Daniela Klimke, Nina Oelkers et al. (Hrsg.): Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Kury, 12.03.2020
Daniela Klimke, Nina Oelkers, Martin K. W. Schweer (Hrsg.): Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum. Springer VS (Wiesbaden) 2019. 305 Seiten. ISBN 978-3-658-15117-1. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 39,00 sFr.
Thema
Kriminalität spielt über die Zeit in allen Gesellschaften eine wichtige Rolle, wird breit diskutiert, wobei sich das Bild von dieser gerade in neuerer Zeit auch unter dem Einfluss elektronischer Medien teilweise verändert. Durch diese Medien werden entsprechende Nachrichten schneller und vor allem auch weltweit vertrieben. Dadurch wird in der breiten Bevölkerung ein Bild von „der“ Kriminalität geschaffen, das nur teilweise mit der „Realität“ übereinstimmt, wobei letztere auch nur mit erheblichen Einschränkungen erfasst werden kann. Was etwa von der Polizei an Straftaten registriert wird, hängt deutlich davon ab, ob die Bürger als Opfer oder Zeuge einer Straftat, diese auch zur Anzeige bringen und die Polizei die Tat registriert. Gerade hier gibt es etwa deutliche Stadt-Land-Unterschiede mit dem Ergebnis, dass in ländlichen Regionen weniger Straftaten registriert werden als in (Groß-)städtischen Gebieten, erstere somit als deutlich sicherer erscheinen. Die Lebensbedingungen unterscheiden sich zwischen Stadt und Land in vielen Bereichen, etwa hinsichtlich sozialer Nähe, Kontakten bzw. der Eingebundenheit in soziale Strukturen, wie Nachbarschaften oder Vereine. Das führt einerseits etwa zu einem Gefühl des Dazu-Zugehörens, andererseits aber auch der Kontrolle. Während es zum Leben in der Stadt eine umfangreiche Forschungsliteratur gibt, fehlen entsprechende Untersuchungen auf dem Lande weitgehend.
Hier setzt der von D. Klimke, N. Oelkers und M.K.W. Schweer herausgegebene Sammelband zu der Thematik „Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum“ an. Den Herausgebern geht es dabei im Wesentlichen darum, Sicherheitsgefühle, welche die Lebensqualität erheblich bestimmen können, in den Blickpunkt zu nehmen. Das Konzept der Kriminalitätsfurcht wird dabei kritisch hinterfragt, sowohl was dessen Definition als auch methodische Erfassung betrifft. Man wählt den umfassenderen Begriff der „Sicherheitsmentalitäten“, schließt sich damit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Erforschung ziviler Sicherheit geförderten Projekt „Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum“ (SIMENTA) an. Wesentliche Ergebnisse aus dem Projekt, bei welchem die Universität Vechta und die Polizeiakademie Nienburg als Projektpartner fungierten, werden in einzelnen Beiträgen dargestellt. Das Projekt erforschte anhand von empirischen Analysen aus zwei niedersächsischen Kommunen über drei Jahre spezifische ländliche Sicherheitskulturen.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst auf 305 Seiten insgesamt drei Teile mit zusammen 9 einzelnen Beiträgen. Die 15 Autoren einschließlich der drei Herausgeber, die zu Beginn des Bandes und nochmals nach jedem Einzelbeitrag stichwortartig vorgestellt werden (S. XIII ff.) kommen aus Deutschland, vor allem auch aus den Bereichen in Niedersachsen, in denen die Studie durchgeführt wurde, den Landkreisen Vechta und Cloppenburg. Die Herausgeber betonen in der Einleitung (S. V-X), dass in Deutschland außerhalb von Großstädten der tagtägliche Umgang mit Risiken und einer „neuen Kultur der Kontrolle“ wenig beachtet werde. Als ein wesentliches Merkmal der von ihnen gesehenen neuen „Kontrollkultur“ wird eine Verschiebung der Verantwortung für Sicherheit auf nicht-staatliche Einrichtungen gesehen. Im Zentrum des Verbundprojektes SIMENTA, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung – BMBF im Rahmen der Forschung für die zivile Sicherheit gefördert wurde, aus dem wesentliche Ergebnisse in den folgenden Beiträgen dargestellt werden, standen „zum einen die Untersuchung von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern sicherheitsrelevanter Akteure und Zivilbürger/innen in Bezug auf abweichendes Verhalten bzw. Kriminalität in ländlich geprägten Gebieten, zum anderen die speziellen Umgangsformen mit ebendiesen Verhaltensweisen“ (S. VI). Es geht um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der „Ländlichkeit“ und deren Rolle im Zusammenhang mit Sicherheitsmentalitäten. Im Zentrum der Untersuchung hätten die „Rekonstruktion der Deutungsmuster unterschiedlicher Akteursgruppen … hinsichtlich sicherheitskultureller Herausforderungen und ruraler Formen sozialer Kontrolle“ gestanden (S. VI). Zur Erfassung der relevanten Zusammenhänge wurden im Forschungsprojekt quantitative und qualitative Analysen kombiniert, befragt wurden in Experteninterviews etwa Polizisten, Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste und Sozialarbeiter, weiterhin wurde eine Bevölkerungsumfrage durchgeführt.
