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Michael Wrentschur: Forumtheater, szenisches Forschen und Soziale Arbeit

Rezensiert von Stephan B. Antczack, 01.12.2021

Cover Michael Wrentschur: Forumtheater, szenisches Forschen und Soziale Arbeit ISBN 978-3-7799-6116-1

Michael Wrentschur: Forumtheater, szenisches Forschen und Soziale Arbeit. Diskurse - Verfahren - Fallstudien. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 1068 Seiten. ISBN 978-3-7799-6116-1. D: 68,00 EUR, A: 70,00 EUR, CH: 87,60 sFr.
Reihe: Edition Soziale Arbeit.

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Thema

Mit diesem Lehrbuch der Sozialen Arbeit wird eine Grundlegung auf den Markt gebracht, die das „Forumtheater“ aus dem Spektrum des „Theaters der Unterdrückten“ (TdU) nach Augusto Boal zum zentralen Gegenstand macht. Dem Autor geht es um eine Anbindung des Forumtheaters an fachliche Diskurse, sowohl der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik, aber ebenso zur Theaterpädagogik und zur Soziokultur (vgl. S. 38). Dabei wählt er einen multiperspektivischen und interdisziplinären Zugang. Einen Schwerpunkt setzt das Werk in der Methodologie und in der Forschungspraxis. Drei Theaterprojekte, die über Jahrzehnte evaluiert wurden, dienen der praktischen Begründung und wissenschaftlichen Evidenz.

Das Forumtheater, ein Kind der 70er Jahre, fand mit dem Exil des Brasilianischen Theatermachers Augusto Boal den Weg nach Europa. In vielen Workshops gab Boal reformwilligen Kräften Impulse, Forumtheater methodisch an Universitäten (genannt seien hier Dietlinde Gipser aus Hamburg, Florian Vaßen aus Hannover Daniel Feldhendler aus Frankfurt/Main, Henry Thorau in Trier oder Michael Wrentschur in Graz) und Hochschulen (Bernd Ruping/Osnabrück, Gerd Koch und nachfolgend Johanna Kaiser an der ASH/Berlin, Hanne Seitz/Potsdam) zu erproben. An den Ausbildungseinrichtungen der akademischen Sozialen Arbeit sind Professuren und Dozenturen für Theaterpädagogik, performative Kulturarbeit oder „Theaterarbeit in sozialen Feldern“ inzwischen gut etabliert. Theaterarbeit ist meist auf modularer Basis Bestandteil des Studiums. In diesem Kontext ist diese Arbeit zu verorten (vgl. S. 39) In der Literatur finden sich nur wenig direkte Bezüge vom Forumtheater zur Sozialen Arbeit (Clausen, Jens u.a. 2009: Kieztheater, Stuttgart). Wrentschur beklagt vor allem die mangelnde Wirkungsforschung zum Forumtheater (vgl. 38). Eine systematische wissenschaftliche Begründung für Theaterarbeit in der Sozialen Arbeit fehlte bislang und wird nun sattsam geliefert. Es ist an der Zeit, den „Galuske“ endlich um ein Kapitel zur Theaterarbeit zu ergänzen (Galuske, Michael 2013, 1998: Einführung in die Methoden der Sozialen Arbeit, 10. Aufl., Weinheim Basel, München.).

Autor

Michael Wrentschur, Jahrgang 1966, ist seit Jahrzehnten Hochschullehrer für Sozialpädagogik am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Österreich. Mit diesem Werk publiziert Michael Wrentschur seine Habilitationsschrift. Dafür wurde der Autor am 22. März 2021 mit dem Österreichischen Wissenschaftspreis für Soziale Arbeit ausgezeichnet. Wrentschur ist gleichzeitig künstlerischer Leiter von InterACT, der »Werkstatt für Theater und Soziokultur« in Graz und macht sich um die Etablierung des Forumtheaters in ganz Europa verdient. 2009 war Wrentschur wesentlich an der Organisation des Welt-Forumtheater-Festivals in Graz beteiligt, dass zur ersten internationalen Veranstaltung ohne den charismatischen Theatermacher Augusto Boal wurde. Sie war geprägt vom Schmerz des Verlustes, und öffnete ein neues Kapitel der internationalen Gemeinschaft des TdU.

