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Michael Thomsen: Fallgeschichten Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 22.05.2020

Cover Michael Thomsen: Fallgeschichten Demenz ISBN 978-3-662-58761-4

Michael Thomsen: Fallgeschichten Demenz. Praxisnahe Beispiele einer erlebensorientierten Demenzpflege im Sinne des Expertenstandards. Springer Science+Business Media GmbH & Co. KG (Berlin) 2019. 158 Seiten. ISBN 978-3-662-58761-4. D: 29,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 50,00 sFr.

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Thema

Im weiten Feld der Demenzpflege haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Modelle und Konzepte mit dem Anspruch entwickelt, ein taugliches Rahmenkonzept für die alltäglichen Pflegehandlungen bilden zu wollen, quasi als theoretischer Überbau. Den gegenwärtig populären Konzepten wie z.B. Validation, Mäeutik oder „Personsein“ (Kitwood 2000) fehlen jedoch die entscheidenden Kriterien, um als theoretische Erfassungsmodalitäten der Pflegepraxis gelten zu können. Das bedeutet, die Verallgemeinerung des konkreten Handelns mit der entsprechenden Begrifflichkeit zu leisten. Und komplementär hierzu gilt es, diese Annahmen von dem neurowissenschaftlichen Stand der Forschung ableiten zu können. Nur auf der Grundlage dieser geistigen Verarbeitungsschritte lassen sich Ansätze einer Theorie der Demenzpflege mit konkreten Wirksamkeitsnachweisen entwickeln. Die hier angeführten gängigen Konzepte hingegen fundieren ihre Aussagen überwiegend mit Gedankengebäuden wie u.a. Psychoanalyse und „humanistische Psychologie“, die empirisch und damit zugleich wissenschaftlich nicht überprüfbar sind. Zu den Neurowissenschaften hingegen besteht eine distanzierte und teils auch ablehnende Haltung.

Der Autor der vorliegenden Veröffentlichung orientiert sich in seinen Ausführungen an dem Modell der so genannten „erlebnisorientierten Demenzpflege“, eine Variante oder „Weiterentwicklung“ des Validationsansatzes von Cora van der Kooij, die als „Mäeutik“ bezeichnet wird (van der Kooij 2017).

Autor

Der Autor hat u.a. eine Ausbildung zum Krankenpfleger mit zusätzlicher Weiterbildung „geriatrische Rehabilitation“ absolviert. Beruflich war er mehrere Jahre stellvertretender Stationsleiter einer klinisch-geriatrischen Rehabilitationsstation und später Pflegedienstleiter in einem Altenpflegeheim. Zusätzlich war er als Dozent in der Fort- und Weiterbildung tätig. Parallel publiziert Michael Thomsen seit vielen Jahren über pflegerische Themenbereiche (Fachzeitschriften und Monographien).

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in vier Kapitel untergliedert.

In Kapitel 1 (Einführung ins Thema, Seite 1 – 7) wird die Thematik Demenz im gesellschaftlichen Kontext u.a. hinsichtlich der Anzahl der Erkrankten, der entstehenden Gesundheitskosten und den Bemühungen zur Beitragssatzstabilität in diesem Sektor (u.a. Pflegeversicherung) reflektiert. Diese Denkweisen werden vom Autor kritisch als „neoliberal geimpfte Politik“ beurteilt, die es zu hinterfragen gilt. Gefordert wird eine Weltsicht jenseits von bloßem Leistungsdenken, Rationalität und Zielorientierung. Menschlichkeit und Solidarität sollten stärker wieder in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Handelns gestellt werden. Aus diesem Grund werden z.B. so genannte „Demenzdörfer“ abgelehnt, die für die Betroffenen als „Entwürdigung“ aufgefasst werden könnten, da hier nur die Defizite und Gefahren im Vordergrund stehen würden.

Kapitel 2 (Demenz, ein vielfältiges Krankheitsbild, Seite 9 - 48) beinhaltet zu Beginn die Darstellung der Krankheitssymptomatik Desorientierung unter verschiedenen Aspekten kognitiver Defizite wie z.B. Wahrnehmungs- und Gedächtniseinbußen. Es folgen Ausführungen zur Symptomatik Verwirrtheitszustände hinsichtlich der Ätiologie, wobei u.a. auch Umweltfaktoren wie Überstimulierung bzw. sensorische Deprivation nebst belastender episodischer Langzeitgedächtnisinhalte wie traumatisierende Erfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg angeführt werden. Hieran schließen sich Ausführungen über die verschiedenen Demenzformen (Alzheimerdemenz, vaskuläre Demenz, Frontotemporale Demenz und die Lewy-Körperchen-Demenz) mit der jeweiligen Kernsymptomatik an. Im folgenden Abschnitt werden Hörminderung, „leichte kognitive Beeinträchtigung“ („mild cognitive impairment“ MCI) und Depression als „Pseudodemenzen“ beschrieben. Der abschließende Abschnitt des Kapitels thematisiert Ergebnisse der so genannten „Nonnenstudie“ von David Snowdon aus den USA. Der Autor bezieht sich bei der Interpretation der Studie u.a. auf Gerald Hüther, der „das bisherige Theoriegebäude zur Demenz infrage“ stellt. „Demnach ist aufgrund der Plastizität des Gehirns und durch einen guten Lebensstil das Organ lebenslang form- und regenerierbar.“ (Seite 46). 