Im ersten Teil diskutiert Aldo Legnaro in einem theoretisch geprägten Beitrag kritisch die Frage nach dem Verständnis von Verbrechensfurcht. „Schulbegriffe“ wie Kriminalitätsfurcht würden „keine hinreichenden Erklärungen“ bieten (S. 3). Die „Definition von Kriminalität und die Etikettierung von Kriminellen (sei) immer ein Prozess des Othering mit vielfältigen, sich nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch unterscheidenden Folgen“ (S. 4). In früheren Jahrhunderten sei das Verbrechen als angstauslösender Faktor noch vor anderen Gefahren zurückgetreten. Die Konzeption der Kriminalitätsfurcht gehe auf die 1960er Jahre zurück, als man begonnen habe, diese zu messen. Damit seien vor allem auch Fragen der methodischen Erfassung des Konstrukts und der Validität der gefundenen Resultate in den Vordergrund getreten. Der Autor weist auf die Komplexität der Zusammenhänge und den Einfluss zahlreicher Faktoren hin. Die Charakterisierung etwa von „incivilities“ sage „mindestens so viel über die Benennenden aus wie über das Benannte“ (S. 11).
Darauf aufbauend diskutiert Daniela Klimke den Begriff der „Sicherheitsmentalitäten“, den sie als weiterführende und umfassendere Alternative zum Konzept der Kriminalitätsfurcht begreift (S. 23–56) [1]. Die Autorin geht kritisch auf die Konzeption und Messung von Kriminalitätsfurcht ein, die Erhebungsmethoden seien vielfach wenig Valide. Die gemessene Furcht, Opfer einer Straftat zu werden sei in Umfragen in den letzten Jahren mehr und mehr von anderen „Ängsten“ überholt worden, etwa vor Naturkatastrophen, einem vermehrten Zuzug von Ausländern oder der Überforderung der Politiker, die in der Gesellschaft sich ergebenden komplexen Probleme konstruktiv zu lösen. Gleichzeitig sei die Nachfrage nach Daten zur Kriminalitätsfurcht vor dem Hintergrund jeweils eigener Interessen erheblich, von Seite der Politik, der Sicherheitsindustrie oder Versicherungen. Vor allem auch die Aufwertung des Opfers ab Mitte der 1970er Jahre habe zur Diskussion um Kriminalitätsfurcht beigetragen. Insbesondere einzelne Opfergruppen, wie solche sexueller Gewalt, hätten einen „enormen Bedeutungswandel“ erfahren (S. 25). Opferbekenntnisse würden inzwischen „zum guten Ton gehören“ (S. 26). Die zugenommene Hinwendung zum Opfer stehe in einem „Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Umsorgung und der Politik der Responsibilisierung, die eine teilweise Verantwortungsverschiebung ehemals wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben an die Individuen“ vorsehe (S. 28). Eigenverantwortung werde zunehmend individuell zugeschrieben. Die Diskussion um Verbrechensfurcht stütze vor allem auch eine Law and Order-Politik. Hierbei müsse gesehen werden, dass sich „Kriminalitätsfurcht“ aus einer Gemengelage unterschiedlicher gesellschaftlicher Verunsicherungen ergeben würde, die bei den üblichen Umfragen wenn überhaupt nur ansatzweise erfasst würden. Aus diesem Kontext ergebe sich die Frage, ob es überhaupt eine eigenständige „Kriminalitätsfurcht“ gebe, was da vielfach gemessen werde, sei lediglich eine von vielen Sorgen. „Allein die Messbarkeit begründet noch nicht deren Relevanz oder gar eigenständige Existenz in der Lebenswirklichkeit der Befragten“ (S. 36). Auch vor diesem Hintergrund sei das umfassendere Konzept von „Sicherheitsmentalitäten“ vorzuziehen.
