Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 21.11.2019

Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
199 Seiten.
ISBN 978-3-518-29881-7.
D: 22,00 EUR,
A: 22,70 EUR,
CH: 31,50 sFr.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2281.
Thema
„Denn da für Blumenberg Wahrheit nicht etwas Absolutes ist, sondern ein pragmatisches Mittel, um in den Wirklichkeiten, in denen wir leben, zu bestehen“, sei es, so Rüdiger Zill im Nachwort, „nur konsequent, diese zu pragmatischen Zwecken rhetorisch gekleidete Wahrheit und ihren Gegenpol, die nackte Wahrheit, vor allem auch in ihrer metaphorischen Dimension zu untersuchen“ (S. 191 f.). Damit programmatisch zusammengefasst ist jenes Vorhaben einer „Metaphorologie“, das die Wahrheitsmetaphorik zum Ausgangspunkt einer historischen Kritik ihrer Rhetorik nimmt, um abzustellen auf den Prozess der „Erträglichmachung der nackten Wahrheit“ (S. 42).
Thematisch zielt Blumenberg auf „das metaphorische Grundverhältnis von Nacktheit und Verhüllung“ (S. 93), analytisch konkretisiert anhand der „metaphorische[n] Grundannahme der Einkleidung, Verhüllung und Verkleidung“, die in ihrer Ausdrucksform immer schon verweist auf ihre mögliche Aufhebung durch „Entblößung, Unverstellung, Aufrichtigkeit“, so den Blick frei macht auf Wahrheit selbst. Jene Metapher von der „nackten Wahrheit“ sei „dann immer das Negat dessen, was sie zuvor entzogen und verhindert hatte“ (S. 9).
Aufbau und Inhalt
Die hier vom Suhrkampverlag publizierte Edition stammt aus dem Nachlass Blumenbergs. Da der Aufbau des überlieferten Typoskripts nicht eindeutig einem bewussten Kompositionsprinzip zugeordnet werden kann, lässt sich die eigentliche Darstellungslogik der Argumentation nicht abschließend visieren (vgl. S. 192). Insgesamt besteht die Textfassung aus quantitativ unterschiedlich gewichteten Sujets, in denen Blumenberg ausgewählte Autoren der philosophischen und literarischen Geistesgeschichte auf das Metaphernfeld der Nacktheit und Verkleidung hin durchmustert, damit in das Projekt der Metaphorologie integriert. Ein Großteil der Texte entwickelt seine Gedankengänge entlang des unmittelbaren oder erweiterten Umkreises der Aufklärung, weshalb die nachfolgende Vorstellung des Inhalts darauf ihren Schwerpunkt legt.
Der Band beginnt mit dem Aufklärer Nietzsche (vgl. S. 10), dessen Aussagen „über die entblößte, ihres Schmucks beraubte Wahrheit“ sich auf einen Tenor reduzieren ließen, „der schon die Erwartungen des Jahrhunderts der Aufklärung auf die bloße Wahrheit als Zweifel oder als Selbstbewußtsein der Stärke begleitet hatte: den Begriff der Erträglichkeit“ (S. 13). Die Frage, inwieweit sich Wahrheit ertragen und aushalten lässt, werde in der Kulturtheorie Nietzsches vor allem ästhetisch aufgefasst: was die „Häßlichkeit der Wahrheit“ an Unzumutbarkeiten bereithält, das flieht der Mensch „zugunsten des Genießbaren“, wodurch Kunst ihre Berechtigung erhält. Künstlerisches Schaffen diene der Philosophie als Beweis dafür, „wie man mit dem Befund der Häßlichkeit der Wahrheit fertig werde“ (S. 14). Allerdings, so Blumenberg, konstituiert sich damit eine Verselbständigung der Kunst, Kunst als Etikett, das sich „zur Gegenoption der Wahrheit hypostasiert“ (ebd.). Mit diesem Perspektivwechsel, der die Aufmerksamkeit auf das Gesamtkunstwerk legt, werde die eigentliche Wahrheit „übersehen“ (S. 15). Letztere, selbst nun „nackt“, brauche „trotz ihrer Häßlichkeit nicht mehr zugedeckt zu werden (.)“ (S. 14 f.). Hinter dieser Logik der „Selbsterhaltung“ (S. 12) scheint auf Kultur als „Schutzvorrichtung des Menschen vor sich selbst“, die selber wiederum schutzbedürftig sei (S. 15 f.). Trotz aller „Sublimierung“ (S. 15): sichtbar und damit problematisch bleibt die nackte Wahrheit insofern, als sie den Menschen immerwährend zu ihrer Bekleidung herausfordert. Anthropologisch und mit Nietzsche gewendet: der Mensch ist nicht fähig, sich selbst als das anzusehen, was er ist: ein domestiziertes Tier, das der „Moral-Verkleidung“ bedarf, womit nach Blumenberg Moral zum „Aufputz des Mängelwesens“ (Gehlen) (S. 27 f.) avanciert.
