Carina Book, Nicolai Huke et al. (Hrsg.): Alltägliche Grenzziehungen
Rezensiert von Katrin Jullien, 28.04.2020

Carina Book, Nicolai Huke, Sebastian Klauke, Olaf Tietje (Hrsg.): Alltägliche Grenzziehungen. Das Konzept der "imperialen Lebensweise", Externalisierung und exklusive Solidarität. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2019. 270 Seiten. ISBN 978-3-89691-273-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Thema und Aufbau
Kapitalistische Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden in alltäglichen Praktiken aufgegriffen, reproduziert, aber auch verändert. Das Sterben von tausenden von Menschen im Mittelmeer, die Errichtung von Grenz- und Migrationsregimen, das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen mit völkisch-kulturalistischen Topoi oder die Ausbreitung von äußert prekären Beschäftigungsverhältnissen ist somit nicht zu trennen von der Struktur der globalen kapitalistischen Gesellschaft. Die Analyse der für die kapitalistische Gegenwartsordnung wesentlichen Grenzziehungen in verschiedenen Kontexten bildet den roten Faden dieses Sammelbandes, der auf die Tagung „Alltägliche Grenzziehungen. Externalisierungsgesellschaft, imperiale Lebensweise und exklusive Solidaritäten als Herausforderungen emanzipatorischer Politik“ vom 05.- 07. November 2018 in Hamburg zurückgeht. Er besteht aus 14 Beiträgen verschiedener ForscherInnen überwiegend aus dem Bereich der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften mit Forschungsschwerpunkten zu kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Neue Rechte, Krisentheorie, kritischen Internationale Politische Ökonomie, gesellschaftliche Transformation u.ä.
Inhalt
Der Sammelband beginnt mit dem titelgebenden Konzept der imperialen Lebensweise von Ulrich Brand und Markus Wissen. Das Konzept der imperialen Lebensweise soll das „komplexe Verhältnis von Krise und Stabilisierung benennen und den Zusammenhang von sich globalisierenden Strukturen (…) sowie institutionellen und individuellen Alltagspraxen“ aufzeigen. Das Konzept mache sichtbar, dass die Gesellschaften des globalen Nordens systematisch und strukturell gewaltförmig auf ein Äußeres zurückgreifen. Die imperiale Lebensweise wirke über Statuskonsum und Stabilisierung bestehender Klassen,– Geschlechter und rassifizierender Verhältnisse hierarchisierend. Der Doppelcharakter oder die Widersprüchlichkeit der imperialen Lebensweise – einerseits neue Handlungsmöglichkeiten eröffnend und andererseits in Strukturen zwingend – ist nach Ansicht der Autoren zum einen Ausgangspunkt jeglicher Suche nach anderen, solidarischen Lebensweisen und andererseits Erklärung für das Erstarken rechter Bewegungen. Diese transformierten sozialen Gegensätze in einen Konflikt zwischen Innen und Außen und versprächen so, dass eine restriktive Migrations-, Handels- und Außenpolitik Privilegien im globalen Norden auch in Zeiten verschärfter, globaler Krisen bewahre.
Das Konzept der Imperialen Lebensweise bleibe theoretisch diffus, so die Kritik Klaus Dörres in seinem Beitrag, weil die Kriterien für Ein- und Ausschluss und die strukturellen Zwänge, die die Abhängigkeit von dieser Lebensweise herbeiführten, nicht definiert würden. Auch bleibe der Unterschied zwischen imperial und imperialistisch unklar, wie überhaupt eine Definition des „Imperialen“ in Abgrenzung zum klassischen Imperialismus fehle. Lange Zeit habe das Privileg, in einem reichen Land geboren zu sein, vor sozialem Abstieg geschützt. Die Klassenzugehörigkeit gewinne jedoch seit zwei Jahrzehnten in den Gesellschaften des globalen Nordens und Südens wieder an Bedeutung, wohingegen der „Ortsbonus“ zunehmend verfalle. Die Gewinner der Globalisierung seien folglich die Eliten, die Verlierer die Industriearbeiterschaft und das wachsende Dienstleistungsproletariat der alten Zentren. Brand/​Wissen, so die Kritik, behandelten die neue Ausprägung der Klassengesellschaft jedoch nur am Rande. Mit Begriffen wie der „Verallgemeinerung oder Vertiefung der imperialen Lebensweise“ könnten klassenspezifische Ungleichheiten nicht erfasst werden. Die Distinktion in und Polarisierung durch klassenspezifische Lebensstile müsse, so Dörre, empirisch ergründet werden, um herauszufinden, wie im Postwachstumskapitalismus symbolische Kämpfe funktionieren. Zur Herausforderung der kapitalistischen Eliten bedürfe es eines gesellschaftlichen Antagonisten, der aber nur herausgebildet werden kann, wenn Kausalmechanismen klar benannt würden, die Herrscher und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete verbinden. Ein „vereinnahmendes Wir“, wie es Brand und Wissen benutzen, vernebele hier aber nur und führe genau nicht zur Herausarbeitung der Kausalmechanismen. Die unbestimmte Zuweisung eines privilegierten Status führe zur Spaltung, wo aber diskursive Verständigung unter den Beherrschten notwendig wäre. Klassenspezifische Ungleichheiten seien, so Dörre am Ende seines Beitrages, eines der Haupthindernisse für ökologischen Fortschritt.
