Christoph Schulze: Etikettenschwindel
Rezensiert von Maximilian Kreter, 02.01.2020

Christoph Schulze: Etikettenschwindel. Die Autonomen Nationalisten zwischen Pop und Antimoderne.
Tectum
(Baden-Baden) 2017.
562 Seiten.
ISBN 978-3-8288-3822-2.
D: 44,95 EUR,
A: 44,95 EUR.
Reihe: Kommunikation & Kultur - Band 11.
Thema
Bis in die späten 1980er Jahre war die extreme Rechte in Deutschland insbesondere kulturell stark vergangenheitsfixiert und (nicht nur) in dieser Hinsicht fast vollständig isoliert. Im Gegensatz dazu waren in Skandinavien und Großbritannien bereits in den späten 1970er und 1980er Jahren parteiförmige und nicht-parteiförmige Modernisierungsbestrebungen innerhalb der extremen Rechten zu beobachten. Die dortigen Akteure bedienten sich der Adaption von jugend- und subkulturellen Stilelementen oder versuchten die kulturelle Identität ganzer Szenen zu übernehmen, um ihre Zielgruppe und Reichweite zu vergrößern. In Deutschland wurden diese Veränderungen medial erst Anfang der 1990er sichtbar, als im Verlauf der deutschen Wiedervereinigung und den fremdenfeindlichen Gewalttaten in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda der Typus des Neonazis mit Glatze, Bomberjacke, Springerstiefeln und Baseballschläger in der Presse auftauchte.
Doch die extreme Rechte hat sich längst weiterentwickelt, ihr Auftreten weiter diversifiziert und den verschiedenen Jugend- und Subkulturen angenähert. Einen zentralen Beitrag zur Modernisierung haben die „Autonomen Nationalisten" geleistet, indem sie Kommunikations- und Aktionsformen der link(sextrem)en autonomen Szene adaptierten und diese mit den Bedürfnissen und Anforderungen der rechtsextremen Bewegung kombinierten: Ihnen gelang die Verbindung von rückwärtsgewandter Ideologie und zeitgemäßen Lebensstilangeboten unter Verwendung moderner Kommunikationsmittel und -wege.
Mit dem Buch „Etikettenschwindel. Die Autonomen Nationalisten zwischen Pop und Antimoderne“ legt Christoph Schulze eine systematische und feingliedrige Untersuchung zu den Adaptionen und Wandlungsprozessen der „Autonomen Nationalisten" speziell, aber auch der extremen Rechten insgesamt vor. Im Gegensatz zu den zahlreichen, vor allem journalistischen Veröffentlichungen, liegt der Fokus bei Schulze auf einer theoretisch fundierten, primärquellenbasierten und kontextualisierenden Langzeitanalyse der Jahre 2003 bis 2014.
Autor
Dr. Christoph Schulze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle (EJGF) am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) in Potsdam. Er forscht und veröffentlicht seit mehr als zehn Jahren zur extremen Rechten. Das vorliegende Werk ist die Dissertationsschrift des Autors, die von dem Kommunikationshistoriker Prof. Dr. Hermann Haarmann (FU Berlin) betreut wurde. Als Zweitgutachter fungierte der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Fabian Virchow von der FH Düsseldorf.
Aufbau und Inhalt
Das Buch untergliedert sich in fünf Kapitel, wobei der empirische Teil – das fünfte Kapitel – mit Abstand am umfangreichsten ausfällt.
In der Einleitung skizziert Schulze zunächst den Rahmen seiner Untersuchung, wie die „Autonomen Nationalisten" in der extremen Rechten zu verorten sind und welchen – qualitativen und quantitativen – Stellenwert sie innerhalb dieser Bewegung einnehmen. Im Folgenden begründet er die Auswahl der „Autonomen Nationalisten" als spezifischen Forschungsgegenstand damit, dass sie „deutlichster Ausdruck und Kulminationspunkt der neueren Wandlungen im Neonazismus sind […] [und] ihre antimoderne politische Zielsetzung und die modernen Methoden“ (S. 20) sich auf den ersten Blick stark zu widersprechen scheinen. Im Anschluss entwickelt er seine zentrale These, dass es sich bei den Adaptionen durch die extreme Rechte, in konkreten Fall der „Autonomen Nationalisten", nicht um eine historische Ausnahme handelt. Vielmehr stünden diese kulturellen Vereinnahmungen von linken und populärkulturellen Elementen in der Tradition der von Ernst Bloch für den Nationalsozialismus herausgearbeiteten Adaptionen von Themen, Aktions- und Kommunikationsformen. Ebenso unterlägen sie ähnlichen, wenngleich gesellschaftsstrukturell und technologisch bedingten, beschleunigten Entwicklungsdynamiken, einerseits zwischen Führung und Basisaktivisten, andererseits zwischen der rechtsextremen Bewegung, den kulturellen Angeboten und der Gesellschaft für sich. Die extreme Rechte habe kein festgelegtes Programm, nur einen ideologischen Kern. Dadurch sei sie programmatisch und aktionsbezogen, in der Wahl ihrer Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele flexibel.