Klar sei, dass „der Metapher von der Enthüllung der Wahrheit die andere von ihrer Verhüllung entsprechen müsse“, womit die metaphorologische Analyse sich auch auf die Freudsche Theorie applizieren lässt. Diese, so Blumenberg, ließe sich als das Verfahren bestimmen, „es mit den durchtriebensten Mechanismen der Verhüllung des Eigenen vor dem Selbst – und daraufhin ganz selbstverständlich auch vor allen anderen – mit adäquater Kunstfertigkeit der Enthüllung aufzunehmen“ (S. 34). Im Rahmen der Traumdeutung wird die Dechiffrierung des Unbewussten thematisch einschlägig gefasst als „Namensbedürftigkeit des Unheimlich-Unbekannten“, eine „Beschreibung der Unerträglichkeit des Unbenannten“ (S. 37). Gerade die Art und Weise, wie der manifeste Trauminhalt zustande käme, sei „immer noch das Modell für die große Rhetorik, mit der sich die ‚Wahrheit’ des Psychischen sowohl präsentiert wie entzieht“ (S. 38). Während dieser die nackte Wahrheit birgt, die sich dem pfiffigen Analytiker offenbart, entzieht sich seine eigentliche Substanz dem Zensor, um diesen zu passieren (vgl. S. 45). Das Unbewusste unterlaufe mit Hilfe der Entstellung eine Sperre (vgl. S. 38), ausschließlich die verkleidete Seite der Wahrheit wird zur Eintrittsbedingung in die spätere Erinnerung an den vergangenen Traum. Damit sei der Traum „der Narr, der die Wahrheit sagt, ohne daß sie als diese erkannt wird – bis die Traumdeutung eingreift“ (S. 45). Die Metapher von der Traumverkleidung, ihr Verhüllungs- und Verkleidungsmechanismus sei schließlich eine List, „durch die die Wahrheit dorthin transportiert werden soll, wo sie jenseits der Zensur enthüllt, trotz der Verkleidung und Narrenkappe endlich erkannt werden kann“ (S. 46). Was Blumenberg hier als „verborgene Teleologie“ erkennt, zeugt letztlich bloß von „methodische[r] List des Analytikers“ (ebd.).
Nicht nur die Spätaufklärung, deren langer Schatten auf Freud und Nietzsche fällt, auch innerhalb der Frühaufklärung zeigen sich Spuren jener Nacktheit des Menschen, die, so Blumenberg mit Bezug auf Pascal, niemals seine ganze Wahrheit zeige. Vielmehr sei seine Wahrheit, „daß er ohne den verhüllenden Schein einer allen Anspruch aufs Wesentliche abwehrenden Verkleidung zugrunde geht“ (S. 63). Für Pascal selbst bedeute die „Nacktheit des Menschen (.) die nach dem Sündenfall entdeckte Verlegenheit und jede daraufhin fällig gewordene Art der Bekleidung“ – beides sowohl „Ausdruck“ wie „Notwendigkeit als für deren Beliebigkeit“ (S. 62). Insofern sich der Mensch nicht so geben könne, wie er sei, werde „jede Form, in der er sich gibt, als solche (.) austauschbar“, somit jede „faktische Kleidung (.) sekundär gegenüber der Funktion“ (ebd.). Allgemein geht es bei Pascal also um die Scheinhaftigkeit, die zwar nicht das „Wesen der menschlichen Natur, wohl aber die Antwort des Menschen auf seine Weltlage“ darstellt (S. 65). Konkret meint dies bspw. den Wahrheitsschein der „Mehrheit“, die nicht recht bekomme, sondern es schon immer habe, da sie Macht besitze. Zwar ließe nichts darauf schließen, „daß sich auch die Vernunft in der Mehrheit manifestiert“; aber „sie tut es mittelbar, weil es unvernünftig wäre, der Macht nicht recht zu geben“ (S. 67). Eben mit jener „Apologie der Meinung“ münde „Pascals Denken in eine umfassendere Verteidigung der Äußerlichkeit, der Oberfläche des Scheins an der Erscheinung“ (ebd.).