Die Rolle der nicht-monetären Versorgungsökonomie in einer (Post-)Wachstumsgesellschaft thematisiert Corinna Dengler. Sie fragt, wie die strukturelle Abwertung von meist weiblich konnotierter Reproduktionsarbeit und Ökosystemfunktion durch die monetäre Marktökonomie überwunden werden kann und kommt zu dem Schluss, dass die Grenzziehungen zwischen monetärer und nicht-monetärer Arbeit in einem Wachstumsparadigma kaum zu überwinden sei, weil hier nur wertgeschätzt werde, was auch monetär bewertet ist. Nur ein kleiner Teil der Ökonomie – nämlich der, der im BIP gezählt wird – sei sichtbar und gesellschaftlich anerkannt, während nicht-monetär vermittelte Aktivitäten unsichtbar blieben. Obwohl das unter Wasser liegende Fundament der Eisberg-Ökonomie die Grundlage für jeden, im BIP sichtbaren Produktionsprozess darstellt, werde es durch kapitalistische Landnahmen strukturell abgewertet, ausgebeutet und zerstört, argumentiert Dengler im Rückgriff auf Rosa Luxemburg. In einer Degrowth-Gesellschaft sieht sie hingegen Möglichkeiten für die strukturelle Aufwertung von Reproduktionsarbeit und Natur, weil hier die alltägliche Grenzziehung durch eine Strategie der emanzipatorischen Entkommerzialisierung überwunden werden könne. Rücke an die Stelle des Primats des Wachstums das Kriterium der „Lebensdienlichkeit“, so entschieden über wertgeschätzte Arbeit nicht mehr monetäre Aspekte, sondern Kriterien wie z.B. ob die Arbeit sozial gerecht und ökologisch nachhaltig ist und ein gutes Leben für alle ermöglicht.
Die Entwicklungen hin zu gewaltvollen, festungsgleichen Kontroll- und Hierarchisierungsprojekten entlang der Grenze erfordern aus Sicht Fabian Georgis eine neue Begrifflichkeit. Der Begriff des turbulenten Festungskapitalismus ermögliche aus seiner Sicht, den Aspekt der Kontrolle zu analysieren und gleichzeitig auf das eigensinnige und subversive Handeln der Migranten zu fokussieren. Festungskapitalismus beschreibt nach Georgi ein „politisches Projekt und eine globale Formation des 21. Jahrhunderts, in der restriktiv-gewaltvolle Migrations- und Grenzregime darauf zielen, den strukturellen Widerspruch zwischen den negativen Folgen einer kapitalistischen Überakkumulations- und Vielfachkrise einerseits und der Eigensinnigkeit und relationalen Autonomie von Migration andererseits mit dem Ziel zu regulieren, die kulturelle Dominanz ethno-rassistisch selektiver Klassenfraktionen zu garantieren.“ Die aus den Strukturwidersprüchen des Kapitalismus erwachsenen Krisen führten nur dann nicht zu einem Zusammenbruch dieser Verhältnisse, wenn sie im Rahmen von Migrations- und Grenzregimen erfolgreich reguliert würden. Somit müssten für die Aufhebung globaler Reproduktionsverhältnisse die strukturellen Bedingungen für repressive Migrationskontrollen in die Analysen einbezogen werden. Die benutzte Festungsmetapher möge zwar provokativ wirken, weil sie die „kämpferische Agency der Bewegungen der Migration“ unterschätze. Dennoch hält Georgi den Begriff für geeignet, denn unter dem analytischen Blickwinkel des Festungskapitalismus werde deutlich, dass festungskapitalistische Strategien nicht länger darauf abzielten, die Lebensbedingungen der breiten Masse zu verbessern, sondern ausgerichtet seien auf Abschottung herrschender und privilegierter Klassenfraktionen durch Repression und Gewalt eines globalen Polizeistaats.
