Max Pichl, Timo Tohidipur (Hrsg.): An den Grenzen Europas und des Rechts
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 12.12.2019
Max Pichl, Timo Tohidipur (Hrsg.): An den Grenzen Europas und des Rechts. Interdisziplinäre Perspektiven auf Migration, Grenzen und Recht.
transcript
(Bielefeld) 2019.
227 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4714-3.
D: 29,99 EUR,
A: 29,99 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Edition Politik - Band 74.
Thema
Leitend für die Beiträge ist die Frage, ob und wie die Europäische Union ihr Grenzregime gegenüber Geflüchteten rechtfertigen kann. Eine der Fragen lautet zum Beispiel: Sind die rechtlichen Zugangsregelungen angesichts der Vermischung von Flucht- und Arbeitsmigration („mixed migration“) nicht überarbeitungsbedürftig?
Herausgeber und Autor*innen
Maximilian Pichl forscht an der Universität Kassel im Rahmen eines Projekts der Hans-Böckler-Stiftung zur Krise der EU-Migrationspolitik. Er war zeitweise politischer Referent von PRO ASYL.
Timo Tohidipur, promovierter Jurist, ist Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences.
Die Autor*innen kommen aus sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern und der Rechtswissenschaft. Alle haben einen ersten Studienabschluss und befinden sich meist im Promotionsstudium.
Entstehungshintergrund
Die Beiträge sind in einer stipendiatischen Arbeitsgruppe zur Frage „Wie offen sind Europas Grenzen?“ innerhalb des Kollegs Europa entstanden, Ergebnis einer Kooperation zwischen der Studienstiftung des Deutschen Volkes, dem DAAD und der Alfred-Töpfer-Stiftung.
Aufbau
Nach dem Vorwort und einer gemeinsamen Einführung unter dem Titel „Grenzbetrachtungen“ kommen die Autor*innen mit ihrem jeweiligen Beitrag zu Wort. Die Beiträge hat man vier Schwerpunkten zugeordnet:
- Grenzen und Zugehörigkeit
- Wirtschaft, Recht und Politik der Migration
- An den Grenzen des Rechts
- Leben nach der Grenze
Diese Aufteilung ist aber für das Verständnis der Beiträge ziemlich belanglos.
Inhalt
Lisa Känner unterzieht „operative“ oder „fiktive Grenzen“ (wie in Melilla) der Kritik, weil sie rechtsfreie Räume darstellten, in denen staatliches Handeln widersprüchlich und völkerrechtswidrig sei.
Kentaro Inagaki prüft die Idee einer europäischen Bürgerschaft auf ihren praktischen Wert und registriert mehrere Widersprüche.
Anna Hochleitner überprüft anhand internationaler Studien die Auswirkungen von Migrationspolitik auf den Arbeitsmarkt und die Fiskal- und Sozialpolitik, aber auch Argumente für eine aktive Einwanderungspolitik zur Behebung von Fachkräftemangel, wobei sie auch die Problematik des Brain Drain für die Herkunftsländer berücksichtigt. Abschließend diskutiert sie „Synergien zwischen Asyl- und Migrationspolitik“ durch sog. „Spurwechsel“.
Nils Imgarten erörtert mögliche Weiterentwicklungen des deutschen Aufenthaltsrechts angesichts der Zunahme von mixed migration. Auch wird in Erwägung gezogen, ob man nicht ein Punktesystem, wie es angebotsorientierte Migrationspolitik kennzeichnet, um Fluchtgründe ergänzen könnte.
Merve Kania rekapituliert den politischen Diskurs über Zu- oder Einwanderung in der bundesdeutschen Politik seit den 1970er Jahren. Ergebnis: Der „diskursive Fokus“ lag permanent auf der Warnung vor „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ und der Bedrohung der Sicherheit. Dies sei keine bloße Reaktion der Politiker auf verbreitete Ängste gewesen, sondern eine Diskursintervention aus der rechten Mitte.
Thea Kirsch stellt das „globale Visumregime“ in Frage, das eine extreme Ungleichheit grenzüberschreitender Mobilität je nach Geburtsort schafft; denn der Reisefreiheit der privilegierten Staatsangehörigen aus dem globalen Norden, stehe die Exklusion der Menschen aus den wirtschaftlich schwachen Ländern gegenüber, wodurch Schutzsuchende auf irreguläre Zugangsrouten angewiesen seien.
Maximilian Pichl und Timo Tohidipur erläutern die Ambivalenz der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Denn mit der zunehmend perfektionierten Überwachung der Fluchtrouten könne sich die Agentur auch nicht mehr der humanitären Verpflichtung zur Seenotrettung entziehen. Rechtliche und historische Auseinandersetzungen um die Seenotrettung werden eingangs referiert.
Sara Abbasi erläutert, gestützt auf Erfahrungsberichte, den Nutzen des Internet, speziell der Sozialen Medien, für Geflüchtete vor, während und nach der Flucht.
Den Band beschließt ein Abstract zu dem Film „Waiting Room“ von Tuna Kaptan und Mate Ugrin, versehen mit dem Link zu einer Video-Plattform.
Diskussion
Die Beiträge werfen fast durchgehend ein kritisches Licht auf die herrschende Migrationspolitik und das etablierte Grenzregime, nicht nur geleitet von humanitären Gesichtspunkten, sondern teils auch von rechtstheoretischen Bedenken. Die Beiträge unterscheiden sich nach Umfang und Intensität der Problembearbeitung. Neben zwei Beiträgen, die man dem Genre Politikberatung zuordnen könnte, findet man radikale Denkansätze. Nicht bedacht wird dabei, auf welche Widersprüche die Infragestellung nationalstaatlicher Grenzen in einem kapitalistischen Weltsystem stoßen würde, das von globaler Ungleichheit geprägt ist. Aber solcher Idealismus hilft dennoch dem Denken auf die Sprünge.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 12.12.2019 zu:
Max Pichl, Timo Tohidipur (Hrsg.): An den Grenzen Europas und des Rechts. Interdisziplinäre Perspektiven auf Migration, Grenzen und Recht. transcript
(Bielefeld) 2019.
ISBN 978-3-8376-4714-3.
Reihe: Edition Politik - Band 74.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26203.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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