Auch die Intention der Aufklärungsautoren selbst, ihr radikales Drängen auf die „nackte Wahrheit“ konzediert der Metaphorik von Ver- und Enthüllung. Gerade auch in der moralischen Rücksichtslosigkeit der Wahrheitsfindung „steckt die Voraussetzung einer Umkehrung, die für den der Vernünftigung vorhergehenden Zustand zwischen Einkleidung und Verkleidung nicht zu unterscheiden gestattet. Wenn die Wahrheit“, so Blumenberg weiter, „nur nackt ihr Recht hat, ist jede Bekleidung eine Verkleidung und eo ipso im Unrecht“ (S. 71). Derjenige, der die Wahrheit sucht und öffentlich macht, konstituiert eine „Identität von Wahrheit und Unmittelbarkeit“, womit „nicht nur das Wahre nackt, sondern auch schließlich das Nackte wahr“ werde (ebd.). Zwar bewirke, mit Blick auf Fontanelle, derlei Kritik „Toleranz“ gegenüber dem Wahrheitsgeschehen; zugleich aber auch eine „Indolenz“ (S. 75). Indem sich der Aufklärer in den Dienst der Wahrheit stellt, wird er im Sinne des „methodischen Ideals der Objektivität“ infiziert „mit dem Bewußtsein der Gleichgültigkeit der Person“, womit sich letztere einfügt in die „rücksichtslose Funktionalisierung“ (S. 103). Diese Indifferenz ist ferner anschlussfähig an eine „vermutete Bedürfnislosigkeit“ vorzivilisatorischer Subjekte, die Blumenberg anhand der Rousseauschen Sozialphilosophie festmacht (S. 86). Die Nacktheit des Menschen, symbolisiert durch „Frieden und Zufriedenheit“ im Naturzustand, entblößt sich nicht durch die „Überfülle der Natur, sondern durch die Unbedürftigkeit des an ihr sich erhaltenen Menschen (.)“ (S. 87). Insofern das zivilisierte Subjekt der „Unbedürftigkeit“ abhold ist, falle Rousseau noch in die „alte Theodizee“, wenn eben „nicht die Natur, sondern die Menschen selbst (.) Schuld an ihrer Lage“ seien (ebd.).