Den Diskurs für die Errichtung eines Europäischen Sicherheitsregimes zeichnet Lukas Oberndorfer nach. Bestehend aus den Achsen innere Sicherheit – Militärunion und Grenzregime manifestiere sich der Diskurs in der Vorverlagerung der Grenze, im Einsatz brutaler Gewalt abseits der europäischen Öffentlichkeit und in der Schaffung von Ausschiffungsplattformen. Die qualitative Versicherheitlichung werde ermöglicht durch eine diskursive Verknüpfung von Brexit, Ukraine Krise, „Sommer der Migration“ und der Serie islamistischer Terroranschläge unter dem Leitmotiv „Ein Europa, das schützt, stärkt und verteidigt“, welches die weitere Vertiefung und Transnationalisierung der EU rechtfertigen soll. Die Verwüstungen des neoliberalen Kapitalismus würden dabei jedoch als Ursache der Krise verschleiert. Es sei, so Oberndorfer „die Verlängerung der Hegemoniekrise durch den autoritären Wettbewerbsetatismus, die dazu geführt hat, dass sich auch die Krankheitserscheinungen immer bedrohlicher vor uns auftürmen. Die blockierte Demokratie und die repressive Verhärtung haben das Gefühl der Ohnmacht und der Unbeherrschbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bevölkerung verschärft und einen noch fruchtbareren Boden für autoritäre, neo-nationalistische und rechtspopulistische Kräfte geschaffen.“ Die Herrschenden könnten, so Oberndorfers These, die Krise nicht lösen, hätten aber die Macht zu verhindern, dass andere sie lösen, was dazu führe, dass sie verlängert werde. Das Aufgreifen von rechten Narrativen im Zusammenhang mit Migration soll Zustimmung sichern und Konsens schaffen. Die Herrschenden stellten so sicher, dass die Kräfteverhältnisse und damit die Macht im Kern unantastbar blieben.
Ausgehend von der Annahme, dass gesellschaftliche Wesen nicht einfach aus gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen heraustreten können, diese aber durchaus verändernd reproduzieren und unter bestimmten Umstände auch eskalieren können, vertritt Stefanie Hürtgen in ihrem Beitrag die These, dass die Auseinandersetzung mit rechts-autoritären Verortungen und Aktivitäten von ArbeiterInnen nur im Zusammenhang mit „normalen“ sozialen Vergesellschaftungsformen erfolgen könne. Xenophobe Denk- und Handlungsweisen sieht sie strukturell verankert in herrschenden Produktions-, Arbeits- und Lebensweisen und sozialen Formen, die zugespitzt werden. Konzepte wie jenes von Dörre der „national-sozialen Gefahr“ oder Analysen, die Rechtspopulismus nur auf Einstellungen zurückführen oder die nationalchauvinistische und rassistische Beantwortung sozialer Fragen nur im rechten Spektrum verorten, blendeten die Verfasstheit kapitalistischer Arbeits- und Vergesellschaftungsformen und die ihm innewohnenden Exklusionen aus. Der aggressiv betriebene, ökonomische Standortnationalismus propagiere eine „permanente, multi-skalare Konkurrenz“, die – wie Hürtgen in der Analyse des Diskurses um die Krise in Griechenland zeigt – soziale Beziehungen kulturalisiert und somit das soziale Auseinanderdriften in Europa als Ergebnis von kulturellen Eigenschaften erscheinen lässt. Sie schreibt: „Völkisch-kulturalistische Topoi sind inhärenter Bestandteil des herrschenden Neoliberalismus, der sich zwar gern als weltoffen inszeniert, aber als politisch ideologische Absicherung des nationalen Wettbewerbsstaates systematisch autoritär-populistische, nationalistische und rassistisch unterfütterte Formierung betreibt.“ Die Herausforderung für eine emanzipatorische Politik bestehe folglich darin, ein gegen-hegemoniales Projekt zu konzipieren, welches Universalismus und Anti-Rassismus nicht nur als grundsätzliche Einstellung verteidigt, sondern sich mit der entfesselten transnationalen sozialen Konkurrenz kritisch auseinandersetzt.
