogik 1986 wichtig sind, insbesondere die der Wirksamkeitsforschung.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in 8 Kapitel zu 4 Paaren: „Wie es anfing“ und „Ideen für die Zukunft“ bilden den persönlichen den Rahmen. Ein weiteres Paar bildet die Wirksamkeitsforschung: „Langfristige Effekte von Erlebnispädagogik für 'gefährdete' Jugendliche und Heranwachsende: ein Rapid Review“ und „Wirksamkeitsforschung zur Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum: ein Scoping Review“. Das 3. Paar bildet der historische Hintergrund der Erlebnispädagogik: „Die Erlebnispädagogik im Kontext der deutschen Reformpädagogik“ und „Kurt Hahn reconsidered“.

Alle Buchteile stehen für sich allein und können in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden. Verweise auf andere Kapitel sind markiert. Zu jedem Kapitel gibt es ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

Inhalt

Einleitung - Wie es anfing

Heekerens erzählt von seinen persönlichen Anfängen in der Erlebnispädagogik. Beginnend mit Zeltlagern und persönlichen Reisen, die Ende der 60er Jahre ein Abenteuer waren, ob getrampt oder per Bus und Bahn in Europa und Asien. Heekerens hatte dann die Gelegenheit an einer Fortbildungswoche der Aktionspädagogik teilnehmen und bot daraufhin ein Seminar in der Hochschule an: Gruppenarbeit nach erlebnispädagogischer Methodik für Erstsemester.

Entwickelt wurde das Seminar als „Münchner Modell“ auf den Grundlagen von Kurt Hahn: Expedition, körperliche Übung, Projekt, der Dienst am Nächsten (fand in der Hochschule nicht statt). Dazu kamen einige Maxime, z.B. Verantwortung übertragen (z.B. Zeltwache), Handwerklichkeit fördern (z.B. Feuer entfachen), Ressourcen nutzen (z.B. kochen), Stärken stärken (z.B. sich eigener Stärken bewusst werden und sie einsetzen), den Einzelnen und die Gemeinschaft achten, Identität sichern (Sozialarbeiter/-pädagogen in ihrer professionellen Identität stärken und keine „neue“ Profession herausbilden.

Die Moderne Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum verortet Heekerens im Jahr 1986; er spricht von einer doppelten De- Institutionalisierung: M. Jagenlauf und H. Winter gründen die „Gesellschaft zur Förderung der Erlebnispädagogik“ und J. Ziegenspecks Zeitschrift Segeln und Sozialpädagogik erhält den Untertitel „Zeitschrift für Erlebnispädagogik“. Im Weiteren bestehen zwei erlebnispädagogische Linien im deutschsprachigen Raum: OUTWARD BOUND als erklärte Bewahrer der Hahn'schen Grundsätze und Anbieter, die eigene Grundlagen entwickelten.

Erlebnispädagogik bezeichnet für Heekerens:

  • die absichtsvolle Nutzung von Erfahrungen mit Erlebnischarakter
  • Angebote von Professionellen der pädagogischen und psychosozialen Arbeit
  • oft in der Natur durchgeführt
  • Klienten werden in leibhaftiger Weise auf affektiver, kognitiver und Verhaltensebene angesprochen

Die Erlebnispädagogik im Kontext der deutschen Reformpädagogik

Dieses Kapitel umfasst einerseits die geschichtliche Entwicklung und die verschiedenen Strömungen der Erlebnispädagogik. Sie wird verbunden mit den Namen Hellmut Becker, Georg Picht und Minna Specht (Landerziehungsbewegung), Hermann Röhrs (Erziehungswissenschaft), Carl Friedrich von Weizäcker (Philosoph, Physiker und Friedensforscher) u.v.m. Und sie wird in Bezug gesetzt zu verschiedenen Personen in unterschiedlichen Epochen und Blickwinkeln, u.a.:

  • Jörg Ziegenspeck, der in den 80er Jahren nach dem Rechtsstreit mit der DGfEE (Deutsche Gesellschaft für Europäische Erziehung) eine Erweiterung der Erlebnispädagogik in den künstlerischen Bereich vornimmt.
  • Waltraut Neubert (auch Aloys Fischer), die 1925 in einer Schrift das Erlebnis ausschließlich im Zusammenhang mit Schule und Unterricht nannte.
  • Herman Nohl, der die Erlebnispädagogik als Grundlage aller Reformbewegungen in Deutschland bezeichnet, einer Verbindung des Lernstoffs mit dem aktuellen Leben des Lernenden.

Gleichzeitig wird eine Schärfung zwischen Erfahrung und Erlebnis versucht. Erlebnis wird dabei als ein gefühlsbetonter Vorgang verstanden, der in sich selbst ruht und in Erinnerung bleibt. Bei der Erfahrung steht die Sache und nicht der Mensch im Vordergrund, etwas woraus man lernt.

Der Begriff der Erlebnispädagogik scheint durch Rolf Mantler, dem Kurzschulleiter bei OUTWARD BOUND Baad, in Umlauf gekommen zu sein. Mitte der 80er Jahre taucht er über Ziegenspeck im norddeutschen Raum wieder auf. Vorher wurde von Erlebnistherapie, Hahn‘schen Modell, OUTWARD BOUND oder dem Kurzschulkonzept gesprochen.

