Michael Gehler, Otto May: Motiv Europa
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.11.2019

Michael Gehler, Otto May: Motiv Europa. Postalische Dokumente zur Geschichte und Einigungsidee von 1789 bis 1945. Verlag Franzbecker (Hildesheim) 2018. 256 Seiten. ISBN 978-3-88120-996-0. D: 34,80 EUR, A: 35,80 EUR.
Europa: Symbol und Motiv
Man kann ohne Abstriche und voller Anerkennung von der „Hildesheimer Europaschmiede“ reden, in der bemerkenswerte, wissenschaftliche Forschungs- und dokumentarische Arbeit zu Fragen der neuzeitlichen Entstehungsgeschichte Europas geleistet werden. Im Internet-Rezensionsdienst wird auf die zahlreichen Veröffentlichungen aufmerksam gemacht, die an der Universität Hildesheim vom Jean-Monnet-Lehrstuhl, dem Institut für vergleichende europäische Zeitgeschichte und Geschichte der Europäischen Integration, hervorgehen. Als ein besonderes Merkmal der Forschungsarbeiten lässt sich erkennen, dass sich die historischen mit den didaktischen und erziehungswissenschaftlichen Aspekten verbinden; also der Frage zuwenden: Wie kann es gelingen, ein gemeinsames, humanes und menschenwürdiges Europa „von unten“ zu gestalten und die vielberufene „europäische Dimension“ als Herausforderung für Bildung und Aufklärung zu verstehen und in die globale Wirklichkeit umzusetzen?
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Der spanische Europapolitiker Enrique Barón Crespo hat anlässlich des Kolloquiums des Europa-Parlaments, „Das Universelle und Europa“, 1991, zum Ausdruck gebracht, dass Europa, wie Gott Janus, zwei Gesichter habe, „eine doppelte Identität, schwankend zwischen Gut und Böse“ (UNESCO-Kurier 7-8/1992, S. 5f). In diesem Kontext sind zwei Ausstellungen zu sehen, die von Prof. Dr. Michael Gehler und dem ehemaligen Hildesheimer Gymnasiallehrer und Sammler Dr. Otto May in der Universitätsbibliothek gezeigt und mit Begleitbänden ausgestattet wurden: Die Ausstellung „Motiv Europa. Postalische Dokumente zur Geschichte und Einigungsidee von 1789 bis 1945“ wurde 2017/2018 gezeigt (siehe dazu: Michael Gehler/Otto May, Motiv Europa. Postalische Dokumente zur Geschichte und Einigungsidee von 1789 bis 1945, Verlag Franzbecker, Hildesheim 2017), und die Ausstellung „Motiv Europa. Postalische Dokumente zur Geschichte und Einigungsidee seit 1945“, die auf die Direktwahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019 und die Entwicklung der europäischen Idee nach dem Zweiten Weltkrieg Bezug nahm. In den zwei Ausstellungen wird der Blick auf Europa mit einem ungewöhnlichen Motiv gerichtet: Es sind philatelistische Objekte über die europäische Idee in ihren Wandlungs- und Veränderungsprozessen. Zahlreiche farbige und SW-Post- und Ansichtskarten über Europa, realistisch, kritisch, fundamentalistisch, eurozentristisch und futuristisch, stellen die Geschichte und Einigungsideen dar und vermitteln mentalitätsbestimmte, politisch gewollte und ideologisch aufgeheizte Eindrücke. Bilder, das zeigen die neueren, medialen Forschungsergebnisse, sind Realitätsanzeiger und Verführer (Michael R. Müller/Hans-Georg Soeffner, Hrsg., Das Bild als soziologisches Problem. Herausforderungen einer Theorie visueller Sozialkommunikation, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25022.php).