Entstehungshintergrund

2004 legte der Autor mit seiner Promotion »Theaterpädagogische Wege in den öffentlichen Raum. Zwischen struktureller Gewalt und lebendiger Beteiligung« im Stuttgarter Ibidem Verlag eine wegweisende Arbeit für die akademische Anerkennung des „Theaters der Unterdrückten“ im deutschsprachigen Raum vor. Inzwischen gibt es einen internationalen akademischen Diskurs zum TdU. Wesentliche Impulse setzt hier die indische Theaterbewegung „Jana Sankriti“ (JS) geleitet von Sanjoy Ganguly, einem langjährigen und engen Freund Augusto Boals (Ganguly, Sanjoy [2011]: Forumtheater und Demokratie in Indien, Übersetzung und Hrsg.: Fritz, Birgit, Wien). JS betreibt ein Forschungszentrum für TdU, das westlich von Kolkata in Indien gegründet wurde. Wrentschur regt an verschiedenen Stellen internationale Diskurse an, die aber überwiegend in der deutschsprachigen Literatur beheimatet sind, d.h. dort gelesen und diskutiert werden. 2006 veröffentlichte er beispielsweise einen profunden Übersichtsartikel zum damaligen Stand des TdU in der Zeitschrift für Theaterpädagogik (Wrentschur, Michael (2006): »Das ‚Theater der Unterdrückten‘ als internationale, politische und ästhetische Bewegung. Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik, 22. Jg., 49: 33–40).

Aufbau

Das mehr als tausend Seiten füllende Werk könnte dabei gut in drei Bände aufgeteilt werden: 1.) Theorien und Diskurse 2.) Methodologie und Theorien zur szenischen Forschung und 3.) Exemplarische Darstellung von Forschungsprozessen durch Forumtheater. Der offizielle Aufbau des Werkes gliedert sich in sechs Teile: Einstiege und Annäherungen (subjektiver Zugang)/Darstellung der Konzeption des Forumtheaters im TdU/fachliche Diskurse und Theorien in der Sozialen Arbeit, der Theaterpädagogik und der Soziokultur mit Bezug auf Forumtheater/​methodologische Perspektiven und Diskurs/​Fallstudien und der Abschluss und Ausblick.

Inhalt

In seiner Annäherung berichtet Wrentschur im ersten Teil von seinem persönlichen Zugang zum Forschungsfeld über ein Projekt zum „Legislativen Theater mit wohnungslosen Menschen“. Beim „Legislativen Theater“ nach Augusto Boal wird das Forumtheater so weiterentwickelt, dass aus den verschiedenen Konfliktformationen mit den beteiligten Teilnehmer*innen Gesetze entwickelt werden.

Im zweiten Teil wird das Forumtheater als „Prozess und Produkt“ (S. 71–103) dargestellt. Hier wird Analyse und Entstehung der Szenen auf theoretischer Basis skizziert, sowie dramaturgische Elemente zur ästhetischen Gestaltung. Dieser Teilabschnitt bietet für Praktikerinnen des TdU einen soliden, theoretisch fundierten Handlungsleitfaden. Es folgt eine theoretische Einführung in das „Legislative Theater“(S. 104–112). Am Ende erfolgt ein „kritische Würdigung“ des Forumtheaters (S. 133–153).

