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Jan Lohl: "... und ging ins pralle Leben"

Rezensiert von Prof. Dr. Volker Jörn Walpuski, 12.02.2020

Cover Jan Lohl: "... und ging ins pralle Leben" ISBN 978-3-525-40492-8

Jan Lohl: "... und ging ins pralle Leben". Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. 113 Seiten. ISBN 978-3-525-40492-8. D: 25,00 EUR, A: 26,00 EUR.

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Thema

Die Sozialgeschichte der Supervision in Deutschland nach 1945 mit einem Schwerpunkt auf der Zeit zwischen 1965 und 1980, empirisch erforscht in tiefenhermeneutisch ausgewerteten Interviews.

Autor

Jan Lohl (Jahrgang 1972) ist promovierter Sozialwissenschaftler und Supervisor (DGSv). Im Forschungszeitraum arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut (SFI) Frankfurt am Main und hatte Lehraufträge an unterschiedlichen Hochschulen. Seine Forschungsschwerpunkte dort waren die Psychoanalytische Sozialpsychologie, Psychoanalyse und qualitative Sozialforschung, Rechtsextremismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung sowie Organisationsanalyse und Beratungsforschung. Er hat seit 2002 mehrere Publikationen veröffentlicht, unter anderem auch Ausschnitte aus der hier vorliegenden Monographie. Im Herbst 2019 wurde er für eine Professur an die Katholischen Hochschule Mainz berufen.

Der Band erscheint in der Reihe „Interdisziplinäre Beratungsforschung“, die von Stefan Busse (Hochschule Mittweida, DGSv-Mitglied), Rolf Haubl (Universität Frankfurt am Main, DGSv-Mitglied), Heidi Möller (Universität Kassel, DGSv-Mitglied) und Christiane Schiersmann (Universität Heidelberg) herausgegeben wird. Alle sind ausgewiesene Kapazitäten der Supervisions- und Beratungsforschung. Rolf Haubl hat, als ehemaliger Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, zudem ein Geleitwort geschrieben.

Entstehungshintergrund

Ausgehend von der Methodologie einer subjektorientierten Sozialgeschichtsforschung wird in der Tradition der Oral History durch narrative Interviews die Geschichte der Supervision in Deutschland beforscht. Im Fokus stehen dabei nicht, wie sonst häufig, die Grandseigneurs der Supervision mit Erklärungs- und Deutungsmacht, sondern bewusst anonymisierte Interviews mit praktizierenden Supervisor*innen in Verbindung zum Gegenstand der Supervision: der Arbeitswelt und der Gesellschaft.

Die Studie wurde von der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv) e.V. finanziert und am Sigmund-Freud-Institut (SFI) Frankfurt am Main durchgeführt. Die DGSv unterstützte zudem durch Aufrufe an ihre Mitglieder den Feldzugang und damit die Datenerhebung.

Aufbau

Der Band hat 113 Seiten, davon rund 100 Seiten Text. Etwa das erste Drittel „Einführung“ ist dem Forschungsstand, der Methodologie und der Methode gewidmet. Etwa zwei Drittel stellen die Ergebnisse als „Facetten der Supervisionsgeschichte“ dar, wobei der Schwerpunkt, etwa ein Drittel, auf der Zeit zwischen 1965 und 1970 liegt. Kurze „Schlussbemerkungen“ beenden das Buch. Etwa ein Viertel des Textes besteht aus transkribierten Interviewzitaten.

Inhalt

In der „Einführung“ stellt Jan Lohl akkurat Themenstellung und Forschungsperspektive vor. Sein Erkenntnisinteresse ist „eine Einsicht in das Verhältnis des Entwicklungsprozesses der Supervision zu den historischen Ereignissen und Veränderungen der deutschen Gesellschaft“ (S. 12). Dabei geht es Lohl „nicht primär und nicht ausschließlich um die Erhebung von präzisen ‚Erinnerungen an Ereignisse‘, sondern um die Erhebung der ‚Verarbeitung früherer Erlebnisse und Erfahrungen‘ in der Gegenwart“ (S. 14), also die Bedeutung, die zurückliegenden Ereignissen aus heutiger Sicht subjektiv beigemessen wird.

Den „Forschungsstand“ gibt Lohl knapp unter Nennung der wesentlichen Beiträge wieder und kommt dadurch zu vier Hypothesen, die einen Ausgangspunkt für seine Studie bilden:

  1. „Die vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Supervision sind begriffs-, methoden- und theoriegeschichtliche Literaturstudien“ (S. 17),
  2. „Die Entwicklung der Supervision wird in den vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Supervision aus einer Binnenperspektive heraus historisch kontextualisiert“ (S. 17)
  3. „Die Geschichte der Supervision wird aus einer sozialen Machtposition erzählt“ (S. 17)
  4. „In den vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Supervision überlagert sich ein Interesse an der Bildung einer professionellen Identität mit einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse“ (S. 18)

Ausführlich schildert Lohl seine Rahmentheorie (S. 19–22), die auf Jan Assmanns „kulturelles Gedächtnis“ und dessen Gegenüber, das „kommunikative Gedächtnis“ zurückgreift und damit „Wissensbevollmächtigten der Supervision“ die Gruppe der „Supervisor*innen des Alltag“ gegenüberstellt.