In Teil II des Bandes mit insgesamt drei Beiträgen geht es dann insbesondere auch um die eigene Untersuchung und die Vorstellung vergleichbarer Daten. Zunächst stellen Nina Oelkers, Sascha Schierz und Gabriele Nellissen die Untersuchungsregion des Projekts SIMENTA, das Oldenburger Münsterland, vor (S. 59–82). Es werden statistische Daten, einschließlich Angaben aus der Polizeilichen Kriminalstatistik, und kommunalspezifisch aufbereitete Informationen mitgeteilt. Bei der Auswahl der beiden Landkreise Vechta und Cloppenburg sei es vor allem auch um eine unterschiedliche Einbindung der Einwohner in gegebene soziale Strukturen und Netzwerke gegangen. Beide Landkreise würden hinsichtlich der Einstellung der Bewohner eine deutlich konservative Haltung zeigen. Die Region sei wirtschaftlich erfolgreich, der Anteil von Kindern und Jugendlichen relativ hoch, womit Jugendkriminalität zu einem Thema geworden sei. Soziale Netzwerke würden nach wie vor bestehen und funktionieren. Die Kriminalitätsbelastung liege jeweils unter dem Landesdurchschnitt, es bestünden etwa auch kriminalpräventive Räte. Das Oldenburger Münsterland zähle zu den sichersten Regionen in Deutschland. Der Gemeinschaft und informellen Kriminalitätskontrolle komme eine wesentliche Bedeutung zu. Der Zuzug von „Fremden“ könne in diesem Kontext auch als „Verstörung der kulturellen (also traditionellen) Vorstellungen von Ländlichkeit und den dort eingelagerten Sicherheitsmentalitäten begriffen werden“, Migration und Zuzug könnten somit auch als Verstärkung von erlebten Problemlagen gesehen werden (S. 78).
In einem weiteren folgenden Beitrag gehen Nina Oelkers und Sascha Schierz (S. 83–106) vor allem auch auf Unterschiede zwischen „Ländlichkeit“ und Stadtleben hinsichtlich erlebter Sicherheit ein. Obwohl ein Großteil der deutschen Bevölkerung in ländlichen Regionen lebe, sei das wissenschaftliche Interesse an diesen Bereichen eingeschränkt. Die Unterschiede zwischen den Räumlichkeiten würden sich auch zunehmend verschieben, wobei dem ländlichen Raum vielfach ein Widerstand gegenüber sozialen Veränderungen unterstellt werde. Ländlichkeit und Kleinstadt könnten „auch als soziale Konstruktionen angesehen werden“ (S. 85). Die Ergebnisse aus dem Projekt SIMENTA würden zeigen, „dass Ländlichkeit von sozialen Akteur/​innen als Bezugspunkt oder Ordnungsleistung aktiv hergestellt wird und nicht an sich existiert“ (S. 86). Zur Erforschung der Kriminalität im ländlichen Raum lägen nach wie vor wenig zuverlässige Resultate vor, es würden sich teilweise erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen zeigen, etwa je nach Umfang des Tourismus, den wirtschaftlichen Verhältnissen oder der Nähe zu Großstädten. Auch die zunehmende Digitalisierung und Medialisierung verwische Unterschiede, obwohl nach wie vor hergebrachte Deutungsmuster von höherer Sicherheit und einem besseren Leben bestehen würden. Ländlich geprägte Räume würden auch heute noch eine besondere „Empfindlichkeit gegenüber ‚Neuerungen‘, ‚Fremden‘ und ‚sozial Ungleichen‘“ zeigen (S. 100).