In Kapitel 2 werden der theoretische Rahmen und die verwendete Terminologie erläutert. Dabei wird zunächst Ernst Blochs kultursoziologischer Ansatz zu den „Entwendungen aus der Kommune“ [1] expliziert. Im zweiten und zugleich umfangreichsten Unterkapitel wird der Begriffsapparat detailliert dargestellt und die Verwendung für die folgende Untersuchung dargelegt. Im letzten Unterkapitel gibt Schulze einen Überblick zum Forschungsstand zu den „Autonomen Nationalisten" und zeigt – im Hinblick auf sein Erkenntnisinteresse – die bisherigen Deutungsmuster ihrer Entwendungen auf.
Kapitel 3 widmet sich der Vorgehensweise der Untersuchung. Dabei geht der Autor zunächst auf den problematischen Feldzugang ein, den die Thematik mit sich bringt. Anschließend wird der methodische Zugang mittels der Dokumentenanalyse als hermeneutischer Methode erläutert. Zuletzt wird die Art und der Prozess der Datenerhebung transparent gemacht, dem eine inhaltliche (Quellenkritik und Kategorienbildung) und technische Aufbereitung (Erstellung eines maschinenlesbaren Datensatzes) folgen.
In Kapitel 4 werden die verschiedenen Kontexte der Untersuchung mit Rückgriff auf den theoretischen Rahmen aus Kapitel 2 erläutert. Zunächst definiert Schulze als primären Kontext den Rechtsextremismus-Begriff. Im weiteren Verlauf ordnet er die Entwicklung des Rechtsextremismus in den sozial-, gesellschafts- und politikgeschichtlichen Kontext in Deutschland – insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Zweistaatlichkeit – ein. Dabei legt der Autor einen Fokus auf die Aktions- und Kommunikationsformen der verschiedenen Akteure der extremen Rechten in Deutschland nach 1945.
Kapitel 5 bildet das Hauptkapitel dieses Buches und beinhaltet die analytisch-hermeneutische Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der „Autonomen Nationalisten". Dabei beginnt Schulze seine Analyse an der Wurzel der organisatorischen Erneuerung der extremen Rechten, den „Freien Kameradschaften“. Diese wurden als Reaktion auf die Verbotswelle rechtsextremer Organisationen Anfang der 1990er, als „Organisierung ohne Organisation“ (S. 144) [2] gegründet um zukünftigen Verboten entgehen zu können. Dabei bildeten sich dem Autor zufolge spezielle Aktions- und Organisationsformen, wie beispielsweise die „Anti-Antifa" heraus. Neben der Diversifizierung im Aktions- und Organisationspektrum nimmt Schulze die „kulturelle Pluralisierung“ (S. 196) in den Blick, bei der die Musik eine entscheidende Rolle spiele. Der Übergang von traditionellen Erscheinungsbildern wie dem „völkische[n] ,Scheitel' und Neonazis-Skinhead“ (Ebd.) zu lebensweltlich adaptierten (Lebensstil-)Typen aus verschiedenen Jugend- und Subkulturen sei fließend, aber nicht immer konfliktfrei verlaufen. Im vorletzten Unterkapitel (5.4.) wendet sich Schulze den konkreten Ausformungen dieser Wandlungs- und Adaptionsprozesse am Beispiel der „Autonomen Nationalisten", entlang der zuvor entwickelten Kategorienschemen (Kapitel 3) zu. Es folgt eine kursorische Einordnung des Einflusses der „Autonomen Nationalisten" auf die Aktions-, Kommunikations- und Organisationsformen der extremen Rechten insgesamt. Abschließend gibt er noch einen Ausblick auf die weitere, mögliche (!) Entwicklung der extremen Rechten unter dem Einfluss der „Autonomen Nationalisten" und der laut Schulze fortschreitenden Pluralisierung der verfügbaren Mittel und Wege zur Erweiterung des kulturellen und politischen Einflusses.