Wolfganz Menz und Sarah Nies konfrontieren zentrale Erklärungen für Rechtspopulismus – sekundärer Autoritarismus, Repräsentationslücke und marktförmiger Extremismus – mit eigenen empirischen Forschungen zum Beschäftigtenbewusstsein. Die These der Repräsentationslücke, die die Erfolge rechter Parteien mit der Distanzierung der klassischen Arbeiterparteien von den Arbeitnehmerinteressen erklärt, halten sie für wenig überzeugend, und wenn dann nur für die kleine Gruppe der älteren klassischen Industriearbeiter. Die AfD werde gerade für ihre rechtspopulistischen Positionen gewählt. Der sekundäre Autoritarismus funktioniere über die Identifikation mit und gleichzeitige Unterwerfung unter die Größe und Stärke der Wirtschaft und des Marktes und gehe mit Abgrenzung nach unten und außen einher. Ähnlich argumentiert auch das Erklärungsmuster des marktförmigen Extremismus, welches in der neoliberalen Norm der Selbstoptimierung und Selbstdisziplinierung Ursachen für Abwertung sieht. Überzeugend an diesen Erklärungen sei aus Sicht der Autoren, dass sie Subjekt und Objektpositionen analytisch miteinander verbinden, wofür die Autoren auch Anhaltspunkte in ihren empirischen Untersuchungen fanden. Sie beobachteten, dass Industriearbeiter die politische Steuerbarkeit von Ökonomie und Arbeit bezweifelten und folglich normative Erwartungen erst gar nicht mehr formulierten. Hingegen erlebten sie eine propagierte Handlungsfreiheit im Fall der Flüchtlingspolitik. „Die Aufnahme oder das Abweisen der Opfer von Krieg und Verfolgung erscheint damit als Letztes Residuum der politischen Handlungsfähigkeit angesichts von allgemein durchs Ökonomische determinierten gesellschaftlichen Verhältnissen.“ Die Unterstützung rechtspopulistischer Positionen könnte folglich als Versuch interpretiert werden, Handlungsmacht wiederherzustellen. Einen Zusammenhang zwischen sozialer Deprivation und Rechtpopulismus konnten die Autoren zwar nicht nachweisen, ihre Untersuchung zeigte aber, dass Beschäftigte im allgemeinen Bewusstsein einer Abstiegsgesellschaft lebten, auch wenn sie persönlich davon nicht betroffen seien. Aus dem Bewusstsein der Beschäftigten, sich ihre soziale Position nicht allein durch eigene Anstrengungen erarbeitet zu haben, ergebe sich die Angst, dass die Position somit durch Leistung auch nicht zu halten sei, sondern der Omnipräsenz des Marktes unterliege. Es ist somit der Verlust der Leistungsfiktion, den die Autoren als Erklärungsansatz für rechtspopulistische Einstellungen aus ihrem empirischen Material ableiten.
Das Lokale als Raum des Widerstands und alternativer Lebensentwürfe, das nationale Grenzziehung in Frage stellt, ist das Thema von Katherine Braun, Anne Lisa Carstensen, Clemens Reichhold und Helge Schwiertz. Aus einer machtkritischen Perspektive auf die Diskussionen und Prozesse auf lokaler Ebene um Zugehörigkeit, Teilhabe und Aktivismus schauend, legen sie in ihrem Beitrag die Potenziale dar, die Konzepte wie Urban Citizenship und Solidarity Cities füreinen erweiterten Kampf um Rechte und Teilhabe bieten, aber auch die Fallstricke. Unter Urban Citizenship und Solidarity Cities wird gegenwärtig diskutiert, wie Zugehörigkeit, Teilhabe und Aktivismus unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus organisiert und erstritten werden kann. Kämpfe für eine solidarische Stadt, so die Autoren, stellten den soziale Zusammenhalt in den Mittelpunkt und würden nicht bedürftige von nicht bedürftigen Gruppen separieren. Folglich werde das „Andere“ nicht als Objekt der Fürsorge und Mitleid angesehen, was Möglichkeiten für gemeinsame Kämpfe gegen einen prekarisierten Alltag und für die Formung neuer Zugehörigkeiten eröffne. Letztlich bleibe der Begriff Urban Citizenship aber in den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen mit rassistischen und sexistischen Denkmustern verhaftet und sei daher als ambivalent zu bewerten.