Frieder Dünkel, Stefan Ewert, Bernd Geng und Stefan Harrendorf gehen im dritten Beitrag (S. 107–140) des zweiten Teiles des Bandes vor allem auch auf der Basis einer Literaturanalyse unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung peripherer Regionen bzw. Zentren ein. Vor dem Hintergrund der Entwicklung nach der Wende in ostdeutschen Landkreisen, wie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt diskutieren sie die wesentlichen Faktoren, die zu einer Peripherisierung beitragen sowie die Dynamiken, die dadurch in „Abstiegs-Regionen“ in der Bevölkerung entstehen. Randständigkeit von Regionen würde vor allem bei ökonomischer Strukturschwäche, geringer Bevölkerungsdichte in Kombination mit einem zunehmend ungünstigen Verhältnis der Alters- und Geschlechtsgruppen gefördert. Rund ein Fünftel der Fläche Deutschlands, auf der 4,4 % der Bevölkerung leben, könnte als „sehr peripher“ eingestuft werden. Diese Räume seien vor allem auch durch einen geringeren Wohlstand charakterisiert, was eine Abwanderung fördere, damit die Problematik für die Zurückgebliebenen erhöhe. Empirische Studien zu den sozialräumlichen Folgen einer Peripherisierung würden bisher kaum vorliegen (S. 118). Ostdeutsche Landkreise seien vermehrt von einem Abrutschen in Randständigkeit betroffen. Obwohl der Gesetzgeber die Schaffung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in unterschiedlichen Regionen vorgebe, sei die staatliche Versorgung in unterentwickelten Gebieten kaum noch zu leisten. Als Folge seien in „Abstiegs-Regionen“, „Verlierer-Regionen“, die als „nicht lebenswert“ eingestuft werden, eine „allgemein zunehmende Politikverdrossenheit und Demokratieskepsis sowie eine verstärkte Anfälligkeit insbesondere für fremdenfeindliche Haltungen, Propaganda rechtsextremer und rechtspopulistischer Gruppierungen und Parteien in der ‚Residualbevölkerung‘ zu beobachten“ (S. 120). So hätten die „Flüchtlingskrise 2015“ und die verschiedenen Übergriffe in der Folgezeit zu einer „neuen Dimension in Qualität und Quantität der Flüchtlingsfeindlichkeit, der Islamophobie und der Angst vor sog. ‚Überfremdung‘ in Deutschland geführt“, obwohl die Zahl der Flüchtlinge in den ostdeutschen Gebieten vergleichsweise niedrig sei (S. 121). Die entstandenen Verunsicherungen würden zur Wahl rechtspopulistischer Parteien beitragen. So gehöre Mecklenburg-Vorpommern seit der Wende zu den ökonomisch schwächsten Bundesländern, gleichzeitig zu den Hochburgen rechtsextremer Einstellungen. Ein „breites Spektrum von rechten Subkulturen, Kameradschaften und Neonazis (sei) für den Großteil der rechtsextremistisch motivierten Straftaten, insbesondere auch Gewalttaten, verantwortlich“ (S. 129). Die Ablehnung von Einwanderern würde vor allem auch in den sozialen Medien und Netzwerken geschürt. Neuere Studien würden die Kriminalitätsunterschiede zwischen Stadt und Land relativieren, Gewaltstraftaten, wie Körperverletzungen, würden teilweise in ländlichen Regionen häufiger vorkommen als in städtischen Umgebungen. Auf dem Land lebende Jugendliche etwa, würden Gewalttaten oft in der Stadt machen, was hier zu einem „Importüberschuss“ an Tätern führe (S. 125).