Auf der analytischen Ebene des Denkens hingegen sei die Metapher einerseits „Reizmittel“, um Bruchstellen in der „Konsistenz des Gedankens“ zu kitten. Andererseits „Beruhigungsmittel“, das „das Versagen des Begriffs verdeckt oder seinem Mangel abhilft“ (S. 127). Gerade letzteres gelte für die Philosophie Kants, die ihre „Maßnahmen zur Eindämmung der Vernunft“ mit metaphorischen Beruhigungsmitteln versetze, „um nicht nur dem Erschrecken der durch vermeintliche Vernunftleistungen des metaphysischen 18. Jahrhunderts verwöhnten Zeitgenossen Dämpfung zu verschaffen, sondern auch um bestimmte Pflichtleistungen der Philosophie überhaupt noch möglich zu machen, die auch Kant mit moderierter Vernunft jedenfalls aufrechterhalten wollte“ (ebd.). Worüber Kant primär aufklärt, ist eine Vernunft, die im öffentlichen Bewusstsein „Leistungsminderungen“ zu verkraften hat, „Blöße“ offenbart, weshalb ihre Begriffe symbolbedürftig werden (vgl. S. 127 f.). Das „Ideal“ der „reinen praktischen Vernunft“ hätte ihren „Endzweck“ verfehlt, wenn innerhalb einer begrifflichen Leerstelle das Symbol durch das „Idol“ besetzt würde. Dahingehend, und darauf ziele der Begriff der Aufklärung bei Kant eben auch, besetze das Symbol „seiner Funktion nach eine Stelle, die das Ideal geschichtlich nicht oder noch nicht einnehmen könnte, um sie nicht dem Idol zu überlassen“, eine Art „Platzhalterfunktion“, die nach Blumenberg bei Kant zu wenig beachtet worden sei (vgl. S. 129). Die Vernunft bedürfe also der „Vehikel und Hüllen“, womit jene Metaphorik der nackten Wahrheit „die Metapher für die Problematik des Bedarfs und Gebrauchs von Metaphern selbst in der Philosophie“ sei (S. 133), was Blumenberg entlang Kants Anthropologie sowie Polemik gegen eine im Buch von J. G. Schlosser verhandelte „Spielart von Platonismus“ (vgl. S. 130 f.) auseinandersetzt.
Die Frage, wie durchsichtig oder undurchsichtig Wahrheit eingekleidet sein dürfe, um überhaupt vom Bewusstsein wahrgenommen zu werden, konvergiert mit dem Dilemma des Aufklärers, „wieviel Hülle man der Wahrheit lassen muß, soll nicht alles an menschlicher Ordnung zusammenstürzen, da doch diese Ordnung (.) auf dem Schein und nicht auf der Wahrheit beruht“ (S. 149). Voltaire aufgreifend, könne es darum keine unmittelbar-öffentliche „Vorführung der nackten Wahrheit“ geben, sondern der Aufklärer müsse sich vielmehr, und zwar post festum, „der Fähigkeit seines Konfidenten versichern, eine Prozedur zu ertragen, aus der die Bedenklichkeit seiner eigenen Stellung hervorgehen könnte“ (ebd.). Dieser „Kunstgriff“ als reflexive „Erwägung über die Rezeptionsfähigkeit des Adressaten“ verweist nach Blumenberg auf einen genuin rhetorischen Akt, womit das Wahrheitsangebot des Aufklärers unwiderstehlich werde: „Sein Adressat ist justiert als genau derjenige, der die Höchstdosis verkraften konnte, die Wahrheit ganz enthüllt zugeführt zu bekommen“ (S. 150).
Der Band schließt mit Lichtenberg, der jedoch der große Aufklärer nicht hätte sein können, „weil die Masse des Materials seiner Gedanken erst für die späte Nachwelt erschlossen wurde, für die“, und hier bezieht sich Blumenberg wohl vor allem auf die Sudelbücher, „es mehr auf den intellektuellen Witz als auf die Erhellung fortbestehender Finsternisse ankam“ (S. 163). Sein Werk selbst sei ohnehin von einem eher „gedämpften Wahrheitsoptimismus“ durchzogen und hege entsprechend „keine eindeutige Erwartung auf die Entkleidung der Wahrheit von ihren schönen poetischen und rhetorischen Gewändern“ (ebd.). Im Sinne seiner Metaphorologie entdeckt Blumenberg ein Paradox Lichtenbergs dort, wo die Nacktheit nicht der Natürlichkeit der Wahrheit entspricht: Die Wahrheit ertrage es nicht, „nackt zu gehen, weil sie dabei allzu rasch erkaltet und ihre Wirkung abnutzt“ (S. 164). Diese Analyse weist Lichtenberg als Vorläufer philosophischer Sprachkritik aus, denn entscheidend sei hier die Beobachtung, „daß die Kritik an der einen Einkleidung des Phänomens noch nicht die Gewähr dafür gibt, nicht eine andere Einkleidung an deren Stelle zu setzen, weil es offenkundig die größten Schwierigkeiten bereitet, das Phänomen nackt vorzuweisen und dennoch darüber zu sprechen“ (S. 172).