Diskussion
Das vorliegende Buch von Christoph Schulze stellt – neben zwei Sammelbänden [3] – die bislang umfassendste, sehr systematische Studie zu den „Autonomen Nationalisten" dar. Dazu tragen vornehmlich der sorgsam gewählte theoretische Zugang, einschließlich einer selten anzutreffenden terminologischen Präzision, die eng an den theoretischen Rahmen gebundene Methodik und nicht zuletzt die profunde Fachkenntnis des Autors gepaart mit analytischer Tiefenschärfe bei. So werden sowohl die „Autonomen Nationalisten" als auch ihre unmittelbaren Vorläufer kenntnis- und facettenreich beschrieben und analysiert – kaum ein Lebensbereich wird dabei ausgespart oder nur oberflächlich behandelt. Darüber hinaus gelingt es Schulze in beeindruckender Weise die historischen Bezüge und Parallelen der extremen Rechten zum Nationalsozialismus in Aktion- und Kommunikationsformen aufzuzeigen, ohne dabei die Adaptions- und Wandlungsprozesse der Gegenwart aus den Augen zu verlieren. Für Forschende ist zudem das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis von großem Nutzen.
Während der Autor seine Kernthese klar formuliert und sie in Bezug zu den Subthesen setzt, wird deren Bezug und Bedeutung untereinander nicht deutlich. Zudem findet sich die „Diskussion der bisherigen Deutungsmuster“ (S. 66) als zentrale argumentative Annahmen und Stützen der Thesen nicht bei diesen, sondern im Forschungsstand wieder. Eine Bündelung dieser Teile in Kapitel 1 hätte den praktischen Nutzen, die Nachvollziehbarkeit und den Erkenntnismehrwert des Werkes zweifelsohne weiter erhöht.
Darüber hinaus wäre es wünschenswert gewesen – zumindest etwas ausführlicher als nur in der Einleitung – die mediale Rezeption der „Autonomen Nationalisten" in den Blick zu nehmen. Diese hätte einerseits Aufschluss über die „Autonomen Nationalisten" selbst, aber vor allem über den Erfolg beziehungsweise die Wirkmächtigkeit ihrer Aktions- und insbesondere der Kommunikationsformen geben können. Eine ländervergleichende Perspektive hätte dem Leser zudem noch mehr Aufschluss über den Status der deutschen „Autonomen Nationalisten" ermöglicht, allerdings wären hier lediglich kursorische Vergleiche in Betracht zu ziehen gewesen, deren Erkenntnismehrwert nicht selten zweifelhaft ist.
Fazit
Christoph Schulze hat mit „Etikettenschwindel. Die Autonomen Nationalisten zwischen Pop und Antimoderne“ eine durchgehend überzeugende, tiefgreifende Analyse einer rechtsextremen Bewegungsszene verfasst, die als Ausdruck der „kulturellen Pluralisierung“ (S. 196) Avantgarde und Brückenspektrum zugleich zu sein scheint. Der Autor zeigt dabei deutlich auf, dass diese Taktiken und Strategien keinesfalls neu sind, sondern lediglich die Nachahmung erprobter Entwendungs- und Aneignungsmechanismen, also eines doppelten Diebstahls darstellen. Wer also verstehen will, wie und warum sich die extreme Rechte kontinuierlichen bei ihren politischen Gegnern bedient, der kommt an Schulzes Buch nicht vorbei. Allerdings bedarf es dazu großem fachlichen – ausdrücklich auch theoretischem – Interesse und bei 467 Seiten ein wenig Durchhaltevermögen, wenngleich der Autor sehr flüssig und verständlich formuliert.
Literatur
[1] Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt am Main 1926, S. 70.
[2] Das Konzept wurde maßgeblich von Christian Worch, Thomas Wulff und Thorsten Heise für die ,Freien Kameradschaften‘ entwickelt (S. 142).
[3] Jürgen Peters/Christoph Schulze (Hg.): ‚Autonome Nationalisten'. Die Modernisierung neofaschistischer Jugendkultur. Münster 2009; Jan Schedler/Alexander Häusler (Hg.): Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung. Wiesbaden 2011.
Rezension von
Maximilian Kreter
Doktorand am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. in Dresden; Doctoral Fellow am Centre for Analysis of the Radical Right
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