Wie das Aufkommen des „neuen“ Autoritarismus in Mexiko, Brasilien und Kolumbien mit dem finanzmarktorientierten Wirtschaftsliberalismus verknüpft ist, zeigt Alke Jens auf. Mit Rekurs auf den „alten“ Autoritarismus in den Militärdiktaturen hält er zunächst fest, dass koloniale Machtverhältnisse entlang rassifizierter Differenzen dauerhaft manifestiert worden seien, die auch in den postkolonialen Staaten weiten Teilen der Bevölkerung eine politische Partizipation unmöglich machten. Mit Blick auf Dependenzansätze betont Jens, dass Sozialpolitik aufgrund der untergeordneten Einbindung dieser Staaten in den Weltmarkt in den postkolonialen Staaten strukturell begrenzt sein müsse. Der „neue“ Autoritarismus verknüpfe den Wettbewerbsstaat mit einem flexiblen, auf informelle Handlungslogiken zurückgreifenden Sicherheitsregime, das die Gesellschaft entlang rassistischer und klassistischer Grenzziehungen differenziere. (Un)sicherheitsdiskurse, die eine diffuse Angst aufgreifen, lieferten dabei die Akzeptanz für diese Politik und eine Disziplinierung subalterner Kräfte durch die Abwertung derjenigen, die zum herrschenden Wirtschaftsmodell nichts oder kaum etwas beitragen können. So seien breite gesellschaftliche Schichten in der Mehrzahl lateinamerikanischer Länder damit einverstanden, auf elementare Rechte zu verzichten, wenn ihnen dafür Schutz und Sicherheit in Aussicht gestellt werde, wodurch soziale Fragen, gesellschaftliche Transformation, bürgerliche Rechte und generell die Ausrichtung des ökonomischen Modells als Diskussion in den Hintergrund gerieten. Dass diese Fragen kaum mehr Gegenstand von Debatten im institutionellen Rahmen sind, hat nach Jens auch damit zu tun, dass zentrale Politikfragen auf Verfassungs- und supranationale Bereiche verschoben worden seien.
Praktiken des Widerspruchs von migrantischen LandarbeiterInnen im Süden der EU gegen die imperiale Lebensweise zeigt Olaf Tietje auf. Er untersucht, wie in einem prekären, subalternisierenden Alltag Selbstorganisation und Solidarisierung möglich sind. Die Subalternität der migrantischen ArbeiterInnen werde bedingt durch drei einander überschneidende Prozeduren: Informalisierung, Othering und Prekarisierung. Mit den informalisierten Arbeitsbedingungen und den durch das Grenzregime erzeugten Prozeduren seien prekäre Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der migrantischen LandarbeiterInnen verbunden. Diese prekarisierende Prozedur verlaufe entlang einer hierarchisierenden Differenzlinie, die auf dem Prozess des Othering beruhe. Jedoch verlaufe die Subalternisierung nicht vollständig und könne unterbrochen werden. Migranten entwickelten eigensinnige, widersinnige und widerständige Praktiken, mit denen sie die Ausbeutung zurückwiesen bzw. mit ihr handelten und damit zeigten, dass der Wille ihnen und ihren Familien ein gutes Leben zu ermöglichen, stärker ist als hierarchisierende und segmentierende Techniken des Transformationsregimes.