In Teil III des Bandes (Facetten ländlicher Sicherheitsmentalitäten) berichtet zunächst Daniela Klimke im umfangreichsten Beitrag der Veröffentlichung (S. 143–249) differenzierte empirische Ergebnisse aus der Studie, etwa auch zu unterschiedlichen Sanktionseinstellungen. Vorstellungen zu Kriminalität würden vor allem auch durch die Medien geprägt, in denen nur selten Tatsachenbeschreibungen zu finden seien. In ländlichen Räumen herrsche noch eine besondere Betonung von Männlichkeit vor, die auch den Umgang mit Gefahren wie Kriminalität beeinflusse. Kriminalität sei für Landbewohner ein Bereich, der nach deren Erleben einfach „nicht hier her“ gehöre (S. 242). Die Autorin betont gleichzeitig, die Unterscheidung zwischen Stadt und Land sei nicht so klar, wie es auf den ersten Blick erscheine, so sei umstritten, ob es überhaupt eine eigenständige ländliche Kultur gebe. Landbewohner würden durch Kriminalität direkter und unmittelbarer betroffen, diese finde in den eher kleinräumigen Gebieten nach deren Empfinden immer vor der Haustüre statt. Vor dem Hintergrund einer „Informalisierungstendenz“, die das Kriminalitätsgeschehen und dessen Hintergründe eher verwische, und eines damit zusammenhängenden hohen Dunkelfeldes sei über ländliche Kriminalität und dessen Hintergründe immer noch relativ wenig bekannt (S. 146). Die eigene Untersuchung basiere auf den Ergebnissen von insgesamt acht Gruppendiskussionen von jeweils ein bis zwei Stunden mit jeweils 5 bis 7 Bürgern bzw. Experten. Als Ergebnis zeige sich ein gutes Sicherheitserleben in den ländlichen Untersuchungsregionen, das vor allem auf die nachbarschaftlichen Beziehungen und Vereinsaktivitäten zurückgeführt werde, die sich allerdings allmählich auflösen würden. Zahlreiche Zitate aus den Interviews demonstrieren die Sichtweise der Befragten plastisch. Die ländliche Gemeinschaft sei bemüht, sich vor dem „Eindringen der Außenwelt“ zu schützen (S. 153). Migranten hätten in diesem Kontext in aller Regel kaum eine Chance, dazu zu gehören, da sie von vornherein nicht als anerkannter Teil der Gemeinschaft gesehen würden. „Fremde erscheinen eher als bedrohlich für die sozialen Konstruktionen von Ländlichkeit als Ort einer auch ethnisch homogenen Gemeinschaft denn als Bedrohung der eigenen Sicherheit“ (S. 169). Kriminalität habe immer schon dazu gedient, eine Gemeinschaft zu stärken. „Geschichten“ über Kriminalität, die in der Gruppe erzählt werden, würden mehr die gesellschaftlichen Vorstellungen von Kriminalität bestimmen als etwa offizielle statistische Daten (S. 172). Fahrraddiebstahl gehöre zu den am häufigsten erwähnten Delikten, in der Gruppe der Jugendlichen auch körperliche Gewalttaten. Eine besondere Rolle würden auch Verkehrsprobleme spielen, wobei hier auch deutliche Sanktionswünsche geäußert würden. Medieninformationen sei nur eine geringe Bedeutung in den Gruppendiskussionen zugekommen. Deutlich stellt die Autorin dar, wie Kriminalitätsgeschichten in ländlichen Regionen verbreitet werden und das Denken über den Sachverhalt prägen. Die Alltagsgespräche über Kriminalität würden vor allem der privaten Bewältigung der Risiken und der moralischen Verständigung dienen. Kriminalität werde oft mit einem bestimmten konkreten Ort verbunden, der Rest werde als sicher dargestellt und erlebt, die Diskussion diene oft der Warnung vor solchen gefährlichen Orten. Weit verbreitet sei die Vorstellung von einer sinkenden Hemmschwelle bei Gewalttätigkeiten, eines Niedergangs der Moral, es zeige sich eine Verklärung früherer Zeiten. Gerade Frauen würden präventive Schutzmaßnahmen auch dann noch eher hinnehmen, wenn diese ihr Verhalten einschränken. „Die bereitwillig übernommene Verpflichtung zum Selbstschutz bezeugt offenbar immer noch die ehrbare Frau“ (S. 228). Eine besondere Maskulinisierung des Männlichen dränge die Frauen auch mehr in ihre klassische weibliche Rolle. Die Autorin betont auch, dass Ländlichkeit sehr unterschiedlich ausgeprägt sei, einzelne Regionen seien somit nur eingeschränkt miteinander vergleichbar. „Kriminalität aus Sicht der Landbewohner ist ein fremder, in die Ländlichkeitskonstruktionen nicht recht integrierbarer Phänomenbereich…“ (S. 242). Wenig beachtet sei bisher der Einfluss moderner Medien, wie des Internets.
