Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik
Rezensiert von Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz, 13.01.2020

Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 414 Seiten. ISBN 978-3-7799-6114-7. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,30 sFr.
Autor
Christoph Butterwegge ist als kritischer Politikwissenschaftler einem großen Publikum über viele Jahre hinweg bekannt, der immer wieder engagiert auftritt und sich klar positioniert und nicht müde wird soziale Ungleichheit als Skandal anzuprangern. Er ist einer der wenigen Wissenschaftler, der sich öffentlich und politisch-normativ äußert und Armut und Ausgrenzung als das bezeichnet was es ist: ein gesellschaftlicher Skandal in einem sehr reichen Land, den es eigentlich nicht geben dürfte. Das vorliegende Buch bündelt seine vielfach vorgetragenen Überlegungen und kombiniert diese neu. Es gipfelt in seiner ebenfalls schon vorgetragenen These der „Polarisierung“ der Republik, die er als „zerrissen“ identifiziert.
Aufbau
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, die sich der Sozialstrukturentwicklung und sozialer Ungleichheit in verschiedenen Facetten nähern, sowohl historisch als auch aktuell. Diese Diskurse beginnen mit Definitionen, setzen sich mit ausgewählten Studien seit 1945 auseinander, indem sie diese auf ihre Aussagekraft prüfen. Im Fortgang werden Erscheinungsformen wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten ausgebreitet. In der Logik der Argumentation des Buches folgen Blicke auf Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen. Das letzte Kapitel führt die verschiedenen Stränge zusammen und zeigt die Konturen einer „zerrissenen Republik“, wie der Autor die BRD nachvollziehbar, verständlich und doch auch ein wenig moralisierend, was nicht unbedingt problematisch ist, analysiert und darstellt. Hierbei geht er auch auf Tendenzen des Rechtspopulismus ein.
Inhalt
Im ersten Kapitel werden Definitionen, Dimensionen und Diskussionen ausgebreitet, die als Grundlage gesellschaftlicher Ungleichheit bedeutsam sind. Gesellschaftliche Ungleichheit, so der hier formulierte Tenor des Buches, muss immer als Komplex in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Dimensionen gesehen werden. Dabei wird intensiv das Verhältnis von Reichtum und Armut erörtert, Armut gibt es nur, so die klare Aussage, da es zugleich auch einen immensen Reichtum gibt. Um diese Zusammenhänge theoretisch zu verstehen und auf den Begriff zu bringen stellt der Autor drei verschiedene Theorien sozialer Ungleichheit dar, die bis heute die Debatte formieren. Das ist die Klassenanalyse nach Karl Marx und Friedrich Engels, die Typologie der Klassen und Stände nach Max Weber und schließlich die Schichtungssoziologie, die mit Theodor Geiger begann. Alle wurden bis heute weiterentwickelt und haben dabei an analytischer Strenge und Aussagekraft gewonnen.
Wichtige und gesellschaftlich breit diskutierte Untersuchungen zur Sozialstruktur, die sich vor allem auf die westdeutsche beziehen, werden im zweiten Kapitel einer kritischen Reflektion unterzogen. Dabei setzt der Autor mit seinen Analysen nach 1945 an und fokussiert sich auf bekannte Studien, die quasi Klassiker sind. Dazu gehören: die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ von Helmut Schelsky; die Thesen einer „industriellen Klassengesellschaft“ von Ralf Dahrendorf; die vielfachen Arbeiten der Kritischen Theorie, von Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Claus Offe