Wie die „Krise“ unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen immer auch eine ideologische Konstruktion ist, die dazu diene, gesellschaftliche Grundwidersprüche zu vertiefen und auf Dauer zu stellen, ist das Thema von Johanna Neuhauser in ihrer Analyse der Wirtschaftskrise in Spanien aus der Perspektive lateinamerikanischer ArbeitsmigrantInnen. Im Rückgriff auf den Marxchen Begriff der „industriellen Reservearmee“ und geschlechtertheoretische Ansätze arbeitet sie heraus, dass Frauen keine „reserve army“ seien, sondern eine „regular army of labour“. Der häusliche Dienstleistungssektor, in dem migrantische Frauen vor allem arbeiteten, sei deswegen viel weniger von krisenbedingter Arbeitslosigkeit betroffen, weil er auch schon vor der Krise von prekären Arbeitsverhältnissen geprägt war. Entgegen der dominanten Konzeption von Krise (wie von der EU vertreten) als vorübergehende Phase, kann Neuhauser mit dem Begriff der Dauerkrise gesellschaftliche Grundkonflikte und –widersprüche aufspüren, wohingegen unter dem Diskurs der Krise als vorübergehenden Zustand die Dauerkrise für ArbeitsmigrantInnen unsichtbar und somit unhinterfragt bleibe. Erst die Herausforderung dieses Diskurses zeige auf, wie die Krise als ideologisches Momentum genutzt werde, um eine Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen weiter voranzutreiben zum Vorteil der kapitalistischen Elite.
Als ein Plädoyer für die Betrachtung von „Nahverhältnissen“ und Mikropraktiken ist der Beitrag von Judith Vey zu lesen, mit der die zahlreichen Widersprüche, Brüche, Eigenlogiken und Dynamiken im herrschenden System sichtbar gemacht werden können. Bleibe die Analyse in der Perspektive der Systemlogik und Funktionalität nur auf der Makroebene oder werde der Kapitalismus als allmächtig dargestellt, liefen subversiven Praktiken Gefahr, systemkonform gedeutet zu werden. Vey zeigt in ihrer Feldforschung zur Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland, wie der autoritäre Festungskapitalismus durchdrungen werde und wo Ansatzpunkte für progressive Entwicklungen und emanzipative Strategien liegen. Das Bild des autoritären Festungskapitalismus helfe dabei, die Entwicklungen der letzten Jahre gesamtgesellschaftlich und gesellschaftstheoretisch einordnen zu können. Zusammen mit der nahen Betrachtung falle auf der Ebene der Unterkunft, Lokalpolitik und Behördenebene auf, dass die dort herrschenden Strukturen und Praxen nur zum Teil den Ausrufungen und Logiken eines autoritären Festungskapitalismus folgten, sondern auch von anderen Logiken durchzogen seien, die den kapitalistischen Ausrufungen teils zuwiderliefen, sie durchkreuzten oder zersetzten. Aus Sicht Veys ist die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen relevanter Bestandteil eines autoritären Festungskapitalismus, denn es gehe um Abwehr und Kontrolle von Flüchtenden und Schutz des kapitalistischen Zentrums, um Verwerfungen im Inneren zu verhindern.
Die kommunitäre Ökonomie politischer Kommunen ist Gegenstand der Untersuchung von Ferdinand Stengelein. Aus seinen ethnographischen Untersuchungen im Kommuja-Netzwerk, in dem Privateigentum maximal umfassend kollektiviert wird, leitet er die These ab, dass „der Modus der Begründungsaufforderung dieser mikrokommunistischen Praktiken tendenziell grenzziehungs- und identitätskritisch wirkt“. Dass nicht allen Mitgliedern der gleiche Zugriff auf das kollektive Privateigentum erlaubt werde und dass nicht allen die gleichen Aktivitäten möglich seien, führe dazu, dass Grenzen und Identitätsstiftungen in solchen kollektiven, anti-autoritären Ökonomien im Fokus stünden und als Teil dieser Ökonomie immer wieder neu verhandelt würden.
Diskussion
Die 14 Beiträge des Sammelbandes bieten eine sehr gut ausgewählte Zusammenstellung von theoretischen und empirischen Forschungen entlang alltäglicher Grenzziehungen und Externalisierungen aus verschiedenen Kontexten in Lateinamerika, dem Süden der EU und den dortigen ArbeitsmigrantInnen und aus den Unterbringungen von Flüchtlingen. Gemeinsamer Analyserahmen ist die Verknüpfung von Subjekt und Objekt im Kontext eines ausgrenzenden, aggressiv agierenden Neoliberalismus und das Verständnis von Grenzziehungen als Aushandlungsräume, in denen Widersprüche und Paradoxien dieser Institution ausgetragen werden.