Kurt Hahn reconsidered

Die Würdigung von Kurt Hahn muss verschiedene Aspekte vereinen. Die Person Hahn -hier als Begründer der Erlebnispädagogik- hat viele Facetten. Als Politiker oder politischer Berater Max von Badens beschreibt Heekerens historische Auswirkungen. Als Pädagoge, der die Erlebnistherapie (als im medizinischen Sinn betrachtete Bekämpfung gegen die Unbilden der Gesellschaft) hervorbrachte und das Internat Schloß Salem gründete. Dem Thema Sexualität wird im Kapitel ein großer Stellenwert beigemessen. Heekerens zitiert eine Heimleiterbesprechung 1928, in der als zentrales Problem der Erziehung der plötzlich durchbrechende Geschlechtstrieb besprochen wird. Heekerens schlussfolgert, die Bekämpfung dessen sei das zentrale Ziel der Hahn‘schen Pädagogik.

Langfristige Effekte von Erlebnispädagogik für „gefährdete“ Jugendliche und Heranwachsende: ein Rapid Review

Dieses Kapitel befasst sich mit den langfristigen Effekten der EP und ihren Untersuchungen im angelsächsischen Raum. Heekerens stellt zunächst verschiedene Typen der Evidenzsynthese vor: Narrative Übersichtsarbeit, Box- Score- Approach, Metaanalyse, Systematische Review, Cochrane Review, Rapid Review. Letzteres wurde zum Thema Erlebnispädagogik durchgeführt. Heekerens führt in einer Diskussion aus, dass es keine belastbare Antwort auf die Frage nach langfristigen positiven Effekten gibt.

Wirksamkeitsforschung zur Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum: ein Scoping Review

Der Untersuchungsgegenstand im deutschsprachigen Raum ist die Erlebnispädagogik, die folgende Merkmale aufweist:

  • absichtsvolle Nutzung von Erfahrungen mit Erlebnischarakter
  • angeboten von Professionellen der (sozial-) pädagogischen und psychosozialen Arbeit
  • oft in der Natur durchgeführt
  • Klienten auf affektiver, kognitiver und Verhaltensebene ansprechend.

Heekerens beschreibt mögliche ausgewählte Wirksamkeitsstudien für eine Evidenzsynthese und analysiert die Vergleichbarkeit kritisch. Er stellt einen gemeinsamen Nenner, die Vergleichbarkeit der Angebote und Rahmenbedingungen der ausgewählten Treatments in Frage, ebenso wie die zwingend notwendigen Rahmenbedingungen, die Vergleichsgruppe oder den messbaren Erfolg.

Risiko und Gefahr: ein Unterschied, der einen Unterschied macht

1989 rückte das Thema „Risiko“ in den Fokus. Die Grundlage legte Ulrich Beck 1986 mit dem Buch „Risikogesellschaft“. Niklas Luhmann schlug 1989 die Unterscheidung von „Risiko“ und „Gefahr“ vor. Heekerens befasst sich in diesem Buchteil mit Wortpaaren, vermeintlichen oder realen Gegensätzen oder -ergänzungen:

  • Risiko und Gefahr, eine notwendige Unterscheidung begründet er nach Luhmann (die Sozialdimension: drohen etwaige Schäden dem Selbst, so handelt es sich um Risiken, drohen sie anderen, sind es Gefahren; die Zeitdimension: Risiken geht man JETZT ein, Gefahren drohen NACHHER).
  • Entscheider und Betroffene, in vielen Beispielen jenseits der Erlebnispädagogik werden Unterschiede und Kausalitäten aufgezeigt.
  • Entscheidung und Verantwortung: Geht man davon aus, dass eine Entscheidung getroffen werden muss, so muss auch die Verantwortung dafür übernommen werden. Hier zeigt sich die Erlebnispädagogik zunehmend als „Parkplatz- Pädagogik“ ohne Erlebnisdichte um versicherungstechnisch leicht abgesichert zu sein.
  • Weitere Unterabschnitte sind: „Unglück wird zu Unrecht“ und „Zurechenbarkeit und Kausalitäten“

Risiko und Wagnis: zwei Seiten einer Medaille

Neben der Risiken und Wagnisse geht es um die Sicherheit. Oftmals wird sie als Gegensatz zu ersterem genannt. Sicherheit, so wird ausgeführt, hat auch Nachteile, wenn sie nämlich einschränkt und mutiges Wagen nicht ermöglicht. Kurt Hahn hat diesen Aspekt in seiner Erlebnistherapie als Methode eingesetzt. Im Weiteren werden die Begriffe: Herausforderung, Abenteuer, Thrill und Action voneinander getrennt und kritisch betrachtet.