sowie Ludwig Marcuse; die Thesen von Ulrich Beck zur „Risikogesellschaft“ und der von ihm beschriebene „Fahrstuhl-Effekt“; Heinz Bude wird mit seinen These über das Prekariat, die „Ausgeschlossenen und Überflüsssigen“ hinterfragt; schließlich werden noch zwei aktuelle Studien vorgestellt und kritisch diskutiert, nämlich Oliver Nachtwey und seine Arbeiten zum „Rolltreppen-Effekt“ und zur „Abstiegsgesellschaft“ sowie Andreas Reckwitz und sein viel beachtetes Buch „Gesellschaft der Singularitäten“. Der Autor versucht dabei zu diskutieren, wie „seriös“ diese Untersuchungen jeweils waren oder ob sie von „purer Ideologie“ angetrieben wurden. Dabei werden normative Kriterien dessen herangezogen, was unter Ideologie zu verstehen sein könnte. Das wird sicherlich nicht jedem Leser gefallen, aber es ist in seiner Klarheit und Stringenz nachvollziehbar. Die mitunter normative geführte Debatte ist absolut erfrischend und sorgt bei einigen der untersuchten Studien für die beabsichtigte Klarheit, dass sie wesentlich auch durchgeführt wurden, um Ungleichheit zu verharmlosen bzw. als tendenziell verschwindend zu diagnostizieren. Das Spannende an diesem eigentlich zentralen Kapitel ist aber vor allem darin zu sehen, dass es einerseits einen guten Überblick zur Auseinandersetzung mit Ungleichheit liefert und anderseits diese in eine Kontinuität stellt, die immer auch mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen einhergeht, was ja der Intention des Buches entspricht. So entstand Schelskys Studie zu einer Zeit, in der man glaubte Ungleichheit sei überwunden. Die aktuelle Studie von Nachtwey hingegen wurde in einer Zeit erarbeitet, in der Armut und Ausgrenzung offensichtlich sind und es einen öffentlichen und skandalisierenden Diskurs darüber gibt.
Daran schließt im dritten Kapitel eine Diskursanalyse von sozialstruktureller Entwicklungen und der öffentlichen und vor allem politischen Thematisierung von Ungleichheit an. Dies beginnt mit einer Auseinandersetzung von Ereignissen wie Währungsreform und den Narrativen des „Wirtschaftswunders“ sowie des „Wohlstands für Alle“. Es geht weiter zu Thesen und Überlegungen, die sich mit dem „abgehängten Prekariat“ und einer „Erosion der Mittelschichten“ beschäftigen. Es mündet in einer scharfsinnigen Analyse des „Tafel-Interviews“ von Jens Spahn. Eingestreut wird auf Entwicklungen und Debatten in der DDR eingegangen; dieser Blick hätte etwas deutlicher und klarer werden können. Dieses Kapitel setzt insgesamt die zwei großen Linien des Buches fort: es zeigt wie sich gesellschaftliche Diskurse im Kontext der sozialstrukturellen Entwicklungen entfalten und wie diese aufeinander bezogen sind; es illustriert zum anderen, dass Ungleichheit sich nur als ein Komplex wirtschaftlicher, sozialer und politischer Dimensionen begreifen lässt bzw. darin entsteht und sich verfestigt.
Konsequent werden im vierten Kapitel die Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit ausgebreitet. Der Leser erfährt Fakten über die Polarisierung von Privatvermögen und Einkommen. Erörtert wird inwieweit das Bildungssystem sozioökonomische Ungleichheit reproduziert. Schließlich werden auch noch Fakten und Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit dargestellt. Insgesamt schafft es dieses Kapitel einen umfassenden Einblick in Daten und Fakten zu gewinnen, mit denen Ungleichheit analysiert und zugleich beschrieben werden kann. Deutlich wird wie verfestigt diese ist und wie polarisiert zugleich die Gesellschaft daherkommt.