Aufbau und Inhalt
Sind Briefmarken, Ersttagsbriefe und Postkarten nur Belege für Gebühren zum postalischen Versand von Nachrichten, oder sind sie illustrierte Schauobjekte und Transportmittel für individuelle und gesellschaftliche Informationen? Die ersten Briefmarken, als Postwertzeichen und Belege für die postalische Beförderung, und Postkarten mit vorgedruckten Abbildungen wurden erstmals 1840 in England herausgebracht. Als Ansichtskarten dienten sie ursprünglich der kurzen, standardisierten, geschäftsmäßigen Korrespondenz, und bald danach auch als Einladungs- und Glückwunschkarten. Zum politischen, agitatorischen, satirischen und künstlerischen Einsatz gelangten Postkarten durch das aufstrebende, bürgerliche, emanzipatorische Bewusstsein zu Beginn des 19. Jahrhunderts. „Europa“, als Symbol und Vision, freilich beschäftigte Menschen seit der Antike. So war es auch nur logisch und folgerichtig, dass europäische Bilder, Motive und Parolen auch auf Postkarten gemalt, gedruckt und verschickt wurden. Einen breiten Raum nahmen dabei Gedenk- und Erinnerungsbilder aus der europäischen Geschichte ein; als Darstellung von kriegerischen, revolutionären und kulturellen Ereignissen; als zivilisatorische und modische Anregungen; als Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungsmittel. Die janusköpfige Geschichte Europas lässt sich mit ihren Installationen, Irrungen und Wirrungen ganz ausgezeichnet an den Ansichtskarten nachzeichnen. Das Symbolhafte, wie es sich in der antiken Darstellung Europas als „Jungfrau auf dem Stier“ zeigt, vereinigt das Reine und Schuldhafte, das Gute und Böse, das Kraftvolle und Unschuldige, das Aufstrebende und Hausbackene, das Freiheitliche und Koloniale, und das Politische und Ideologische beim Werden Europas. Europa als Ganzes und Differenziertes, als Visionäres und Dominantes wird im Begleitband der ersten Ausstellung 2017/18 in postalischen Dokumenten aus den Jahren von 1789 bis 1945 dargestellt. So verbinden sich Philokratie, das Sammeln und Erforschen von Postkartenabbildungen, mit wissenschaftlichen, historischen Forschungen.
Wie sich Europapolitik und -initiativen nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg entwickelte und gestaltete, wird in der zweiten Ausstellung gezeigt. Die Propagandapostkarte wurde erst einmal abgelöst durch künstlerische und populäre Abbildungen, in denen sich die Hoffnungen ausdrückten, ein besseres, friedlicheres Leben für die Menschen zu erreichen. Die Nationalstaaten, die in erster Linie das Egoistische und Selbstmächtige vertraten, fanden in den Ideen von Staatenvereinigungen, Bünden und Gemeinschaften einen Gegenpart. Bereits während des Krieges entstanden in Frankreich, England und USA Bewegungen, die Nachkriegsordnung in Europa neu zu gestalten. Mit Parolen wie „Lasst Europa auferstehen“ (Churchill, 1946) entstanden neue Symbole, wie z.B. das „Hertensteiner Kreuz“, als „E“ für Europa auf einer Achse gespiegelt, das als Vorbild für Europa-Aktive wie Jean Monnet, Aristide Briand, Alcide DeGasperi, Paul-Henri Spaak, Robert Schuman, u.a. diente und bei den Verhandlungen der Siegermächte in Konferenzen und Wiederaufbauplänen, wie z.B. dem Marshall-Plan, der Gründung des Europarats, der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) benutzt wurden. Versöhnung statt Revanche, Achtung statt Rache, diese Aufforderungen werden auf Briefmarken, Ersttagsbriefen und Ansichtskarten dargestellt; ohne Zweifel Anreize für Sammlerinnen und Sammler, sie in ihre Kollektionen einzubringen. Es wundert nicht, dass dabei auch Begehrlichkeiten von Fälschern geweckt wurden, die gesuchten und teilweise hoch gehandelten Objekte nachzumachen und in den Verkehr zu bringen. Nicht nur für Sammler interessant sind auch die in Briefmarken und Karten nachvollziehbaren Entwicklungen, wie ein geeintes Europa sich in einem gemeinsamen Symbol und Logo präsentieren solle.