Schade ist, dass mit Ausnahme des Beitrages zu autoritären Entwicklungen in Südamerika die Analysen auf den globalen Norden beschränkt bleiben, dabei sind Grenzziehungen zur Sicherung von Privilegien auch z.B. auf dem afrikanischen Kontinent zu finden. Dies wäre gerade deshalb wünschenswert, weil einige Analysen des Sammelbandes selbst zu dem Ergebnis kommen, dass der „Ortsbonus“ zunehmend verfalle und die Eliten als Gewinner der Globalisierung sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden zu finden seien. Auch hätte dem Sammelband zumindest eine Perspektive derjenigen gutgetan, deren prekärer Alltag in den Beiträgen analysiert wird. So werden Kämpfe von MigrantInnen und ihre subversiven Praktiken dargestellt, gleichzeitig kommen diese mit ihren Erfahrungen und Handlungen selber aber nicht zu Wort. Es ist wie so häufig, dass die Privilegierten über die Prekarisierten sprechen. Dennoch ist der Sammelband sehr lesenswert, weil er zum einen ein breites Spektrum an autoritären, rechtspopulistischen Entwicklungen, Externalisierungsstrategien, Abschottungspraktiken und Prekarisierungen von Arbeitsverhältnissen mit vielen Beispielen aus der Empirie beleuchtet. Zum anderen ist der Sammelband zu empfehlen, weil er Bewusstsein dafür schafft, dass Rechtspopulismus, autoritäre Entwicklungen und Grenzziehungen eben nicht der radikale Gegenentwurf zum „Normalzustand“ sind, wie sie häufig konstruiert werden, sondern Entwicklungen des derzeitigen ökonomischen Regimes mit seinem Standortnationalismus und Wettbewerbsstaat. Dadurch wird deutlich, dass wirklich emanzipatorische, gegen-hegemoniale Politiken nicht nur bei der subjektiven Verantwortung ansetzen dürfen, sondern sich gleichermaßen mit den ökonomischen Strukturen auseinandersetzen müssen. Der Blick des Sammelbandes auf verschiedene Grenzziehungen ermöglicht, – und das ist die Stärke des Buches – dass strukturelle ökonomische, politische und soziale Schließungen sowie Handlungsstrategien und Praktiken der Akteure in diesen Strukturen offengelegt und Denkanstöße für emanzipatorische Politiken gegeben werden, die vom Leser aufgegriffen und weiterentwickelt werden können. Beispielhaft sei hier verwiesen auf das Modell der Lebensdienlichkeit und auf die Aufrufe der Autoren für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der entfesselten, transnationalen sozialen Konkurrenz, für eine Ausdehnung des Konzepts der Urban Citizenship auf ländliche Räume und für eine translokale und transnationale Vernetzung. Die Weiterentwicklung, Schärfung und empirische Ergründung dieser beispielhaft genannten und der weiteren Ansätze des Sammelbandes wäre sicher einen weiteren Sammelband in dieser Reihe wert.
Fazit
Die 14 Beiträge beleuchten aus einer herrschaftskritischen Perspektive strukturell rassistische und nationalistische Abschottungen mit autoritären Restrukturierungen von liberalen Demokratien, erodierende Solidaritäten und imperiale Lebensweisen mit der Externalisierung der durch diese Lebensweise entstehenden, gesellschaftlichen und ökologischen Problemen. Gelungen ist die Zusammenstellung von theoretischen und empirischen Arbeiten aus unterschiedlichen Kontexten, die der These der Beiträge eine starke argumentative Untermauerung liefert: die „Vielfachkrise“, mit der die ungleichzeitigen Dynamiken von relativer Stabilität, Polarisierung und Prekarisierung gefasst werden, ist eine immanente Krise des Neoliberalismus, die aktuell und zunehmend stärker autoritär bearbeitet wird.
Seine Stärke bezieht der Sammelband daraus, dass sowohl die strukturierenden Bedingungen von Alltagspraxen offengelegt, als auch die Praktiken und individuellen Handlungsstrategien dargestellt werden, die Herrschaftsverhältnisse reproduzieren, aber sich ihnen auch widersetzen und sie subversiv verändern. Aus dieser Analyse werden verschiedene Denkanstöße und Ideen für gegen-hegemoniale Projekte und emanzipatorische Politiken entwickelt, die den Leser zu einer Weiterentwicklung und empirischen Ergründung einladen. Beiträge von Forschern aus dem globalen Süden fehlen dem Sammelband leider. Somit beschränkt sich die Analyse prekärer Lebensverhältnisse und Grenzziehungen auf die Perspektive der Privilegierten aus dem globalen Norden.
Rezension von
Katrin Jullien
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