In Kapitel 3 (Fallverstehen, Seite 49 – 100) wird zu Beginn der theoretische Orientierungsrahmen des Autors bezogen auf die Demenzpflege dargestellt. In Anlehnung an Naomi Feil und dem so genannten „neurolinguistischen Programmieren“ (NLP) führt er das so genannte Konzept der „Wahrnehmungstypen“ zur Klassifizierung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale an. Anschließend wird ebenfalls in Anlehnung an Naomi Feil das Modell der so genannten „Symboldeutung“ bestimmter Gegenstände entsprechend der Stufe der Desorientierung erläutert (Feil 2000: 49ff). So hat z.B. ein Schlüssel für einen Demenzkranken auf der Stufe des „versunkenen Ichs“, das entspricht der Altersstufe ein bis zwei Jahre, die Bedeutung „Elternhaus, Geborgenheit, Gesehen werden“ (Seite 55). Es folgen die Beschreibung und Darstellung der verschiedenen „Demenzphasen“ gemäß der krankhaften Rückentwicklung entsprechend der Hirnreifung (Retrogenese) in Anlehnung an Jean Piaget. Hierbei werden die Konzepte von Reisberg, Held, van der Kooij, Feil und Perrin als Synopse in tabellarischer Form aufgeführt. Ausführlich wird anschließend das Modell von Cora van der Kooij bezogen auf den Rückentwicklungsprozess beschrieben: „bedrohtes Ich“, „verirrtes Ich“, „verborgenes Ich“ und „versunkenes Ich“ (Seite 59ff) (van der Kooij 2017). Eingehend erläutert dann der Autor die verschiedenen Facetten und Gewichtungen des so genannte „Expertenstandards“ „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ (Seite 66 – 80). Den Abschluss des Kapitels bilden ausführliche Erläuterungen über Fall- und Bewohnerbesprechungen bezüglich Vorbereitung, Schwerpunktsetzung und Durchführung. Für diese fachlichen Erörterungen der Mitarbeiter werden die folgenden Formulare offeriert: „Vordruck Informationssammlung/​Erstgespräch“ und mehrere Checklisten für die Durchführung und Auswertung der Besprechungen einschließlich der Protokollinhalte.

Kapitel 4 (Fallbeispiele, Seite 101 – 153) enthält zwölf „Fallbeispiele“ mit teils demenztypischen Krankheitssymptomen: „der Spucker“, „die Ruferin“, „die Digitaluhr“, „das Essen“, „der Übersteiger“, „das Portemonnaie“, „das Butterbrot“, „die Püppchen“, „die Kaffeetasse“, „der Spiegel“, „der Heimkehrer“ und „die Spaziergängerin“. Hierbei handelt es sich um die skizzenhafte Darstellung verschiedener Krankheitssymptome Demenzkranker überwiegend im fortgeschrittenen Stadium wie z.B. Perseverationen („Schreier“), Wahn (Furcht vor „Vergiftung“), Pflegeverweigerung, Wahrnehmungsstörungen (Gespräche mit dem eigenen Spiegelbild) und Weglauftendenz. Jede Falldarstellung wir mit einem Fragekatalog an den Leser abgeschlossen, worin er aufgefordert wird, einerseits die „Phase der Demenz“ („bedrohtes Ich“ – „verirrtes Ich“ – „verborgenes Ich“ – „versunkenes Ich“) und andererseits den „Wahrnehmungstypus“ („akustischer Typ“ – „optischer Typ“ – „olfaktorischer Typ“ – „haptisch-kinästhetischer Typ“) des Demenzkranken zu bestimmen.

Diskussion

Die vorliegende Studie kann als ein Versuch verstanden werden, Theorie und Praxis im Bereich der Demenzpflege miteinander verzahnen zu wollen. Dadurch soll u.a. das Verhalten der Erkrankten im Rahmen von Falldarstellungen nachvollziehbar gemacht werden. Die Pflege- und Betreuungsmaßnahmen sollen bezüglich ihrer Wirksamkeit auf das Wohlbefinden der Betroffenen hin überprüft und beurteilt werden. Dies ist aus der Sicht des Rezensenten misslungen, wie im Folgenden belegt wird.