Dargestellt werden im dritten Teil fachliche Diskurse und Orientierungen der Sozialen Arbeit, der Theaterpädagogik und der Soziokultur. Vorgestellt werden zunächst Konzeptionen der Sozialen Arbeit, bei der der lebensweltorientierte Ansatz nach Hans Thiersch, ebenso Ansätze der Kritischen Sozialen Arbeit, sowie systemischen Ansätze der Sozialen Arbeit näher betrachtet werden. Diskurse zu Differenz, Vielfalt und Anerkennung, zur Handlungsfähigkeit, zu Körper und Habitus, sowie zu Machtrelationen und Empowerment wecken beim Autor die Hoffnung und „Forderung auf eine Repolitisierung der Sozialen Arbeit als Weiterführung einer offensiven Sozialpädagogik“ (S. 39). Der Abgleich mit bildungspolitischen Perspektiven beginnt mit einem Rekurs auf kritisch-emanzipative Bildungstheorien. Insbesondere die Ansätze der Kritischen Pädagogik von Armin Bernhard und Lutz Rothermel, sowie von Daniela Holzer erfahren eine nähere Beschreibung, deren Fokus sich auf die Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen richtet und dabei die Hegemonie-Konzeption Antonio Gramscis im Gepäck führt. Auf Gramsci wird allerdings nicht näher eingegangen (S. 258-267). Holzer, verankert ihre Sicht einer „Kritischen Bildung“ in der intellektuellen Heimat bei Heinz-Joachim Heydorn und Ernst Bloch (S. 263). Wrentschur führt weitere Theorien zu Bildungsprozessen im sozialen Raum aus und leitet über zu einer Gegenüberstellung der Konzeptionen von Ästhetischer Bildung und Kultureller Bildung. Unter bildungsperspektivischem Blickwinkel wird die Profession der „Theaterpädagogik“ als ästhetisch-kulturelle und soziale Praxis und Bildung (Punkt 13) diskutiert (S. 287–299). Anschließend werden verschiedene, dem Autoren nahe und vertraute theaterpädagogische Strategien vorgestellt, andere werden nur randständig berührt. Weniger berührt werden etwa die (theater-)pädagogischen Impulse des Improvisationstheater nach Keith Johnstone oder die gesamte Wucht des postdramatischen Theaters von Frank Castorf und Christoph Schlingensief bis hin zu Gruppen wie SheShePop, Rimini Protokoll oder Fräulein Wunder AG. Es fehlen Verweise auf das Potenzial aus dem Repertoire des Musiktheaters, begonnen beim Atze Musiktheater, über die Neuköllner Oper (zeitgenössische Musik) bis zur klassischen Oper. Es fehlen Verweise auf das moderne Kinder- und Jugendtheater (z.B. Grips, Rote Grütze, Theater an der Parkaue, etc.), die längst Formen des Comunity-Theaters bedienen und auf die lokale Politik einwirken. Aktionskunst und Performance bleiben von den Diskursen um Soziale Arbeit ausgeklammert. Die Ausführlichkeit mit der sich Wrentschur dem Forumtheater widmet suggeriert einen Bedarf, der das Werk endgültig aus den Angeln heben würde. Gegen Ende des dritten Teiles erörtert Wrentschur das Forumtheater unter partizipativen und interaktiven Gesichtspunkten. Es werden historische Bezüge zum „Volkstheater“, aber ebenso zum Politischen Theater der Weimarer Zeit (Bert Brecht, Erwin Piscator) zum AgitProp (Friedrich Wolf), zum Lehrstück (Bert Brecht, Heiner Müller, Reiner Steinweg) und zum Animations- und Mitspieltheater hergestellt. Vorwärtsgewandt wird das Forumtheater zum Biografischen Theater (Norma Köhler, Maike Plath) und zum Playbacktheater (Jo Salas, Daniel Feldhendler) in Bezug gesetzt. Dabei bietet die Diskussion um „Partizipation“ (14) eine sehr aktuellen Diskurs in der Theaterpädagogik, dem im Folgenden Raum geboten wird (S. 319–323, vgl. aktuell auch: Johannes Kup: Das Theater der Teilhabe. Zum Diskurs um Partizipation in der zeitgenössischen Theaterpädagogik, Uckerland OT Milow 2019: Schibri). Im nächsten Schwerpunkt (15) diskutiert Wrentschur die Rolle von Kultur und Kulturarbeit in der Sozialen Arbeit. Grundlage sind Ausführungen zum „kulturellen Mandat der Sozialen Arbeit“ sowie zu den Grundlagen des Kulturbegriffs. Wrentschur fragt, ob der „Cultural Turn“ in der Sozialen Arbeit angekommen sei. Er setzt auf soziokulturelle Perspektiven und stellt die Frage nach dem kulturellen Mandat der Sozialen Arbeit. Im Schlusskapital befasst er sich mit der Theaterarbeit in sozialen Handlungsfeldern und fragt nach theatralen Interventionen im sozialen Alltag und in sozialen Lebenswelten (z.B. durch „Unsichtbares Theater“).

