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Jörg-Philipp Thomsa: Duisburg 1945-2005

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.10.2019

Cover Jörg-Philipp Thomsa: Duisburg 1945-2005 ISBN 978-3-8375-0823-9

Jörg-Philipp Thomsa: Duisburg 1945-2005. Kulturpolitik in einer Industrie- und Arbeiterstadt. Klartext Verlag (Essen) 2019. 288 Seiten. ISBN 978-3-8375-0823-9. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR.

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„Wo Arbeit ist, muss Kultur hin!“

Arbeit ist ein Menschenrecht. Das Bild von einer funktionierenden, gerechten und humanen Gesellschaft ist geprägt von Strukturen und Erwartungshaltungen, wie sie sich z.B. als „globale Ethik“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, vom 19.12.1966, und in den nationalen Verfassungen und Grundrechtsvereinbarungen als soziale und allgemeine, nicht relativierbare Rechte darstellen. Es sind die Sozialsysteme, die soziale Gerechtigkeit und Sicherheit garantieren und die Arbeit als eine lebensweltliche, erfüllende, selbstbewusste und emanzipatorische Tätigkeit ausweisen. Es waren die Sozialreformer, die vor mehr als 130 Jahren den im Zeichen der industriellen Revolution sich darstellenden sozialen Verwerfungen, Ausbeutungen und unhaltbaren Existenz- und Arbeitsbedingungen eine Sozialgesetzgebung entgegen setzten und Arbeit als faire und gleichberechtigte Erwerbstätigkeit und Sinnerfüllung entgegen setzten (Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17372.php). Die Auseinandersetzungen halten in den Zeiten der Verunsicherungen, des Kapitalismus und Neoliberalismus und der Globalisierung an (Evi Hartmann, Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/7881.php). In den Zeiten der digitalen Revolution wird eine Sozialrevolution gefordert (Börries Hornemann/ Armin Steuernagel, Hrsg., Sozialrevolution! 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22517.php). Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit schließt ein, dass die Lebensgestaltung Einkommen, Auskommen und Menschenwürde beinhalten muss (Anette Dowideit, Die Angezählten. Wenn wir von unserer Arbeit nicht mehr leben können, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25894.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Die Forderungen nach Selbst- und Mitbestimmung bei Arbeitsprozessen erfordern, dass eine abhängige Tätigkeit nicht Maloche sein darf, von Ausbeutung befreit werden muss, und die Ganzheit einer humanen Lebensführung beinhalten muss. Weil der Mensch ein Homo rationalis und culturalis ist – und nicht nur ein Homo oeconomicus sein darf – sind Fragen nach Bildung und Aufklärung bedeutsam. Dabei ist wichtig, auf die historischen und gesellschaftlichen aktuellen Entwicklungsprozesse zu schauen, wie sie sich in den Industriestädten und -regionen vollziehen. Zum Beispiel im Ruhrgebiet, und hier speziell in der Industrie- und Arbeiterstadt Duisburg seit Kriegsende. Der Historiker Jörg-Philipp Thomsa hat 2017 an der Universität Duisburg-Essen mit der Studie „Duisburg 1945 – 2005“ promoviert. Er ist damit der Frage nachgegangen, welche kulturpolitischen Aktivitäten und Zielsetzungen in der Ruhrgebiets-Industrie- und Arbeiterstadt unternommen wurden. Er knüpfte an den in den 1920er Jahren vom Essener Oberbürgermeister Hans Luther formulierten Ausspruch an: „Wo Arbeit ist, muss Kultur hin!“. In der Studie geht er den Fragen nach, „wie in einer typischen Industrie- und Arbeiterstadt Kulturpolitik gestaltet wurde“; etwa, welche Zielgruppen angesprochen und einbezogen, welche Begrifflichkeiten und Methoden angewandt, welche kulturellen Formen gefördert wurden und wie sich die kulturelle Entwicklung auf die Bevölkerung ausgewirkt hat. Thomsa ist seit 2009 Leiter des „Günter-Grass-Hauses“ in Lübeck.

Aufbau und Inhalt

Weil Kulturpolitik in der bundesrepublikanischen Verfasstheit zuvorderst kommunalpolitisch organisiert ist, kommt es bei der Frage nach der kulturpolitischen Entwicklung in deutschen Städten und Regionen besonders darauf an, die lokalen Aktivitäten zu betrachten. Die Veränderungsprozesse, wie sie sich in der Industriestadt Duisburg seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollzogen haben, können sowohl als speziell, als auch exemplarisch angesehen werden: Zerstörung und Wiederaufbau, Bedeutung der Schwerindustrie und ihr Niedergang, Arbeitskräftebedarf und Arbeitslosigkeit, Anteil von MigrantInnen und Abwanderung. Die Stadt hatte 1975 rund 600.000 Einwohner, derzeit etwa 490.000. In der Metropolregion Rhein-Ruhr leben 10 Millionen Menschen. Mit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, 1999, bereitete sich Duisburg für den Strukturwandel weg von der Schwermetall-Stadt hin zur Kulturregion vor. Dieser Prozess dauert an.

Der Autor gliedert seine Studie in vier Kapitel.

  • Im ersten thematisiert er mit „Kultur in Trümmern“ die Situation, wie sie sich 1945 darstellte.
  • Im zweiten und dritten informiert er über die „Wiederherstellung kultureller Institutionen“, wie sie sich von 1945 bis 1969 vollzogen;
  • und im vierten Kapitel setzt er sich mit der „Kulturpolitik in der Zeit des wirtschaftlichen Strukturwandels von 1969 bis 2005“ auseinander.