Ebenso ausführlich stellt Lohl sein methodisches Vorgehen und das Sample dar (S. 23–29): Der Studie liegen 30 narrative Interviews auf 1.200 Transkriptseiten mit SupervisorInnen der Geburtsjahrgänge 1934 bis 1948 zugrunde, die tiefenhermeneutisch auswertet wurden. Die drei leitenden Fragestellungen der Auswertung waren dabei „1. Was wird gesagt? 2. Wie wird gesprochen? [3.] Warum wird so gesprochen, wie gesprochen wird?“ (S. 27)

Die „Facetten der Supervisionsgeschichte“ (ab S. 31) gliedert Lohl in eine „Konstitutionsphase“ bis etwa 1965, eine „Aufbruchphase“ bis etwa 1980, die 1980er Jahre und eine anschließende „Konsolidierungsphase“ bis in die 2000er.

In der Beschreibung der „Konstitutionsphase“ (S. 32–44) greift Lohl vor allem auf eine ältere Auflage des Standardwerks von Carl Wolfgang Müller (Wie helfen zum Beruf wurde) zurück, daneben auf Nando Belardis Dissertation „Supervision“ (1992). Lohl kommt zu dem Ergebnis, „dass die frühe Entwicklung der Supervision in der Bundesrepublik verwoben ist mit der gesellschaftlichen, institutionellen und psychischen Bearbeitung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus und von autoritären Erziehungstraditionen“ und bestätigt damit die vorliegende Forschung (Gröning 2013).

Mehr Raum nimmt die „Aufbruchphase“ (S. 44–79) ein, die Supervision unter Rückgriff auf Ulrich Beck (Risikogesellschaft) in den Kontext von Individualisierungsprozessen stellt. Hier sticht vor allem die Aufdeckung von Grenzverletzungen in Ausbildungszusammenhängen heraus. Lohl kommt zu dem Ergebnis (S. 77–79), dass es in dieser Phase um (noch nicht vorhandene) ethische Leitlinien in der Supervisionsausbildung geht, setzt die „Themen Macht und Autorität“ noch in den Zusammenhang der NS-Aufarbeitung und schon der Individualisierung und damit in einen „intragenerationellen Raum“ sowie beschreibt den Einzug der Organisation mit ihren Hierarchien und Dynamiken als Inhalt von Supervision.

Die 1980er-Jahre bleiben in den Interviews „blass“ und können so auch nur kurz (S. 80–86) ausgewertet werden. Für die befragten „Wissensbevollmächtigten“ war in diesem Zeitraum die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv) ein wichtiges Ereignis.

In der abschließenden „Konsolidierungsphase“ (S. 86–102) erarbeitet Lohl die sich unter dem Einfluss des Neoliberalismus verändernden Arbeitswelten in der Perspektive von Supervisor*innen unter Rückgriff auf einschlägige Literatur (Haubl 2011; Hausinger 2008; Bröckling 2007).

Die „Schlussbemerkungen“ (S. 103–106) fassen zusammen, dass die „Phasen der Entwicklung der Supervision eng verwoben sind mit politischen, gesellschaftlichen und arbeitsweltlichen Veränderungen“ (S. 103) und problematisieren noch einmal kurz Grenzverletzungen in der Supervisionsausbildung der 1970er Jahre.

Diskussion

Lohl wertet das ihm zugängliche empirische Material aus, und es ist ein großes Verdienst, diese Generation der SupervisorInnen derart umfänglich befragt zu haben. Die Einordnung in geschichtliche Entwicklungen und gesellschaftliche Kontexte der Bundesrepublik Deutschland ist gut und vor allem notwendig, lässt sich doch Supervision nicht ohne den gesellschaftlichen Kontext denken (Gröning 2013). Damit bestätigt und ergänzt Lohl empirisch und umfangreich die bereits vorliegenden Forschungsarbeiten, im Wesentlichen seien hier Margarete Ringshausen-Krüger (1977) und Nando Belardi (1992) genannt. Dabei entdeckt er, dass das Masternarrativ einer „politischen Supervision“ nicht vollumfänglich, sondern nur für Teile der Supervisor*innen gilt, während andere ihren supervisorischen Schwerpunkt an Fachlichkeit und Methodenlernen ausrichteten.

Durch die Auftraggeberin, den Forscher als Mitglied ebendieser Auftraggeberin und den im Wesentlichen durch sie gewonnenen Feldzugang scheinen jedoch andere Zweige der Supervision ausgeblendet zu sein: Beispielsweise werden „die Psychologen“ im BDP kurz erwähnt, die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie oder Psychoanalytische Verbände mit dem ganz eigenen Supervisionsverständnis des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) hingegen überhaupt nicht.