Diskussion
Im Rahmen einer Gedenkstunde zu Ehren des verstorbenen Blumenberg in Lübeck im August 1996 hält Odo Marquard einen Vortrag. Darin fasst er den Grundgedanken der Philosophie Blumenbergs als einen „Gedanken der Entlastung vom Absoluten“. Die Menschen hielten das Absolute nicht aus, darum müssten sie in verschiedenster Form Abstand zu ihm gewinnen. Das „Lebenspensum der Menschen“ sei „die Entlastung vom Absoluten, die Kultur als Arbeit an der Distanz“. Während Marquard an anderer Stelle diesen Befund geschichtsphilosophisch weiterdeutet, münden lässt in ein „dubioses Fundamentalarrangement des scheinbar geschichtsmündig gewordenen Menschen“, das letztlich hinausläuft auf „die Kunst, es nicht gewesen zu sein“, bleibt bei Blumenberg die absolute Wahrheit durch ihre „besondere Vermittlungsbedürftigkeit“ (S. 59) abhängig von „den anthropologischen Bedingungen (.), unter denen sich Nacktheit konstituiert“ (S. 103). Angeschlagen sind damit nicht etwa Töne einer Negativen Anthropologie (Sonnemann), eher schon ihre philosophische Antipode, auf deren Klaviatur der Mensch, selbst „noch nicht fähig zu letzter Härte“ (S. 15), einwilligt in jene prästabilierte Disharmonie, in der das cui bono? immer schon zu (Un-)Gunsten des Mängelwesens entschieden ist. Was dem Bewusstsein vorgeordnet ist, ist nicht Objektivität, die als gesellschaftliche Totalität sich einsenkt in subjektive Erfahrung, innerpsychisch sich als Verdinglichung reproduziert. Vielmehr regrediert letztere auf Defizite, die Blumenberg dem Individuum als anthropologische Konstante vorrechnet.
Derlei Konstante, die Metaphorik als Krücke zur Wahrheit notwendig macht, erinnert nicht zufällig an Plessner gerade dort, wo dieser in Analogie zur Metapher von geistigen Kräften spricht, die zu „Prothesen“ geworden sind, während der Mensch selbst sich verwandelt in einen „Prothesen-Proteus“. Mit diesem „Kompensationsschema“ jedoch „wird das Verständnis für das Warum und das Wie der Kompensation eigentlich ausgeschlossen“. Dem würde Blumenberg vermutlich beipflichten, hier als Kritik ablauschen, was als konservativ zu bezeugen wäre, da die Kompensation zur Natur des Psychischen ontologisiert wird. Deutlich wird dies am Begriff der Wahrheit, die scheindialektisch mit der „Trostbedürftigkeit“ (S. 82) des Menschen verschwistert ist, als latente Erkenntnismöglichkeit immer schon in Reichweite liegt. Mit dieser Latenz schleift bewusstlos sich ein die „Anerkennung der Verbindlichkeit des Unergründlichen“, womit Wahrheit nicht enthüllt wird, sondern, ihrem Absolutheitscharakter entsprechend, eher einer „Ursprungsmächtigkeit“ zeiht, die Plessner noch der Geschichte zuschlug, hier aber dem ‚Wesen’ des Menschen aufsitzt. Die Metaphorik selbst platziert dann nur noch das Richtige im Falschen, womit Blumenbergs Philosophie mit dem unwahren Ganzen (Adorno) sich identifiziert.