Im fünften Kapitel diskutiert der Autor Ursachen und Entwicklungen, die zu Ungleichheit führen; er spricht dabei von einem Zusammenhang, in dem aus „Prekarisierung“ eine „Pauperisierung“ wird, die sich schließlich in einer „Polarisierung“ verdichtet. Er geht dabei ganz klar davon aus, und leitet dies immer wieder her, dass dieser Neoliberalismus eine „US-Amerikanisierung“ von ökonomischen, sozialen und politischen Prozessen in der Republik meint. Die Argumente hierfür werden zwar herausgearbeitet, dennoch überzeugen sie nicht völlig. Irgendwie hat man beim Lesen den Eindruck, dass „der Feind“ und damit der eigentliche Verursacher von Ungleichheit in den USA angesiedelt sei und die „Deutschen“ diesem fragwürdigen Vorbild nahezu kritiklos nacheifern. Spannend wäre es gewesen, unabhängig von diesem Bezug auf die USA, der ja nicht zu verleugnen ist, noch stärker nach Dynamiken in der BRD bzw. in der EU zu suchen, die eigenständig neoliberale Reformen angetrieben haben. Im Kapitel werden vor diesem Hintergrund Entwicklungen vor allem aufgelistet, aber dennoch in einen stringenten Zusammenhang gebracht, die überwiegend bekannte Fakten und Thesen darstellen. Das beginnt mit dem Leitmotiv des „Neoliberalismus als einem der wichtigsten und wirksamsten Hintergründe von Ungleichheit“. Die Argumentation geht weiter zu Prozessen der „Deregulierung von Arbeitsmärkten“ sowie eines damit verbundenen „Umbaus des Wohlfahrtsstaates“, was als „Abwertung, Ökonomisierung und Privatisierung des Sozialen“ gesehen wird und u.a. zur Einführung von „Hartz IV“ führte. Schließlich werden noch die „Steuergeschenke“ für Reiche reflektiert. Das Kapitel gipfelt in einer Analyse, inwiefern die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise eine weitere Verschärfung von Ungleichheit war.
Das sechste Kapitel bündelt alle seitherigen Überlegungen und ermöglicht, erneut mit einem deutlichen Bezug auf die USA, tiefe Einblicke in die Sozialstruktur einer „zerrissenen Republik“. Dabei wird der Fokus noch einmal geöffnet und weiter gefasst; der Autor wirft Blicke auf eine Globalisierung von Ungleichheit. Allerdings hätte man sich hier als kritischer Leser auch eine Auseinandersetzung mit Thesen der „imperialen Lebensweise“ und der „Externalisierung“ erhofft, die den Norden als Gewinner zeigen und den Süden als Verlierer im globalen Kontext. Das Kapitel zeigt schließlich wie sich das soziale Klima verhärtet, auch hier wieder unter Bezug auf die USA, und sich Ungleichheit verfestigt. Es zeichnet die Überlegungen des Autors aus, dass er in den letzten Abschnitten dieses Kapitels, und somit quasi als Schluss, in wachsender und verfestigter Ungleichheit eine „Krise der Demokratie“ sieht und auf den Rechtspopulismus verweist, dem er Sozialdarwinismus nachweisen kann. In seinen abschließenden Überlegungen stellt er der Politik Aufgaben, die sie lösen muss um Ungleichheit abzubauen und eine Krise der Demokratie zu verhindern.
Diskussion
Das Buch bietet den Lesern keine wirklichen Überraschungen, es präsentiert keine neuen Untersuchungen, es liefert auch keine völlig neuen Fakten. Es stützt sich auf bekannte Studien und vom Autor vielfach vorgetragene Überlegungen. Es diskutiert diese allerdings im Überblick und bringt sie zugleich in einen neuen Zusammenhang. Dabei „entdeckt“ der Autor Diskurse und beleuchtet Studien, die in der letzten Zeit kaum noch im Fokus waren. Indem diese miteinander verbunden werden zeigt er nicht nur deren Aktualität und Relevanz für eine kritische und reflexive Betrachtung sozialer Ungleichheit, es gelingt auch eine neue und intensive Betrachtung derselben.
Dem Autor gelingt es nicht nur historische Fäden zu ziehen und Diskurse, die veraltet schienen, zu rekonstruieren; ihm gelingt es vor allem, vor langer Zeit vorgetragene Überlegungen zur sozialen Ungleichheit mit aktuellen Positionen verbinden. Dadurch werden Kontinuitäten und notwendige Brüche erkennbar, die so noch nicht gesehen wurden. Deutlich wird wie intensiv und kontrovers über soziale Ungleichheit geforscht und nachgedacht wurde. Obwohl diese immer wieder öffentlich präsentiert wurden gab es kaum politische Reaktionen hierauf, die sie tatsächlich als Problem gesehen und daran gearbeitet hätten sie zu verhindern oder zumindest abzubauen. Deutlich wird beim Lesen des Buches, das im Übrigen sehr verständlich geschrieben ist, wie sich die Republik, insbesondere auch nach der Wiedervereinigung, immer mehr mit sozialer Ungleichheit arrangierte und in ihren Grundfesten sogar darauf aufbaut. Dem Wohlstand auf der einen Seite, der stetig wuchs, muss notwendig auf der anderen Seite eine immer größer und bedrohlicher werdende Armut gegenüberstehen.
