Jürgen Kriz, Fritz B. Simon u.a. (Hrsg.): Der Streit ums Nadelöhr
Rezensiert von Dr. Jürgen Beushausen, 18.11.2019

Jürgen Kriz, Fritz B. Simon, Matthias Ohler (Hrsg.): Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur - wohin schauen systemische Berater?
Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2019.
152 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0313-4.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung
Thema
Moderiert von Matthias Oehler sprechen und streiten manchmal Jürgen Kriz und Fritz Simon über spannende theoretische und praktische Unterscheidungen im systemischen Ansatz und deren Folgen für die Praxis von Beratern, Organisationsberatern und Psychotherapeuten. Zentral sind die Fragen: Welche Bedeutung hat das Subjekt? Wie bedeutsam sind die Leitunterscheidungen Subjekt/​Lebenswelt oder System/​Umwelt? Ist das „Nadelöhr“ des Subjekts unverzichtbar, wie es der personenzentrierte Ansatz postuliert oder könnte man es in bestimmten Kontexten „ungestraft wegdenken“? Wodurch geschieht Veränderung? Was meint Beratung? Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit?
Autoren
- Jürgen Kriz studierte Psychologie, Philosophie und Pädagogik sowie Astronomie und Astrophysik an den Universitäten Hamburg und Wien, wo er 1969 zum Dr. phil. promovierte. Nach Assistententätigkeit u. a am Institute for Advanced Studies (Wien) hatte er von 1974 bis 1999 den Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung, Statistik und Wissenschaftstheorie an der Universität Osnabrück inne. 1980 wechselte er zum Fachbereich Psychologie, wo er 1999 die Methoden-Professur für Psychotherapie und Klinische Psychologie übernahm. Emeritus ist Jürgen Kriz seit 2010. Er war mehrfach als Gastprofessor tätig, er ist Ehrenmitglied der internationalen „Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen“ (GTA), der „Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse“ (Wien) sowie der „Systemischen Gesellschaft“ (Berlin). Von 2004 bis 2008 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie.
- Fritz B. Simon, Dr. med., Univ.-Prof.; Studium der Medizin und Soziologie ist Psychiater und Psychoanalytiker, systemischer Therapeut und Organisationsberater. Forschungsschwerpunkte sind die Organisations- und Desorganisationsprozesse in psychischen und sozialen Systemen. Er ist, wie Jürgen Kriz, Autor bzw. Herausgeber vieler wissenschaftlichen Fachartikel und Fachbücher.
- Matthias Ohler studierte Studium Philosophie und Linguistik. Er ist Systemischer Berater, Musiker und Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlages. Zudem ist er als Dozent und Ausbilder in eigenen Weiterbildungsreihen und an Hochschulen, Kliniken sowie Weiterbildungsinstituten tätig.
Entstehungshintergrund
Das Buch erscheint in der Reihe Systemische Therapie und Beratung, in der neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit und Gespräche mit renomierten Systemikern dokumentiert werden.
Aufbau
Das Buch gliedert sich einführend in ein Vorwort und ein Nachwort als Ouvertüre. Die großen Kapitelüberschriften lauten der Vormittag, der Nachmittag, der Nachmittag (zwei) und Nachschlag. Die Unterüberschriften benennen Schlagworte der im Gespräch behandelten Themen.
Inhalt
Eine übliche Rezension, in der die Inhalte referiert werden, ist meines Erachtens für dieses Buch nicht nützlich, da ein Gespräch dokumentiert wird, welches eigenen Ritualen folgt. Daher werde ich auf einzelne mir bedeutsame Aspekte eingehen. Einführend folgt auf das Vorwort von Matthias Oehler ein Nachwort als Ouvertüre, indem analog der Methode des Reflecting Team das Gespräch auf einer Metaebenen reflektiert wird.
Kontrovers diskutiert wird in den ersten Kapiteln die Bedeutung von Leitinterscheidungen und der Bedeutung des Subjekts und über die Unterscheidung der Ebenen des Verstehens und Unterscheidens. Verdeutlicht wird dies beispielsweise an der Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Bedarf, wobei Bedürfnisse das sind, was jemand spürt und Bedarf das ist, was jemandem von außen, interpersonell aufoktroyiert wird.