Im vierten Teil stellt Wrentschur methodologische Ansätze des Theaterspiels in der Forschung vor. Hier grenzt er Theaterspiel als Forschung von der performativen Sozialforschung und das szenische Forschen voneinander ab. Es werden ausgewählte Forschungansätze, wie z.B. die „Lehrstückarbeit“ und das „Szenische Spiel“ vorgestellt. Gemeinsam sind diesen Ansätzen die Merkmale des Gebrauchs des Körpers, der Sinne, der ästhetischen Wahrnehmung und Erkenntnis, Aktions- und Handlungsdimensionen und die Herstellung eines Alltags- und Lebensweltbezugs. Gemeinsam ist den Verfahren die Unmittelbarkeit des Forschungsprozesses. Die Unterschiede ergeben sich aus den theoretischen Konzeptionen und der Verwendung unterschiedlichster Forschungsmethoden. (S. 401–404). Sehr üppig werden grundlegende Ideen, Begriffe und Konzeptionen des Forumtheater als Methode des szenischen Forschens vorgestellt (Schwerpunkt 19, S. 405–420). Das Kapitel 20 behandelt verschiedene methodologische Forschungsmethoden. Dazu zählen die „Aktionsforschung“ und die „partizipative Forschung“, die Kritische Adressat*innen-Forschung und Ansätze der Ethnografie (S. 421–487).

Das Schlusskapitel des vierten Teiles befasst sich mit der Begleit- und Wirkungsforschung. Er startet mit theaterpädagogischen Diskursen zur Forschung (S. 490–514). Es folgen Wirkungsanalysen und -diskurse in der Sozialen Arbeit. (S. 515–539)

Der fünfte Teil erörtert in aller Ausführlichkeit die drei Forumtheater-Stücke von InterAct aus Graz, ihre grundlegenden Ideen und Hintergründe, ihre Entstehungsgeschichte und die Aufführungsprozedur, sowie die Auswertung der Publikums-Interventionen. Entstehung, Entwicklung, sowie die Interventionen sind bei allen Stücken bemerkenswert gut dokumentiert. Das betrifft z.B. die Fallstudien „Alles Liebe, Dein Dieter!“ (vgl. S. 540–612). Der Autor dieser Rezension erinnert sich gut an die Diskussionen zum Stück beim 9. Welt-Forumtheater-Festival in Graz/Austria. Fallstudie 2 skizziert das Forumtheaterprojekt „ZusammenSpiel“ zur ästhetischen Wirkung im Sozialen Raum (vgl. S. 614–671), sowie Fallstudie drei: „Kein Kies zum Kurven Kratzen“ zur Frage der Armut, vor allem im Alter (vgl. S. 672–970). Das Forumtheater zeigte sich als besondere Ausdrucksform für und von Armutsbetroffenen. Die Fallstudien beweisen nach Wrentschur die Erforderlichkeit, „unterschiedliche Zugangsweisen und Perspektiven auf Problem- und Konfliktlagen, bzw. auf Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zu verfolgen“ (S. 975).

Es folgt als sechster Teil der Abschluss und Ausblick (vgl. S. 983–1006).

Forumtheater schafft Emotionalität und fördert das Mitfühlen bezüglich sozialer Konflikte und Problemlagen. Es schafft einen ästhetischen und sozialen Raum zur Erprobung gesellschaftlicher Veränderung, es entwickelt Handlungsmöglichkeiten für Betroffene, bietet Raum zur Reflexion und zum offenen Dialog, fördert Einsichten und Erkenntnisse zur sozialen Armut, beflügelt die öffentliche Verhandlung von Tabu-Themen, wie z.B. Armut und häusliche und/oder sexualisierte Gewalt. Die szenischen Forschungsprozesse produzieren Wissenserwerb, Informationsweitergabe und die Möglichkeit zur Gestaltung politischer Prozesse und gesetzlicher Grundlagen (vgl. S. 971).

Die Forumtheaterprojekte haben zur Stärkung von Subjektbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten in Problem- und Konfliktsituationen beigetragen. Sie stärken nach Ansicht von Wrentschur soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Es ermöglicht systemische Erkenntnisse und Einsichten auf soziale Dynamiken und Strukturen. Es eröffnet unter lebensweltlichem Blickwinkel einen offenen Dialog über herausfordernde und schwierige Themen in der Gesellschaft. Es stärkt Betroffene im Sinne politischen Empowerments. Es trägt zur politischen Partizipation und zur partizipativen Demokratie bei (vgl. S. 977).