Letztlich steuerte diese Republik auf die Einführung der Hartz-Gesetze zu und verfestigte damit ihre Polarisierung nahezu dauerhaft. Die Politik, und auch die Öffentlichkeit, dieser Gesellschaft haben es zugelassen, dass diese inzwischen eine „zerrissene Republik“ ist, wie es der Autor etwas empathisch und plakativ, aber dennoch zurecht, formuliert. Es gehört zur Stärke des Buches, das es aus vielen Diskursen einen Gemeinsamen schmiedet, der als Ganzes einen kritischen Blick auf Entstehung und Aktualität der Gesellschaft öffnet und das Narrativ einer „zerrissene Republik“ in die Welt setzt.
Das Buch zeichnet sich, wie betont, dadurch aus, dass es Bekanntes neu zusammenstellt und somit Türen der Reflektion öffnet, hinter denen tatsächliche neue Erkenntnisse aufscheinen. Das Buch ist somit Beides: eine historische Rekonstruktion der Forschung und des Denkens über soziale Ungleichheit und die Herstellung eines neuen und spannenden Zusammenhangs dieser Studien und Überlegungen. Es fokussiert zudem die bisherigen Arbeiten des Autors in einem Werk, das alles in einen klaren Kontext einbindet. In dieser Doppelung ist es zugleich eine Provokation, mit den Mitteln der Wissenschaft, als auch eine intellektuelle Herausforderung, da es erforderlich macht in größeren Zusammenhängen zu denken. Es zeigt vor allem der Politik in diesem Lande, was sie nicht tut aber tun sollte, da sie um die soziale Lage vieler Menschen wissen muss.
Zu beklagen ist allerdings, und das schadet dem Buch nicht, dass die Diskurse um Rechtspopulismus, zu dem der Autor gleichfalls einiges publiziert hat, doch etwas am Rande stattfinden. Dennoch gelingt es ihm, diesen Diskurs geschickt und zielgerichtet mit dem essentiellen Thema, der sozialen Ungleichheit, zu verknüpfen. Es ist aber auch an manchen Stellen nicht ganz schlüssig, weshalb immer wieder die USA als Verursacher von Entwicklungen besonders hervorgehoben werden.
Fazit
Mit diesem Buch gelingt es dem Autor die von ihm schon vielfach vorgetragenen Überlegungen zur sozialen Ungleichheit und Armut, insbesondere auch seine Kritik an Hartz IV, in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen, den er in der Metapher „zerrissene Republik“ bündelt. Trotz vieler aus anderen Publikationen bekannter Fakten und Überlegungen gelingen dabei immer wieder überraschende Momente und Wendungen. Der Autor schafft es seine Überlegungen neu zu kombinieren und erreicht damit auch ein neues und somit auch aussagekräftiges Buch.
Das Buch ist damit vieles auf einmal: Eine Zusammenstellung von Studien zu sozialer Ungleichheit, die in einem neuen Zusammenhang gebracht werden; eine Bündelung der seitherigen Arbeiten des Autors, die so ihren Kontext und Zusammenhang erfahren und quasi auch einen Rückblick bzw. Ausblick auf dessen Werk darstellen; eine Art Lehrbuch das sich als historische Rekonstruktion der Diskurse und Narrative zu sozialer Ungleichheit erweist.
Es bietet dem Leser einen neuen und kritischen Blick auf soziale Ungleichheit, der mitunter überrascht, obwohl es kaum Neues zu bieten hat. Dennoch stellt es für die Debatten und zukünftigen Thematisierungen sozialer Ungleichheit einen wichtigen Meilenstein dar und wird sicherlich in Seminaren, Tagungen und Diskursen über soziale Ungleichheit Eingang finden. Es wird viele Leser finden, und das sicherlich nicht nur in der akademischen Welt.
Rezension von
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
Soziologe und Anthropologe
Fachhochschule Erfurt
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