Exemplarisch wird dies auch am polemischen Zungenschlag gegenüber Freud. Die Wirkungen seiner Enthüllungen würden sich verselbständigen, aber nicht nur objektiv: „als Wiederholungen der einmal angewendeten Methode auf immer neue und auch verborgenere Sachverhalte. Sie hypostasieren sich auch subjektiv: im wilden Bedürfnis der Epigonen, den Meister und einander zu überbieten. Etwas“, so Blumenberg weiter, „was man nur als Enthüllungshysterie bezeichnen kann (.)“ (S. 47). Diese Einlassungen, die den Begründer der Psychoanalyse zum teleologischen Übervater inthronisieren, sind nicht neu, haben bis heute Methode, und wurden u.a. von (post-)strukturalistischer Seite ganz ähnlich formuliert: Im „Anti-Ödipus“, wo der „analytische Imperialismus des Ödipuskomplexes“ ausgefaltet ist, wird die Kastration als analysierbarer Zustand zur Wirkung der Kastration als analytischer Akt. Deleuze und Guattari identifizieren in der Methodik Freuds einen „Kraftaufwand des psychoanalytischen Theoretikers, dank dessen er sich zur Konzeption eines verallgemeinerten Ödipus aufschwingt“, womit die Psychoanalyse nicht an der Befreiung mitwirke, sondern Teil sei „jenes allgemeinen bürgerlichen Werkes der Repression“. Nun soll man Freud zwar nicht verteidigen, wo er nicht zu verteidigen ist. Gerade und vor allem auch hinsichtlich seiner Verpflichtung auf naturwissenschaftliche Rationalität und ihrem positivistischen Charakter, ein Grund wohl, warum Freud mit Bretons Flirt sich schwer tat, mit surrealistischen Anleihen nichts anzufangen wusste. Mit der reaktionären Abfertigung Freuds aber, die ihm „methodische List“ (s.o.) unterschiebt, resigniert Kritik an der Sache zur Kritik an der Person, womit Theorie sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen synchronisiert. Diese Harmonisierung mit dem Bestehenden, als Kritik betucht, deckt die gesellschaftstheoretische Immanenz des Freudschen Werkes zu. Schon 1952 in „Die revidierte Psychoanalyse“ hält Adorno trotz aller Einwände fest, die Größe von Freud bestünde darin, „daß er (.) Widersprüche unaufgelöst stehen läßt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber in sich zerrissen ist. Er macht den antagonistischen Charakter der gesellschaftlichen Realität offenbar (.). Die Unsicherheit des eigentlichen Zwecks der Anpassung, die Unvernunft vernünftigen Handelns also, die die Psychoanalyse aufdeckt, spiegelt etwas von objektiver Unvernunft wider. Sie wird zur Anklage der Zivilisation“. An dieser Erkenntnis scheitert auch Blumenbergs Metaphorologie. Weil sie die Wahrheit an dem Aufwand misst, „den ihre Erlangung kostet“ (S. 38), wird das, was als gesellschaftliche Vermittlung dem Bewusstsein und Unbewussten korrespondiert, auf Psychologie zurechtgestutzt, die einem begriffslosen Materialismus unterliegt.
Der Vorwurf, Wahrheit sei bei Freud an die „Prämie der Freiheit gekoppelt“ (ebd.), gemahnt dabei an kurzgeschlossene Unmittelbarkeit nicht nur. Auffällig auch, dass Blumenberg zwar eine „historische Kritik“ der metaphorischen Rhetorik in Anschlag bringt (s.o.), diese aber durch den Begriff der subjektiven Erträglichkeit wieder enthistorisiert. In diesem Sinne wird auch Nietzsche als „dekuvrierende[r] Psychologe“ (S. 11) ausgelegt, dessen Methode fundamentiert in der „Kunst der Menschenkenntnis – deduktiv aus einem Vernunftbegriff entwickelt (.): dem der Selbsterhaltung“ (S. 12). Letztere, „anscheinend dem Allgemeinen entgegengesetzt, gibt unterm Druck, bis in die Zellen der Verinnerlichung hinein, dem Allgemeinen nach (.)“ (Adorno). Das Subjekt, nun zur Monade kristallisiert, scheint zur bürgerlichen Selbsterhaltung verdammt, was ihren objektiven Konstitutionszusammenhang stillstellt. Zugleich wird die theoretisch bemühte „Vermittlungsbedürftigkeit der Wahrheit“ (s. o) um das Subjekt historischer Erkenntnis entleert, die das Kontinuum der Geschichte aufsprengen könnte (Benjamin). Dass sich der Mensch als geschichtsbedingend erkennt, ist für Blumenberg bloß psychologischer Kniff, um, als „Schutzvorrichtung des Menschen vor sich selbst“ (s.o.), eben nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen (vgl. S. 14). Somit terminiert subjektive „Trostbedürftigkeit“ in verhärteter, den materiellen Verhältnissen notwendig vorgeordneter Ontologie.