Ideen für die Zukunft

Heekerens zeigt zum Abschluss einige Aspekte auf, die zu bearbeiten wären oder die sowohl einen gesellschaftlichen als auch fachlichen Diskus benötigen:

  • Erlebnispädagogik als eigene Disziplin in der Sozialpädagogik oder als Fachsozialpädagogik?
  • Erlebnispädagogik in der Ganztagsschule (als pädagogisches Arbeitsfeld, das sich gerade ausweitet). Doch wer stellt ein; wer bezahlt; wie können Erlebnispädagogen in Schule eingebettet sein?
  • Erlebnispädagogik in Funktionssystemen z.B. Schule, aber auch Therapie, Erholung, Entwicklung; hier gilt es die Wirkungsweisen weiter zu erforschen.
  • Ein Prozessmodell, deren Entwicklung Forschung braucht und weitere nach sich ziehen wird.
  • Erlebnispädagogik als Antwort auf: mangelnde Bewegung, schlechte Ernährung, fehlende Gesundheitserziehung, Unterschiede in den Bildungsschichten?
  • Erlebnistherapie in der Jugendhilfe, als Beispiel in der „Erfahrungsorientierte Therapy/ETO“, die unter bestimmten Voraussetzungen von der Krankenkasse übernommen wird.

Diskussion

Zu den vielen Einführungen in die Erlebnispädagogik und den unzähligen Kapiteln in Diplom-, Master- und Bachalorarbeiten nun dieses Werk: 100 Jahre Erlebnispädagogik. Doch wie überraschend anders, differenziert, kritisch und nachdenklich und zum Nachdenken anregend sind diese Ausführungen.

Die historische Einordnung ist interessant und sehr vielschichtig. Sie ermöglicht ein neues oder anderes Bild auf die Erlebnispädagogik. Entgegen den meisten Beschreibungen wird im geschichtlichen Rückblick z.B. nicht OUTWARD BOUND als seelig-machend in den Mittelpunkt gestellt. Hier findet man bewusst den Fokus auf unabhängigen erlebnispädagogischen Unternehmen gelenkt. Jörg Ziegenspeck wird als innovativer und weitsichtiger Macher der Segelpädagogik herausgestellt und sein Tun gewürdigt. Ebenso das von Michael Jagenlauf und Hartmut Winter mit ihrer „Gesellschaft zur Förderung der Erlebnispädagogik“.

Die Kapitel zur Wirksamkeitsforschung und den Methoden der Evidenzsynthese zeigen auf, wie unterschiedlich z.B. Deutschland und angelsächsische Länder hier verortet sind. Der deutschsprachige Raum hat einiges nach zu holen. Verbindet man das mit der Zukunftsaussicht auf die Erlebnispädagogik liegt hier sicher ein großes Potenzial, um doch einmal selbstverständlicher Bestandteil der (Schul-) Pädagogik zu werden. Und auch die Profession des Erlebnispädagogen könnte damit ihrem Platz in der pädagogischen Landschaft bekommen.

Die Kapitel zur Evidenzsynthese mögen manchen abschrecken. Sie lesen sich sperrig und weit vom Thema entfernt, doch der Ratschlag Heekerens aus der Einleitung: „Langsam kauen wir hartes Brot und Bündner Speck“ machen sie sicher verdaulicher.

Ganz persönlich habe ich mich in vielen Teilen des Buches wiedergefunden. Auch meine berufliche Laufbahn in der Erlebnispädagogik begann Ende der 80er Jahren. Der zunehmende Wandel von „Wagnis“ zu „Sicherheit“/„Versicherungsfragen“, von „abenteuerlichem Tun“ zu „Problemlöseaufgaben“, von 3 bis 5-tägigen Trainings zu Halbtagsveranstaltungen, von „persönlicher Entwicklung“ zu „reibungslosen Ablauf in Schulklasse oder Betrieb“ markieren als Veränderungen auch einen Weg in eine Zukunft der Erlebnispädagogik.

Fazit

Heekerens bietet Denkanstöße in großer Zahl: zur Entstehung, Ausprägung, Entwicklung oder Wirksamkeit der Erlebnispädagogik oder ihrer markanten Schlagworte: Herausforderung, Wagnis, Angst oder Furcht, Sicherheit oder Parkplatzpädagogik. Dabei räumt Heekerens sehr fundiert mit Allgemeinplätzen auf und geht in die Tiefe der Auseinandersetzung mit der Erlebnispädagogik. Sein Stil ist munter plaudernd und dabei spannend. Standpunkte werden erörtert, von verschiedenen Seiten beleuchtet und immer wieder mit Beispielen aus der Geschichte, Literatur und Erlebnispädagogik illustriert. Man darf davon ausgehen, dass die Quellen gut recherchiert sind, die zitierten Angaben stimmen und im Original vorgelegen haben (das ist nicht selbstverständlich). Als Leser wird man in einen kritischen Modus geführt, der zum Nachdenken und Nachlesen anregt. Ob man nun dem Autor zustimmt oder andere Quellen bevorzugen würde – die hier ausgeführten sind schlüssig.

Rezension von
Monika Pietsch
Training und Konstruktives Lernen
selbständige Trainerin und Beraterin, Schwerpunkt: Team- und Führungskompetenzen mit den Methoden des konstruktiven Lernens
Website

Es gibt 60 Rezensionen von Monika Pietsch.

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ISSN 2190-9245