Martin K.W. Schweer, Philipp Ziro und Christian Heckel berichten in ihrem Beitrag (S. 251–275) Ergebnisse zum Sicherheitserleben aus psychologischer Sicht. Kriminalitätsfurcht sei nach ihrer „Entdeckung“ durch die empirische Kriminologie inzwischen fester Bestandteil einschlägiger Forschung, allerdings sei die Begrifflichkeit vielfach unklar. Es fehle an einer klaren Abgrenzung der Begriffe, vor allem psychologische Ansätze würden bisher kaum vorliegen. Die Autoren stellen ausgewählte Befunde aus dem SIMENTA-Projekt, aus der Fragebogenstudie bei 498 Personen, dar. Die Sichtweisen und Einstellungen der Bürger zu der Thematik in den ländlichen Regionen werden diskutiert. Zur Erklärung von Kriminalitätsfurcht hätten sich vor allem drei Ansätze durchgesetzt. Auf der Mikroebene würden eigene Viktimisierungserfahrungen betrachtet, auf der Mesoebene Einflussfaktoren im sozialen Nahraum und auf der Makroebene insbesondere medial vermittelte Bilder von Kriminalität. Sicherheitserleben umfasse „die Gesamtheit an kriminalitätsbezogenen und sicherheitsrelevanten Einstellungen und Überzeugungen, die vor dem Hintergrund situativer Rahmenbedingungen wahrnehmungs- und handlungsleitend wirken“ (S. 254). Die Autoren stellen wesentliche Ergebnisse ihrer Fragebogenstudien in Vechta und Cloppenburg vor. Die Resultate würden zeigen, dass die Befragten hinsichtlich Sicherheit vor allem der Gesellschaft eine hohe Verantwortung zuschreiben. Diese müsse ihre Verantwortung ernst nehmen, etwa in der Erziehung junger Menschen oder der Gestaltung des nachbarschaftlichen Raumes. Auch hier wird die Meinung vertreten, die Brutalität und Rücksichtslosigkeit von Straftätern sei stark angestiegen. Was den Beitrag von Migranten zum subjektiven Sicherheitserleben betrifft, zeigt sich eine große Varianz. Der Polizei wird mehr Vertrauen entgegengebracht als etwa der Justiz oder den politischen Parteien. Ein besonderes Gewicht kommt auch hier dem nachbarschaftlichen Vertrauen zu. Befragte unterer Sozial- und Einkommensschichten fühlen sich mit ihren Problemen eher alleingelassen, beurteilen Asylsuchende und Fremde auch eher negativ. Die Autoren plädieren abschließend für einen weiter gefassten Sicherheitsbegriff, gleichzeitig für eine stärkere Differenzierung zwischen „Kriminalitätsfurcht“, „Sicherheitserleben“ bzw. „Sicherheitsgefühl“. Besondere Bedeutung wird auch hier dem nachbarschaftlichen Raum, dem „lokalen Sozialkapital“ zugeschrieben (S. 270).
Yvette Völschow und Marlene Gadzala gehen in ihrem Beitrag (S. 277–292): „Zwischen Policing and Self-Policing: Handlungsstrategien im Alltag und Deutungsstrukturen professioneller AkteurInnen vor Ort“ auf Veränderungen der Sichtweise des ländlichen Raumes ein. Das dem Landleben im Gegensatz zum Leben in der Stadt zugeschriebene Bild entspreche vielfach nicht mehr unbedingt den realen Tatsachen. „Die Sozialstrukturen, Lebensstile und Denkmuster beider Räume haben sich angenähert und frühere klare Trennlinien verwischt“ (S. 277), Unterschiede würden aber trotzdem noch bestehen bleiben. Um unterschiedliche Deutungsmuster in Stadt und Land zu erfassen, wurden im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts „Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum“ – SIMENTA, elf leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Es wurden Praktiker aus den Bereichen Polizei, Justiz und Privates Sicherheitsgewerbe befragt. Die Sicherheitslage auf dem Lande wurde als gut bezeichnet, deutlich besser als im städtischen Bereich. Vor allem die Polizei bewertete den ländlichen Raum als sicherer. Insbesondere Verkehrssicherheit wurde als problematisch beurteilt. Es werden auch vermehrt Selbstschutzbemühungen angesprochen, Sicherheitsaufgaben würden mehr und mehr zu Aufgaben der Selbstvorsorge. Die Gewährleistung innerer Sicherheit werde deutlich als Aufgabe der Polizei gesehen. Private Sicherheitsdienste und bürgerwehrähnliche Zusammenschlüsse werden eher kritisch betrachtet. Das gegenseitige Aufeinander-Achten wird besonders betont. Vorkommnisse würden oft nicht gemeldet, was zu einem hohen Dunkelfeld beitrage. Die Eingebundenheit der Polizisten in das dörfliche Leben schaffe Vorteile, bringe aber auch Probleme mit sich. „Community Policing folgt der Idee, dass BürgerInnen und Polizei partnerschaftlich zusammenarbeiten“, um so Probleme der Kriminalität im lokalen Bereich zu lösen (S. 288). Wichtig seien die Nachbarschaft und das Vereinsleben, gemeinsam praktizierte informelle soziale Kontrolle. Die polizeilichen Strategien vor Ort orientierten sich weitestgehend an den Vorstellungen der etablierten Gruppen. In Bezug auf die Flüchtlingsarbeit und die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft sollte entsprechend für Perspektiven von Minderheiten-Gruppen sensibilisiert werden.