Vor allem die dynamischen Prozesse in der Montanindustrie bescherten der Stadt von den beginnenden 1950er Jahren an einen Entwicklungsschub, der zum Wiederaufbau der während des Krieges weitgehend zerstörten kulturellen Einrichtungen: der Stadtbibliothek, der Volkshochschule, des Stadttheaters und der Errichtung der Deutschen Oper am Rhein, der Gründung des Wilhelm-Lehmbruck-Museums, dem Wiederaufbau der „Tonhalle“ (Mercatorhalle), und der Etablierung und Formierung von Künstlervereinigungen führte. Die offiziellen, offiziösen und privaten kulturpolitischen Initiativen bewirkten eine bemerkenswerte, von allen Bevölkerungsschichten getragene Aufbruchsstimmung. Der Aufbau von neuen Formen des theatralen und musikalischen Spiels, wie das „Studio M“ und das „Filmforum“, das als „Keimzelle des Kulturquartiers am Dellplatz“ gilt, die von der Stadtbibliothek ausgehenden Initiativen zur Förderung des literarischen Lebens in der Stadt – hatten immer auch zum Ziel, neben den traditionellen Teilnehmerschaften auch eher kulturfernere Gruppen, wie z.B. MigrantInnen und die Arbeiterschaft, zu erreichen. Mit den in den 1970er Jahren entstandenen „Duisburger Akzenten“, einem Kultur-Festival, gelang es, die verschiedenen kulturellen Aktivitäten in der Stadt zusammenzubringen und so an den unterschiedlichen Orten – vom Stadttheater bis zur Kneipe – kulturelles Leben zu initiieren. Mit Kunstmärkten, -messen und -ausstellungen vollzog sich eine Künstlerförderung; und mit dem „Eschhaus“ bildete sich 1974 das erste, unabhängige und selbstverwaltete Jugendzentrum in Deutschland. „Duisburg als Kunststadt“ etablierte sich, nicht ohne Knarzen und Stöhnen, mit der erst 1991 vollzogenen Gründung des Kultur- und Stadthistorischen Museums. Die Errichtung des „Musicaltheaters am Marientor“ 1996 orientierte sich an den (touristischen) Erfolgsgeschichten aus anderen Orten. Die euphorischen Erwartungen, z.B. mit dem Musical „Les Misérables“ einen Besucherboom zu erzeugen, freilich erfüllten sich nicht, so dass das Unternehmen 2000 Pleite ging, Die „Hafenstadt am Rhein“ reagierte bereits 1927 mit der Errichtung des Schifffahrtsmuseums, das erst 70 Jahre später als „Binnenschifffahrtsmuseum“ seinen endgültigen Standort im Hafengelände fand. Die „unendliche Geschichte“ des Hafens von Duisburg, der als „Montanumschlagplatz“ über Jahrzehnte hin prosperierte, um sich schließlich 1991 als „moderner Universalhafen und Güterverkehrszentrum mit vielfältigen Aufgaben“ zu etablieren. Die 2011 vollzogene Entwicklung des „Freihafens Duisburg“ hin zur Drehscheibe des deutsch-/europäischen/chinesischen Handels, mit der direkten Zugverbindung von Duisburg nach Chonging (und den durchaus differenten, positiven wie fragwürdigen Auswirkungen) konnte der Autor in seiner Studie noch nicht berücksichtigen. 

Fazit

Eine Bestandsaufnahme, die das Ziel hat, die geschichtlichen und aktuellen kulturellen Entwicklungen einer Großstadt zu skizzieren, unterliegt immer der Gefahr, einen abhängigen Blick auf die verschiedenen offiziellen und öffiziösen Aktivitäten zu richten. Diesen Vorwurf kann man Jörg-Philipp Thomsa nicht machen. Er analysiert die Reformbemühungen, wie auch die Rückschläge und das Scheitern, objektiv. Der Verlust von Steuereinnahmen, von Arbeitsplätzen, die Pendelbewegungen, als Anstieg und Rückgang der Einwohnerzahlen im Laufe des letzten Jahrhunderts bewirken (auch) in Duisburg Maßnahmen, die Auswirkungen auf die Veränderungsprozesse weg vom Industrie- und hin zum Lebensstandort haben. Hier steht Duisburg in Konkurrenz zu den anderen Ruhrgebietsorten, wie auch darüber hinaus. Es sind besonders zwei Elemente, die als exemplarisch für die kulturelle Entwicklung in den Stadtlandschaften in Deutschland angesehen werden können, und sich am Beispiel Duisburg aufzeigen lassen. Zum einen die Wandlungen im Bereich des „Hochkulturmotivs“ und des „schöngeistigen“ Denkens; zum anderen mit dem „Demokratisierungsmotiv“ und der Forderung „Kultur für alle“. Kultur soll nicht mehr nur für das „klassische Bildungsbürgertum“ gelten, sondern auch für die anderen gesellschaftlichen Gruppen. An einigen Stellen kann dies in Duisburg geortet werden; z.B. mit dem Anfang der 1990er Jahre entstandenem Landschaftspark Duisburg-Nord, auf dem die brachliegenden Flächen der ehemaligen Zeche und Kokerei Thyssen und des Hüttenwerks umgewidmet wurden; wie auch der Auf- und Ausbau des Duisburger Binnenhafens zu einem „postindustriellen multifunktionalen Dienstleistungspark“. Die Entwicklung ist im Zeichen des globalen Zeit- und Lebensmaßes auch in Duisburg in vollem Gang. Die Stadt ist eingebunden in die Metropolregion Rhein-Ruhr; und sie wird nur so lebensweltlich, sozial- und kulturpolitisch überlebensfähig sein!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245