Diskussion

Nach Augusto Boal wird Unterdrückung als „antidialogische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt“ bezeichnet. Das Forumtheater schafft einen offenen Dialog im öffentlichen Raum. Nach Julian Boal, einem der Söhne Augusto Boals, kennzeichnet Unterdrückung, dass eine gesellschaftliche Gruppe auf Kosten einer anderen lebt (vgl. Julián Boal, in: Birgit Fitz: InExActArt, Stuttagrt 2011:14). Das TdU erfährt sich als direkte und subjektive Bezugnahme der Betroffenen. Ähnlich wie David Diamond (vgl. Diamond, David (2012): Theater zum Leben. Über die Kunst und die Wissenschaft des Dialogs im Gemeinwesen, Stuttgart) versucht Wrentschur den Antagonismus und die Polarisierung in Unterdrücker und Unterdrücker*innen zu überwinden. Handlungsleitend gilt die systemische Idee, Rückkoppelungsschleifen und dysfunktionale Verhaltensmuster herauszuarbeiten. Von einer Klassengesellschaft zu sprechen, ist ihm allerdings nicht en vogue. Wrentschur präferiert kritisches und kreatives Engagement statt Revolution. Sein Hauptaugenmerk richtet sich darauf, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Spielraum für politische Entscheidungsprozesse herzustellen (S. 980). Er bezieht sich auf Dirnstorfer, die sich für „diskursive Freiräume“ (S. 149) einsetzt (Dirnstorfer, Anne (2006): Forumtheater in den Straßen Nepals, Reihe: Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten, Bd. 1, Stuttgart: S. 28), und den Anspruch der „Probe zur Revolution“ (Boal, Augusto (2004, 1989): Theater der Unterdrückten + Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler [Übersetzung: Thorau, Henry], Frankfurt/Main: S. 66–69) für überzogen hält. Die Frage wäre, wie ein „herrschaftsfreier Diskurs und Dialog“, wie ihn Wrentschur wünscht, in der bürgerlichen Gesellschaft, im Kapitalismus, unter Klassenherrschaft der Bourgeoisie, möglich sein soll (S. 137, 148).

Mit Bezug auf die Soziale Arbeit wird die freiwillige Teilnahme als Möglichkeit konstatiert, subjektiven Eigensinn in Konfliktlagen einzubringen (vgl. S. 983). Forumtheater wird zum Antipoden einer „vorwiegend affirmativen, ordnungspolitisch und neoliberal aktivierenden Position“, zu einer „kritisch-lebensweltorientiert und systemisch-prozessualen“ (S. 983/984) Haltung. Es können Handlungsspielräume ausgelotet werden.

Wrentschur streift die Doppelfunktion der Sozialen Arbeit: Einerseits da zu sein, für die sozial und politisch ausgegrenzten Menschen, für die, die nicht zur Gewinnerseite der bürgerlichen Gesellschaft gehören. Die andere Seite ihrer Medaille ist die „Polizei-Funktion“, die Funktion, wo Soziale Arbeit jene Verhältnisse sichert, die Armut und Ausgrenzung hervorrufen (vgl. S. 221ff). Das Forumtheater kann sich auch bei sozialpädagogischer Verwendung von dieser Polizei-Funktion der Sozialen Arbeit lösen (vgl. S. 164). Das gehört zu den charmanten Aufgaben Herausforderungen und Möglichkeiten.

Bemerkenswert ist, wie es möglich ist, sich über tausend Seiten für die „Underdogs“ der Gesellschaft einzusetzen, die Klassenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft aber ausklammert, unbenannt lässt und einen grundlegende politische Veränderung der Eigentum- und Machtverhältnisse (Revolution) ablehnt. Zwar werden „Subjektivierungspraxen“, „Machtverhältnisse“ und „Gouvernementalität“ (vgl. S. 222) angesprochen. Die schnöde Realität des Kapitalismus jedoch, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie und die verfassungsmäßig garantierte Ausbeutungsordnung (das gilt wohl auch für Österreich!) aufgrund der Profitwirtschaft, bleibt ausgespart. Ausbeutung ist dabei als ökonomischer Begriff und nicht als moralische Kategorie zu verstehen.