Als weitere Schwäche erweist sich, dass mit dem Forschungsansatz und dem aus nachvollziehbaren Gründen begrenzten Sample bestimmte Aspekte zwangsläufig unberücksichtigt bleiben müssen, weil es im Sample zum Beispiel keine von der Victor-Gollancz-Stiftung oder der Diakonischen Akademie Stuttgart ausgebildeten SupervisorInnen gegeben zu haben scheint. Ebenso scheinen keine Mitglieder des „Verbands der Praxisberater“ (VdP) – eines frühen Zusammenschlusses von SupervisorInnen, der unerwähnt bleibt – im Sample gewesen zu sein. Schließlich bleibt auch die durchaus vorhandene Supervisionsgeschichte der DDR, beispielsweise im Kontext des Burckhardthauses Gelnhausen/​Ost-Berlin, gänzlich unerwähnt und wird auch nicht – 30 Jahre nach dem Mauerfall – als Forschungsdesiderat benannt.

Die „Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision“ bleiben genau dies: Aus einer Binnenperspektive wird die Sozialgeschichte einer bestimmten Form der Supervision der westlichen Bundesländer geschrieben. Dabei wählt Lohl mit seinem Forschungsansatz einen innovativen Weg, entfernt sich dann aber nicht ausreichend von den Phasenmodellen bereits vorliegender Forschungsarbeiten. Insgesamt entstehen damit Widersprüche zu den anfänglich (S. 17 f.) aufgestellten kritischen Hypothesen, die Lohl leider nicht ganz auflösen kann.

Als neues Forschungsergebnis unbedingt herauszustellen ist die kritische Aufdeckung von Missbrauchsstrukturen in der Supervisionsausbildung, sei es ein Machtmissbrauch und Grenzverletzungen in gruppendynamischen Settings durch die Trainer oder sexuelle Beziehungen zwischen Lehrsupervisoren und -supervisandinnen. Hier wird Forschungsbedarf deutlich. Erfreulich wäre es gewesen, wenn aus dieser Materialfülle expliziter der weitere Forschungsbedarf zu diesen wie anderen Punkten benannt worden wäre.

Insgesamt bietet die Studie mit dem bemerkenswert großen Sample und der damit verbundenen Forschungsleistung vor allem eine Bestätigung der bisherigen Forschungsergebnisse aus subjektiver Perspektive von „Supervisor*innen des Alltags“ und „Wissensbevollmächtigen der Supervision“.

Fazit

Der Band bietet eine kompakte und gut zu lesende Zusammenfassung der Sozialgeschichte der Supervision in sozialarbeiterischer Tradition und ihre Einordnung in gesellschaftliche und arbeitsweltliche Kontexte insbesondere in der Anfangszeit ihrer Einführung in der alten Bundesrepublik Deutschland. Dabei ist die empirische Forschungsleistung herauszustellen. Dies ist vor allem für beratungswissenschaftlich Forschende interessant. Gleichwohl werden mit der Materie Vertraute wenig Neues darin finden.

Literatur

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 3326).

Belardi, Nando (1992): Supervision. Von der Praxisberatung zur Organisationsentwicklung. Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Habil.-Schr., 1992. Paderborn: Junfermann.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1832).

Gröning, Katharina (2013): Supervision. Traditionslinien und Praxis einer reflexiven Institution. Gießen: Psychosozial-Verlag (Therapie & Beratung); vgl. die Rezension https://www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-8379-2232-5.

Haubl, Rolf (2011): »Ich geh kaputt« – »Gehste mit?« Die Psyche in der Leistungsgesellschaft. In: M. Leuzinger-Bohleber, R. Haubl (Hrsg.): Psychoanalyse: interdisziplinär – international – intergenerationell, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 373–393.

Hausinger, Brigitte (2008): Der Nutzen von Supervision. Verzeichnis von Evaluationen und wissenschaftlichen Arbeiten. Kassel: Kassel University Press.

Müller, Carl Wolfgang (2013): Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialen Arbeit. 6. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa (Edition Sozial).

Ringshausen-Krüger, Margarete (1977): Die Supervision in der deutschen Sozialarbeit: Entwicklung von Konzeptionen, Methoden und Strukturen 1954–1974; eine textanalytische Untersuchung. Dissertation. Universität, Frankfurt am Main. Fachbereich 04 - Erziehungswissenschaften.

Rezension von
Prof. Dr. Volker Jörn Walpuski
Prof. Dr. phil., Professur für Supervision und Coaching an der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie freiberuflicher Supervisor und Coach (DGSv), Mediator (BM) und Organisationsberater.
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Es gibt 6 Rezensionen von Volker Jörn Walpuski.

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Zitiervorschlag
Volker Jörn Walpuski. Rezension vom 12.02.2020 zu: Jan Lohl: "... und ging ins pralle Leben". Facetten einer Sozialgeschichte der Supervision. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. ISBN 978-3-525-40492-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26193.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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