Im Abschnitt über die Grundlagen der Demenzen sind u.a. folgende Fehlinterpretationen und Wissensmängel zu konstatieren:

  • Der Autor begeht den Fehler, belastende und wiederkehrende Erinnerungen bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium als posttraumatische Symptome zu klassifizieren, wenn er u.a. die Begriffe „Intrusion“ und „Konstriktion“ verwendet (Seite 26f). Damit verwendet er einen psychiatrischen Erklärungsansatz, der für Demenzen keine Gültigkeit besitzt. Bei den im Text angeführten massiven Realitätsverlusten handelt es sich hingegen um neuropathologisch und neurodegenerativ verursachte Krankheitssymptome aufgrund von Abbauprozessen und Läsionen in bestimmten Hirnarealen (Schnider 2017), die therapeutisch beeinflussbar sind (Lind 2011). Demenzen sind genuin neurologische Erkrankungen, so handelt es sich bei Alzheimerdemenz um eine „sekundäre Tauotologie“ (Jessen 2018).
  • Bei der Klassifizierung und Kategorisierung demenzieller und psychiatrischer Erkrankungen und Symptome verwechselt der Autor fälschlicherweise einiges, wenn er die „Pseudodemenz“ als Oberbegriff für Hörminderung, kognitive Minderleistungen (MCI) und Depression bezeichnet (Seite 40ff).
  • Die Erläuterungen des Autors zur  „Nonnenstudie“ (Snowdon 2001) sind völlig konträr zu den publizierten Ergebnissen der Studie. Snowdon konnte parallel zu ähnlichen Untersuchungen im Bereich der kognitiven Reservekapazität den Nachweis erbringen, dass genetische Faktoren letztlich die Ursachen für die Resilienz gegenüber neuropathologischen Abbauprozessen sind. Die vom Autor angeführten Wirkmechanismen (u.a. gesunde Ernährung, Gehirnjogging und gemeinsames Singen) hingegen sind weder in der Nonnenstudie noch in anderen Untersuchungen empirisch nachgewiesen worden (Seite 46).

Des Weiteren gilt es kritisch anzuführen, dass die vom Autor angeführten Elemente seines Interpretationsrahmens für das Verhalten Demenzkranker empirisch und neurowissenschaftlich nicht fundiert sind. Diesbezüglich werden die „Wahrnehmungstypen“ der „neurolinguistischen Programmierung“, das Konzept der „Symboldeutung“und zusätzlich recht ausführlich das Phasenmodell der „Mäeutik“ („bedrohtes, verwirrtes, verborgenes und versunkenes Ich“) angegeben. Diese eher ideengeschichtlich entstandenen Konstrukte – u.a. auf der Grundlage der Psychoanalyse und der „humanistischen Psychologie“ – besitzen keine neurowissenschaftliche Fundierung und können dementsprechend auch keine neurowissenschaftlichen Sachverhalte wie demenzielle Krankheitsprozesse angemessen erfassen.

Dass diese Erklärungsansätze den Praxistest nicht bestehen, indem sie konkrete Verhaltensäußerungen begrifflich und damit auch ätiologisch ableiten und zuordnen, zeigt sich recht deutlich im letzten Teil der Arbeit anhand der Falldarstellungen. Hier beschränkt sich der Autor auf die Beschreibung einiger demenztypischer Verhaltensweisen teils versehen mit Kommentierungen, ohne in Ansätzen den hier zu erwartenden Theorie-Praxis-Zusammenhang zu entwickeln. In diesem Kontext vermisst dann auch der Rezensent bei diesen Fallbeispielen die herkömmliche Vorgehensweise einer Fallbesprechung mit den Bestandteilen Problemdarstellung, Verhaltensdiagnose, Festlegung einer Intervention und spätere Überprüfung dieser Maßnahme auf der Grundlage des vorgegebenen pflegetheoretischen Bezugsrahmens.

Fazit

Die vorliegende Publikation erfüllt nicht den Anspruch ausreichender Fachlichkeit. So konnte der Autor nicht den Nachweis erbringen, die komplexe und vielschichtige Thematik Demenz und Demenzpflege gemäß dem Stand der Forschung angemessen erfasst zu haben. Zusätzlich muss konstatiert werden, dass der Versuch des Autors misslungen ist, Demenzen sowohl neurowissenschaftlich als auch zugleich nichtempirisch in Gestalt der Konstrukte Mäeutik u.Ä. zu erklären. Nach den Regeln wissenschaftlicher Arbeit ist dies nicht möglich, wie es auch die „Falldarstellungen“ im vorliegenden Buch belegen. Derartige Bemühungen enden in der Regel im Eklektizismus. Neue Erkenntnisse und Wissensstände für die theoretische Entwicklung der Demenzpflege sind somit in diesem Buch nicht enthalten.

Literatur

Feil, N. (2000) Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen.München: Ernst Reinhardt Verlag https://www.socialnet.de/rezensionen/260.php

Jessen, F. (Hrsg.) (2018) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Grundlagen – Diagnostik – Therapie – Versorgung – Prävention. Berlin: Walter de Gruyter https://www.socialnet.de/rezensionen/​24698.php

Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber

Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege. Bern: Verlag Hans Huber

Schnider, A. (2017) The Confabulating Mind: How Brain Creates Reality. Oxford: Oxford University Press (2. Auflage)

Snowdon, D. (2001) Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen. München: Karl Blessing Verlag

van der Kooij, C. (2017) Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell. Darstellung und Dokumentation. Bern: Hogrefe https://www.socialnet.de/rezensionen/​23592.php

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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ISSN 2190-9245