Sasche Schierz und Jan-Hendrik Stockmann gehen im letzten Kapitel des Bandes (S. 293–305): „Keeping Crime at a Distance: Medienkriminalität im ländlichen Raum“ der Frage nach, „inwieweit mediale Berichterstattung über Kriminalität einen Einfluss auf die Ausprägung von Sicherheitsmentalitäten nimmt und inwiefern Medienkriminalität vor dem Hintergrund von Sicherheitsmentalitäten angeeignet wird“ (S. 293). Die Autoren betonen, es ließen sich auch international kaum Studien zu Medien im ländlichen Raum finden, vor allem in Deutschland würden Studien zu Medienkriminalität auf dem Lande fehlen. Es soll in dem Beitrag ein „theoretischer Rahmen besprochen werden, der es ermöglichen soll, den … Zusammenhang von Mediennutzung und Sicherheitsmentalitäten hinreichend komplex zu thematisieren“ (S. 294). Das Bild über Kriminalität werde weitgehend durch Medienberichterstattung geprägt. Berichte über Kriminalität würden Normen verdeutlichen und für einen Konsens sorgen, den sie gleichzeitig meist selbst voraussetzen würden. Medien würden eine spezifische Kriminalitätswirklichkeit schreiben. Konsumierte Medieninhalte würden in der Regel so ausgewählt, dass sie die persönliche Einstellung stärken, man könne sich den Themen anschließen, deshalb würden aberauch nur in seltenen Fällen Meinungen und Bewertungen verändert. Es wurde „Der Spiegel“ und eine regionale Tageszeitung für die Jahre 1990–2011 ausgewertet. Im „Spiegel“ prägen eher Berichte über einen gesellschaftlichen Niedergang die Darstellungen. Die regionale Tageszeitung konzentriert sich mehr auf einzelne Delikte bzw. Serien von Straftaten. Hier wird mehr auf individuelle Verhaltensweisen eingegangen, es wird auch eher repressiv berichtet. Die Darstellung von Jugendkriminalität in der Stadt lässt diese als durch Gewalt und Kriminalität geprägt erscheinen. Die Medien würden deutlich die größere Sicherheit auf dem Lande betonen. „Während die ländliche Sicherheitslage vor Ort als gut eingeschätzt wird, scheint die Welt ‚da draußen‘ als unsicher und dient somit der Kontrastierung“ (S. 303).
Zielgruppen
In den einzelnen Beiträgen in dem Sammelband werden theoretische Hintergründe von ländlicher und städtischer Kriminalität auf der Basis eigener empirischer Untersuchungen diskutiert. Zurecht wird in verschiedenen Texten betont, dass sich die empirisch-kriminologische Forschung bisher wenig dem Bereich ländlicher Kriminalität und dem dortigen Sicherheitserleben zugewandt hat, wohl auch vor dem Hintergrund der Annahme, dass es dort nur wenig an Kriminalität gebe und das Sicherheitserleben, Kriminalitätsfurcht kein Problem darstelle. Weitgehend trifft das auch zu, wobei einzelne Beiträge betonen, dass hier ein Wandel im Gange sei, etwa auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Medialisierung der Gesellschaft. Kritisch wird vor allem auch das Konzept der Kriminalitätsfurcht und dessen empirische Erfassung diskutiert, mit dem Ansatz von „Sicherheitsmentalitäten“ eine breitere Sichtweise der Problematik dargestellt. Deutlich werden unterschiedliche Einflussfaktoren auf das Sicherheitserleben und Probleme deren empirischer Erfassung dargestellt. Die Veröffentlichung ist vor allem von Bedeutung für an einer vergleichenden Sicherheitsforschung zwischen Stadt und Land Interessierten, gibt zahlreiche Anregungen hinsichtlich der theoretischen Erfassung der Hintergründe von Unterschieden. Deutlich und überzeugend werden Zusammenhänge zwischen Sicherheitserleben auf dem Lande und gesellschaftlichen Bedingungen herausgearbeitet. Die Problematik des Konzepts der Verbrechensfurcht wird dargestellt, der breitere Ansatz von „Sicherheitsmentalitäten“ vorgeschlagen, der allerdings noch größere empirische Probleme bei der Erfassung bereiten dürfte. Zahlreiche Anregungen ergeben sich für die weitere Forschung in diesem Bereich.