Betont wird mit Verweis auf Clausen et al. (Clausen, Jens/Hahn, Harald/​Runge, Markus, Hrsg. (2009): Das Kieztheater. Forum und Kommunikation für den Stadtteil, Reihe: Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten (BSzTU), Bd. 4, Stuttgart: S. 10), „die Gefahr der Reproduktion von Klischees in einem Gut/Böse-Schema beim Forumtheater, dass nicht mehr zeitgemäß erscheint“ (S. 136). Ist der Kapitalismus ein Klischee oder vielmehr leidvolle Realität für die Massen?

In der Befassung mit dem Begriff des „Habitus“ von Pierre Bordieu übernimmt Wrentschur bereitwillig dessen Irrtümer, wenn es heißt: „Die soziale Praxis innerhalb der Felder ist laut Bordieu bedingt durch die Verfügungsgewalt über spezifische Ressourcen (=Kapital).“ Kapital ist ein Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnis, keine Ressource. Kapital ist kein Geld und Geld kein Kapital. Geld kann eine Erscheinungsform von Kapital sein. Geld kann aber auch andere Verhältnisse ausdrücken und repräsentieren. Das ist eine der Verirrungen, die der Autor dieser Zeilen auch bei Joseph Beuys oder bei Maike Plath kritisiert. Kapital ist das, was es zu beseitigen gilt, wenn die Klassenherrschaft des Bürgertums eines Tages der Geschichte angehören soll.

Fazit

Wrentschur legt mit seiner Habilitationsschrift ein beeindruckendes Lehrbuch vor, das bei allem Interesse für den Gegenstand und näherem „eintauchen“ oft erstaunlich „trocken“ daher kommt. Ein Tausend-Seiten-Werk stellt selbst für notorische Vielleser*innen eine motivationale Schranke dar. Bei Gesprächen im Kreise der TdU-Szene war der Rezensent als Leser des Werkes stets allein. Die bemerkenswerte Ausnahme war Gerd Koch, der diesen abitionierten Koloss für die Zeitschrift fpr Theaterpädagogik rezensiert hat. Der Rezensent wünscht sich mehr freiwillige, mutige und interessierte Leser*innen für dieses wichtige Werk. Forscher*innen an Hochshculen und Universitäten finden hier einen methodischen Werkzeugkasten, der Forscher*innen und Beforschte gleichermaßen begeistern wird, wenn sie das REpertoire und das Knwo-How in der wissenschaftlichen Praxis anwenden. Vor allem in Bibliotheken der Fachhochschulen für Sozialpädagogik/​Soziale Arbeit sollte es unverzichtbar zum Bestand gehören. Für die meisten Studierenden, die der Band erreichen sollte, ist er in dieser Form schlicht unerschwinglich.

Möglicherweise könnte da eine dreigeteilte Taschenbuch-Ausgabe helfen, sowohl aus Kostengründen, aber ebenso aus Gründen der Lesbarkeit. Das Werk bietet eine solide Einführung in die Grundlagen der Sozialen Arbeit, die Funktionsweise des Forumtheaters, sowie Bildungstheoretische Perspektiven auf das Forumtheater. Es liefert eine profunde Begründung von Theaterarbeit in sozialen Handlungsfeldern. Dann folgt der Diskurs um das Forumtheater als Methode und verschiedene Formen subjekt-beteiligender Forschungsstrategien. Stoff für ein ganzes Semester. Die Praxisbeispiele könnten umfangreiche Formatvorlagen für Evaluationen und anderer Forschungs-Verfahren zur Erfassung evidenzbasierten Datenmaterials bieten.Eine breite Rezeption und Freistellungen von Mitarbeiter*innen zur werten Lektüre, samt Transformation in den akademischen und praktischen Alltag, wären dem Arbeitsaufwand und dem Werk von Michael Wrentschur zu gönnen. Bei aller Kritik: Danke für dieses Werk!

Rezension von
Stephan B. Antczack
Theaterpädagoge BuT, Kunstpädagoge und Historiker, Krankenpfleger mit sozialpsychiatrischer Zusatzausbildung.

Es gibt 1 Rezension von Stephan B. Antczack.

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Zitiervorschlag
Stephan B. Antczack. Rezension vom 01.12.2021 zu: Michael Wrentschur: Forumtheater, szenisches Forschen und Soziale Arbeit. Diskurse - Verfahren - Fallstudien. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. ISBN 978-3-7799-6116-1. Reihe: Edition Soziale Arbeit. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26268.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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