In Deutschland bildeten sich die politischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Abbildungen zur Bildung der Besatzungszone, der Teilung des Landes, der ideologischen Ost-West-Auseinandersetzungen, der Wiedereinführung der Wehrmacht(en), der Freundschaftsverträge, insbesondere zwischen der BRD und Frankreich, ab. Filme, Musik, Kunst als integrative Elemente fanden Eingang in die Ansichtskartendarstellungen; ebenso internationale sportliche Ereignisse, wie etwa Europa- und Weltmeisterschaften. Die Raumfahrt als Innovation und Konkurrenz wurde auf Postkarten abgebildet; Initiativen zur Einführung einer gemeinsamen, europäischen und globalen Währungspolitik entstanden. Zur Gründung der Europäischen Union und der ersten Direktwahl des Europa-Parlaments wurden auch Werbekarten mit Fragen wie: „Was tust du für Europa“ und ergänzenden, auffordernden Hinweisen wie: „Europa ist mehr als…“, herausgegeben. Eine besondere Aufmerksamkeit erhielten in den postalischen Darstellungen die Freiheitsbewegungen während der Ost-West-Auseinandersetzungen, in Ungarn, der Tschechoslowakei…, wie auch die Schmuckkarten, Gedenkblätter, Ersttagsbriefe und Briefmarkenserien nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs, der Wende und der Aktivitäten zur EU-Osterweiterung: „Europa wächst zusammen“, und „Les Clés pour L’Europe“. Die Bildmotive nehmen Entwicklungen, Verwicklungen und Verläufe der politischen Geschichte Europas auf. Sie dokumentieren, propagieren, futurisieren und persiflieren die Dominanz-, Machtspiele und Programme im Auf und Ab der Einigungsbestrebungen. Die Symbole – Stier, Flagge mit zwölf Sternen (heilige Zahl) auf blauem Hintergrund, Beethoven-Hymne und Europatag – markieren die Vision, dass es eines Tages ein Vereintes Europa geben möge; denn bisher ist gescheitert, was eine echte Gemeinschaft charakterisiert: Die Etablierung einer europäischen Verfassung, die der „Europäische Konvent“ als Entwurf am 20. Juni 2003 dem „Europäischen Rat“ vorgelegt hat. Sie konnte bisher nicht verabschiedet werden. Die visionären, hoffnungsvollen und zukunftsweisenden Bestandsaufnahmen – „In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“ – gilt es weiterhin zu realisieren; trotz und gerade wegen der zunehmenden ethno- und egozentrierten, nationalistischen, rassistischen und populistischen Tendenzen und Ablösungserscheinungen (Brexit). Die mehr als 500 originalgetreu abgedruckten philatelistischen Objekte vermitteln nicht nur objektive Informationen über den Zeitraum von der Französischen Revolution bis heute, sondern eignen sich auch für den Einsatz in Unterricht und Veranstaltungen.
Fazit
Die Autoren erkennen in den Zeiträumen, in denen die postalischen Dokumente in Ausstellungen und Dokumentationsbänden vorgestellt werden – 1789 bis 1945 und 1945 bis heute – unterschiedliche, mentale Aufmerksamkeiten und (Sammler-)Interessen: „Insgesamt wird der europäische Einigungsgedanke … als Errungenschaft begriffen und die Notwendigkeit seiner Wahrung als Zukunftsaufgabe verstanden“. Europa gestalten und als einen menschenwürdigen, gerechten, gleichberechtigten, gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Lebensraum für alle in Europa und in der (Einen?) Welt existierenden Menschen bereitstellen, das ist Herausforderung und Verantwortung für die Menschheit. Die Ansprüche, Anmutungen und Anforderungen dazu lassen sich auf vielen Gebieten des menschlichen Daseins finden. In der Auseinandersetzung mit postalischen Dokumenten tun sich vielfältige Aha-Erlebnisse auf und öffnen Türen hin zu EUROPA.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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