Diskussion
Der Band mit insgesamt 9 Beiträgen zur Thematik von Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum trägt zur Schließung einer Lücke in der kriminologischen Forschung bei: Es gibt bisher kaum dezidierte Veröffentlichungen und empirische Untersuchungen zur Kriminalität in ländlichen Räumen und vor allem auch nicht zur Frage des Sicherheitsgefühls. Kriminalität und Verbrechensfurcht wird vor allem mit Großstädten verbunden, wenn überhaupt wurde nebenbei darauf eingegangen, dass in ländlichen Regionen alles besser sei. Hierbei wird etwa übersehen, dass Kriminalität in Städten zumindest teilweise durch Landbewohner importiert wird, was vor allem Jugendkriminalität betrifft. Obwohl Verbrechensfurcht vor allem (auch) als psychologische Fragestellung zu sehen ist, gibt es auch aus diesem Fachbereich kaum dezidierte Untersuchungen, was vor allem auch damit zu tun hat, dass sich die Psychologie, zumindest im deutschsprachigen Bereich, insgesamt kaum mit kriminologischen Fragestellungen beschäftigt. Kriminologie in Deutschland ist nach wie vor allem eine „juristische“ Angelegenheit, erst allmählich wandelt sie sich langsam mehr zu einer sozialwissenschaftlichen empirischen Disziplin. Die Beiträge in dem Sammelband sprechen zentrale Fragen der Sicherheitsforschung an, beschäftigen sich insbesondere mit dem vernachlässigten ländlichen Raum. Kriminalitätsfurcht wird zugunsten des breiteren Konzepts der Sicherheitsmentalitäten hintangestellt. Ist bereits Kriminalitätsfurcht ein komplexes Phänomen, das vor allem auch empirisch schwer zu erfassen ist, gilt das allerdings aber für Sicherheitsmentalitäten noch mehr. Auch hier werden sich erhebliche Operationalisierungsprobleme auftun, welche Forschungsergebnisse beeinträchtigen können. Wichtig scheint, dass der Band und die hier zusammengestellten Beiträge dezidiert auf die Bedeutung einer vermehrten Forschung zu Kriminalität und der Verarbeitung im ländlichen Raum hinweisen. Das vor allem auch deshalb, weil mehrere Autoren betonen, dass sich ländliche Strukturen aufweichen, etwa in Zusammenhang mit Einwanderungen oder auch dem Einfluss elektronischer Medien. Ländliche Strukturen und Problembereiche unterscheiden sich teilweise auch erheblich, auch was Kriminalität betrifft, was sich etwa an einem Vergleich ost- und westdeutscher ländlicher Lebensbedingungen zeigt.
Fazit
Der Sammelband spricht in seinen Beiträgen das weitgehend unerforschte Gebiet der Sicherheitsmentalitäten bzw. Verbrechensfurcht in ländlichen Bereichen an, macht auch deutlich, dass hier weitere empirische Forschung nötig ist. Die einzelnen Beiträge diskutieren die Thematik auf einer differenzierten theoretischen Ebene, Daten aus einem Forschungsprojekt zum Sicherheitserleben in zwei ländlichen Räumen in Niedersachsen untermauern die Überlegungen empirisch. Die Ausführungen geben zahlreiche Anregungen für eine weitere Forschung in dem Bereich, weisen auf Forschungslücken hin. Insbesondere eine möglichst valide Erfassung des Kriminalitätsgeschehens auf dem Land im Vergleich zu dem in der Stadt ist vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Erlebensweise und Zuordnung von abweichendem Verhalten im sozialen Nahraum eine erhebliche methodische Herausforderung. Gerade in heutiger Zeit, in der sich vor dem Hintergrund größerer Mobilität, einer weiten Verbreitung der sozialen Medien, die Unterschiede zwischen Stadt und Land zunehmend auflösen, kommt der Forschung in dem Bereich eine besondere Bedeutung zu.
Der Leser wird theoretisch-kritisch über das Sicherheitserleben und die Hintergründe im ländlichen Raum informiert. Ergebnisse aus empirischen Forschungsprojekten belegen die theoretisch ausgearbeiteten Unterschiede gut. Das Gesamturteil ist vor diesem Hintergrund: Empfehlenswert.
[1] Vgl. a. Daniela Klimke (2008). Wach- & Schließgesellschaft Deutschland. Sicherheitsmentalitäten in der Spätmoderne. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Kury
Universität Freiburg, Max Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht (pens.)
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Zitiervorschlag
Helmut Kury. Rezension vom 12.03.2020 zu:
Daniela Klimke, Nina Oelkers, Martin K. W. Schweer (Hrsg.): Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum. Springer VS
(Wiesbaden) 2019.
ISBN 978-3-658-15117-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26234.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
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