Laut Wörterbuch der philosophischen Begriffe habe Giambattista Vico „in der metaphorischen Sprachform eine (.) einfache ‚poetische Logik’ entdeckt: metaphorisches Sprechen ist dem mythischen Bewußtsein eigentümlich“, das unfähig sei, „Universalien unabhängig von der sinnlichen Anschauung zu bilden und sie daher durch mythische Personifikation oder Anthropomorphisierung zum Ausdruck bringt“. Diese Einlassung konfundiert in der Philosophie Blumenbergs insofern, als dass diese durch ihre metaphorologische Methode nicht heranreicht an das von der „Begriffssprache abgetrennte Erfahrbare“ (Sonnemann). Begriff und Erfahrung bleiben unmittelbar verwandt, Metaphorik wird zum losen Kitt zwischen beiden Seiten selbst dort noch, wo Sprache als „Symbol des Nicht-Mitteilbaren“ (Benjamin) sich artikuliert, in dieser Form auf gesellschaftlich vermittelte Verdrängungsprozesse im Unbewussten verweist. Die auch heute noch gesellschaftstheoretisch relevante Frage, warum das Bewusstsein „seiner selber nicht als Erinnerung inne ist“ (Sonnemann), wird nicht bloß psychologistisch entsorgt über die Notwendigkeit der „Namensbedürftigkeit des Unheimlich-Unbekannten“ (s.o.). Zugleich bleibt das Unbewusste sprachlich etikettierbar, um es anschlussfähig zu halten an Strömungen einer Analytischen Philosophie, wovon nicht nur Blumenbergs Zustimmung zu einer Sentenz Wittgensteins zeugt, die kundtut, „daß die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet“ sei, „wenn sie nicht mehr gestellt“ werde (S. 83). Entsprechend symptomatisch mündet Blumenbergs philosophisches Projekt in die Aporie des letzten Satzes: Wer ständig über die Metapher hinausdenke, verliere, „was er hat, ohne zu bekommen, was er nicht haben kann“ (S. 176).
Fazit
In einem Brief an Löwenthal ventiliert Adorno den Gedanken, dass nicht Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit steckt. Obwohl Blumenbergs Philosophie hier auf historische Kritik von Wahrheitsmetaphorik und ihrer Rhetorik zielt, verfehlt sie es, Geschichte „gegen den Strich“ zu bürsten (Benjamin). Gesellschaftstheoretisch leer läuft das Projekt jener Metaphorologie auch darum, weil sie über den Schein sprachlicher Unmittelbarkeit gesellschaftlich fertige Kategorien anwendet, statt in einen wirklichen Prozess mit der Sache einzutreten, d.h. den gesellschaftlich bedingten Vermittlungszusammenhang von Sprache und Metaphorik zu erhellen. Dass das Kapitel über Adorno mit wenigen Sätzen abgehandelt wird, auch optisch eine Leerstelle hinterlässt, mag dem unabgeschlossenen Charakter des Nachlasses geschuldet sein. Immanent verweist es wohl auf ein Denken, dem es nicht glückt, den Widerspruch zwischen subjektivem Bedürfnis und Anspruch auf objektive Wahrheit dialektisch zu bewältigen. Die von Rüdiger Zill geforderte intensive Interpretationsarbeit am Nachlasstext wäre demnach nicht bloß von Blumenberg-Forschern zu leisten, sondern entlang einer kritischen Gesellschaftstheorie zu formulieren, die, um geschichtliche Erkenntnis ringend, den Vorwurf der Teleologie auf Blumenbergs Werk selbst hin zu untersuchen versteht.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 21.11.2019 zu:
Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-518-29881-7.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2281.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26199.php, Datum des Zugriffs 09.02.2023.
Urheberrecht
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