Diese theoretischen Unterscheidungen haben vielfältige Auswirkungen auf die Praxis. Während Kriz die Bedeutung des Subjekts betont, fokussiert Simon eher die Veränderung der Spielregeln. Überlegt wird, inwieweit bei angestrebten Veränderungen auf Paar-, Familien, Team- und Organisationebene was zu fokussieren wäre.
Interessant waren für mich auch die Anmerkungen über das Coaching. Am Beispiel des Burnouts wird aufgezeigt, das die Veränderung einer Organisation durch die Unterstützung eines Einzelnen eher nicht zu Veränderungen der Organisation führt, sondern oftmals eher zu einer Anpassung oder „schädlichen“ Überforderung – zu einem „Opfer“ der Strukturen. Andererseits lassen sich die Regeln einer Organisation nur aufrechterhalten, solange die anderen mitwirken, also zum „Mittäter“ werden.
Thematisiert wird dann, wie es Organisationen schaffen den „Körper quasi wegzudenken oder allenfalls als Randbedingung für die Produktion zu behandeln“ (S. 58).
Das Kapitel „Der Nachmittag“ beginnt mit Anmerkungen über den Gummibegriff Beratung. Dem schließt sich eine umfassende Kritik an unserer heutigen Psychiatrie an, zum Beispiel an der Biologiesierung. Im Folgenden geht es immer wieder um die Bedeutung des Subjektes in der Theorie und die Organisation von Selbstorganisation.
Der Nachschlag, das letzte Kapitel beginnt leider mit einer Wiederholung. Allerdings kommen die Autoren dann noch zu interessanten Anmerkungen über die Paartherapie und den Traumabegriff.
Diskussion
Der Herausgeber Matthias Oehler greift als Moderator selten in das Gespräch ein, spitzt wenig zu und trägt manchmal eher zur Wiederholung bei, indem er bereits diskutierte Fragen wieder ins Gespräch bringt. Vorgestellt wird ein durchaus anspruchsvolles theoretisches Buch, das auch die sich hieraus ergebenden Praxisfragen thematisiert.
Strittig sind zwischen den Autoren letztlich nur theoretische Aspekte. Dieser Streit ist wichtig, damit die eigenen Ideen und die daraus resultierenden Haltungen reflektiert werden. Die Auseinandersetzungen und Kleinstreitereien sind unterhaltsam. Für Praktiker sind sie sicherlich manchmal kleinlich. Hierzu ein kleines Zitat: „Simon: Es geht mir eher um die Sauberkeit der Theoriekonstruktion. Kriz: Ja, ich würde sagen, beide Theorien sind sauber. Allerdings wohl nicht die Mischung aus beiden“ (S. 108). Manchmal vergessen die Autoren jedoch, dass man nicht zu sehr an Theorien glauben sollte.
Fazit
Empfohlen werden kann dieses Buch Leserinnen, die an theoretischen und praktischen systemischen Fragen interessiert sind. Vorausgesetzt werden zum Teil Grundkenntnisse systemischer Theorien.
Insgesamt wird die Debatte um leitende Unterscheidungen im systemischen Ansatz und deren Folgen für die beraterische Praxis fundiert, ausführlich und unterhaltsam geführt. Somit erfüllt sich die Aussage des Verlages, dass hier ein äußerst lehrreicher Streit, für Anfänger genauso, wie für erfahrene Berater, Coachs und Therapeuten geboten wird.
Rezension von
Dr. Jürgen Beushausen
lehrt als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der Diploma Hochschule. Er ist zudem als Supervisor und in der Weiterbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 18.11.2019 zu:
Jürgen Kriz, Fritz B. Simon, Matthias Ohler (Hrsg.): Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur - wohin schauen systemische Berater? Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2019.
ISBN 978-3-8497-0313-4.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26284.php, Datum des Zugriffs 11.08.2022.
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