Andrea Will, Nadine Bogana: Ein Leben auf dem Schwebebalken
Rezensiert von Christine Spreyermann, 15.02.2021

Andrea Will, Nadine Bogana: Ein Leben auf dem Schwebebalken. Biografiearbeit im Kontext von Sucht und stationärer Soziotherapie. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2019. 179 Seiten. ISBN 978-3-86321-439-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 37,50 sFr.
Autorinnen
Beide Autorinnen studierten Soziale Arbeit an der Hochschule in Koblenz. Ihre Publikation beruht auf einem Praxisforschungsprojekt über Biografiearbeit in der Suchttherapie während ihres Studiums.
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert auf einem beispielhaften Praxisforschungsprojekt über Biografiearbeit von Studentinnen der Hochschule in Koblenz. Die im Verlauf des Projektes gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse sollen einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Inhalt
Das Buch enthält 10 Kapitel, die sich in fünf Teile unterteilen lassen.
Teil eins umfasst die ersten 3 Kapitel. Hier beschreiben die AutorInnen den allgemeinen Kontext ihres Forschungsprojektes. Sie geben Einblick in die Bedeutung von Alkoholkonsum in der Gesellschaft. Sie fassen neuere Erkenntnisse zu den sozialen und medizinischen Folgen von Alkoholabhängigkeit und -Sucht zusammen.
Teil zwei besteht aus zwei Kapiteln. Hier geht es darum den spezifischen Kontext ihres Forschungsprojektes vorzustellen und zwar inbesondere das Konzept Soziotherapie im stationären Setting für Menschen mit chronischer Erkrankung. Sie beschreiben Ziele und Methoden, aber auch die rechtlichen Grundlagen für Therapie im stationären Setting. In einem Kapitel erläutern die Autorinnen die grosse Herausforderung von Suchttherapien auf dem Weg zur Abstinenz. Sie zeigen anhand des Begriffs «Abstinenzunterbrechung» auf, wie mit diesem Begriff ganz andere Perspektiven vermittelt werden können, als mit dem synonymen Begriff «Rückfall». Während der Begriff Rückfall den Misserfolg in den Vordergrund stellt, den zurückgelegten Weg ignoriert, kann mit dem Begriff Abstinenzunterbrechung vermittelt werden, dass die Patientin/der Patient den Weg zur Abstinenz weiterverfolgen kann. Der Begriff vermittelt eine vorwärtsgewandte Perspektive. Dies sei wichtig, um die Abstinenzmotivation erneut aufzubauen. Der Begriff «Rückfall» bewirke bei den PatientInnen oft ein «Rückfallloch», Schuld- und Versagensgefühle werden geweckt. Die Autorinnen beschreiben, wie das soziotherapeutische Wohnheim, in dem sie ihr Forschungsprojekt «Biografiearbeit» durchführen, Abstinenzunterbrechungen nutzt, um die Ressourcen der BewohnerInnen zu stärken und zu einer realistischeren und positiveren Selbsteinschätzung zu führen. Dabei wird grosser Wert darauf gelegt, dass den BewohnerInnen mit Achtsamkeit, Respekt, Wertschätzung und Empathie begegnet wird. Es geht darum, dass die BewohnerInnen sich nach einer Abstinenzunterbrechung besser kennen- und einschätzen lernen.
Teil 3 besteht aus einem Kapitel und stellt das eigentliche Forschungsprojekt «Biografiearbeit» dar. Anhand von sechs Interviews mit verschiedenen BewohnerInnen des soziotherapeutischen Wohnheims zeigen die Autorinnen beispielhaft auf, wie sie die Biografiearbeit umgesetzt haben. Sechs BewohnerInnen berichten je aus ihrem Leben, von Vorkommnissen, die für sie besondere Bedeutung haben, von wichtigen Ereignissen und Weichenstellungen im Leben und über die Erfahrungen im soziotherapeutischen Wohnheim.
Teil 4 besteht ebenfalls aus einem Kapitel. Hier geht es um eine kurze Einführung in die Theorie und Methoden der Biografiearbeit. Die Autorinnen erläutern/​zitieren den Begriff «Biografie» als «…das sinnhafte Handeln eines Subjekts in einer durch einen Lebensprozess vorgegebenen Zeitstruktur». Das sinnhafte Handeln umfasse auch antizipierende Entscheidungen und Selbstreflektionen. Biografiearbeit wird als strukturierte Form der Selbstreflexion in einem professionellen methodischen Setting beschrieben. Die Autorinnen führen den Nutzen von Biografiearbeit – ganz besonders im Kontext von stigmatisierten Verhaltensweisen – als Unterstützung der Identitätsentwicklung aus.
Teil 5 enthält die Kapitel Danksagung, Schlagwortverzeichnis und ein Umfangreiches Literaturverzeichnis.
Diskussion
Den Autorinnen gelingt es gut, die Mechanismen der Fremd- und Selbststigmatisierung von alkoholkranken Menschen aufzuzeigen und deren Auswirkungen für eine positive Identitätsentwicklung. Sie beschreiben die Herausforderungen im soziotherapeutischen Setting anschaulich. Ganz besonders interessant sind die Ausführungen zu den Implikationen, welche mit der Verwendung des Begriffs «Abstinenzunterbrechung» im therapeutischen Kontext einhergehen. Die Darstellung der sechs geführten Interviews ist ausführlich und illustriert die Lebensgeschichten, die Lebenserklärungen, Entscheidungssituationen und auch das jahrelang damit verbundene Leiden und die kleinen Schritte auf dem Weg zu einer für sich annehmbaren Lebensgeschichte.
Schade ist, dass der methodische Teil sich ausschliesslich auf die Methodik des narrativen Interviews beschränkt – und selbst da methodische Erläuterungen sehr knapp ausfallen. Es findet auch keine methodische Reflexion bezüglich der geführten Interviews statt – was waren besondere Herausforderungen in der Interviewführung, was hat gut geklappt, was ging schief. Gänzlich fehlen andere methodische Zugänge zur Biografiearbeit – z.B. unter Einbezug von Visualisierungen, den eigenen Lebensweg in der Natur nachstellen, mit Skulpturen oder Figuren darstellen usw. Dass methodisch weitere Zugänge zur Biografiearbeit existieren wird nicht einmal erwähnt.
Fazit
Das Buch liefert einen Einblick in sechs Lebensgeschichten von alkoholkranken Personen sowie in einen konstruktiven vielversprechenden soziotherapeutischen Ansatz. Es handelt sich um ein engagiertes Praxisforschungsprojekt der beiden Autorinnen. Es ist jedoch kein Handbuch für die Methodik der Biografiearbeit.
Rezension von
Christine Spreyermann
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