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Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers: Alternative Wirklichkeiten?

Rezensiert von Dr. Antje Flade, 07.01.2020

Cover Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers: Alternative Wirklichkeiten? ISBN 978-3-8376-4717-4

Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers: Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben. transcript (Bielefeld) 2019. 214 Seiten. ISBN 978-3-8376-4717-4. D: 22,99 EUR, A: 22,99 EUR, CH: 29,10 sFr.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

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Thema

Ausgehend davon, dass Gesellschaften nicht gegen Falschinformationen und Meinungsbeeinflussung gefeit sind, wird der Frage nachgegangen, wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und welche Wirkungen sie entfalten. 

Autorinnen

Katrin Götz-Votteler und Simone Hespers sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Zentralinstitut für Wissensreflexion und Schlüsselqualifikationen der Universität Erlangen.

Aufbau

Das Buch besteht aus einer Einleitung, neun inhaltlichen Kapiteln, einem Schlusskapitel und einem ausführlichen Literaturverzeichnis.

Inhalte

In der Einleitung „Zwischen Wissensgesellschaft und postfaktischem Denken“ werden zentrale Fragen der Wissensgesellschaft aufgeworfen: der Zwang zum fortwährenden Kompetenzerwerb, die zunehmende Bedeutung von Gefühlen bei der Meinungsbildung (= postfaktisch) und die Übermittlung falscher Informationen. Fake News und Verschwörungstheorien gedeihen in einem Klima der Unsicherheit, sie schaffen noch mehr Unsicherheit und vermehrtes Misstrauen. Erklärungen, die besser zu den eigenen Vorstellungen passen, werden übernommen und vertreten.

Thema des ersten Kapitels sind Fake News, wobei ein konkretes Beispiel: der von Donald Trump geführte Wahlkampf, als Einstieg dient. Die Täuschungsabsicht ist ein Merkmal von Fake News, was diese von versehentlichen Falschmeldungen wie „Zeitungsenten“ unterscheidet. Ein weiteres Merkmal ist die politische und gesellschaftliche Relevanz von Fake News, die sie von harmlosen Scherzen, Klatsch und Gerüchten unterscheidet. Motive für Fake News sind politische und ökonomische Interessen. Drei Arten werden beschrieben:

  1. False Balance (bestimmten Themen wird eine übermäßige Aufmerksamkeit zuteil),
  2. Propaganda und
  3. Desinformation.

Fake News sind auch ein Kampfbegriff, mit dem bestimmte Medien diskreditiert werden. 

Im zweiten Kapitel werden Verschwörungstheorien unter die Lupe genommen, für deren Verbreitung digitale Medien förderlich sind. Unterschieden werden drei Arten:

  1. Es wird geleugnet, dass ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat;
  2. die Erklärung für ein Ereignis wird nicht akzeptiert, sondern ein Gegenentwurf angeboten;
  3. ein Ereignis wird vollkommen anders erklärt, wobei auch das Überirdische einbezogen wird.

Der Glaube zu wissen, was hinter allem steckt, vermittelt ein Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit. Weitere Aspekte sind, dass man die Verantwortung für bestimmte Ereignisse von sich weisen kann, weil diese auf den Machenschaften der anderen beruhen, und dass eine Verschwörungstheorie dazu verhelfen kann, Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit zu bewältigen. Verschwörungstheorien verfälschen unser Verständnis von vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen. Als Beispiele führen Götz-Votteler und Hespers den Klimawandel, die Stigmatisierung gesellschaftlicher Gruppen und die Missachtung von Impfempfehlungen gegen Infektionskrankheiten an. 

Im dritten Kapitel werden Krisen- und Umbruchphänomene betrachtet, welche die Menschen verunsichern und damit das Aufkommen von Verschwörungstheorien fördern. Terroristische Anschläge rufen Gefühle der Bedrohung hervor. Einschneidende Umbrüche werden durch die Digitalisierung und das Smartphone sowie Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz und der Biotechnologie verursacht. Die Erkenntnis, dass diese Entwicklungen nicht mehr zu stoppen sind, ruft Verunsicherung und Angst hervor. Hinzu kommen Vertrauensverluste in etablierte Autoritäten und Orientierungslosigkeit, was die Bereitschaft, Fake News für bare Münze zu nehmen, steigert.

Das vierte Kapitel befasst sich, anknüpfend an die Rede von Donald Trump bei seiner Amtseinführung, mit dem Paradox der alternativen Fakten. Die Wörter „Fakten“ und „alternativ“ schließen sich eigentlich aus. Die Autorinnen skizzieren den Weg, der zu dem Phänomen des alternativen Fakts führt, durch Exkurse über Wahrnehmungsprozesse und das Phänomen der kognitiven Dissonanz. Wenn Trump von alternativen Fakten spricht, will er damit offensichtlich das Wahrgenommene als Fakt hinstellen.

Im fünften Kapitel werden die traditionellen Massenmedien als eine Plattform behandelt, auf der Fake News verbreitet und Verschwörungstheorien bekräftigt werden. Medien können zugleich Gegenstand einer weit verbreiteten Verschwörungstheorie sein, was im Begriff „Lügenpresse“ zum Ausdruck kommt. Ohne Zweifel funktionieren vor allem Medien mit hoher Reichweite als Gatekeeper. Hier entscheiden die Programmverantwortlichen, in welcher Form und in welcher Tiefe über Sachverhalte berichtet wird. Sie beeinflussen damit die Meinungsbildung. Das nährt die verschwörungstheoretische Annahme, dass hier ganz bewusst gelenkt wird. Götz-Votteler und Hespers weisen darauf hin, dass die Medien möglichst viele Menschen erreichen wollen, was Infotainment, Simplifizierungen, Stereotypisierungen und eine False Balance begünstigt und damit zu Verzerrungen der Wirklichkeit beiträgt.

Im sechsten Kapitel werden die digitalen Medien behandelt. Es ist keine Frage, dass das Internet zu einer bevorzugten Nachrichten- und Informationsquelle geworden ist. Götz-Votteler und Hespers erklären den Erfolg von Fake News im Internet durch Verweise auf den Pressekodex, der für online Inhalte nicht gilt, auf die Finanzierung primär über Werbung und auf die Personalisierung von online-Inhalten, was zu positiven Rezeptionserfahrungen führt. Der enge Zusammenhang zwischen den dadurch erzeugten individuellen Filterblasen und den verstärkenden Echokammern wird erläutert. Hinzukommt, dass Inhalte, die Emotionen auslösen, auf größeres Interesse stoßen als nüchterne Sachbeiträge in den klassischen Medien.

Im siebten Kapitel geht es um die Sprache als Mittel der Erfassung der Wirklichkeit. Zweifellos beeinflusst die Sprache unser Denken. Sie spielt bei der Schaffung und Verbreitung von Fake News eine zentrale Rolle. Welche Aspekte hervorgehoben und wie sie miteinander verknüpft werden, spiegelt sich in Narrativen und im Framing wider. Die Autorinnen weisen hier auf den Kommunikationswissenschaftler Walter Fisher hin, der festgestellt hat, dass Menschen das Gehörte danach beurteilen, ob es eine gute Geschichte ist. Eine solche Geschichte ist z.B. der American Dream, die Mär vom sozialen Aufstieg. Das grundlegende Narrativ, auf dem Verschwörungstheorien basieren, ist das Narrativ vom Kampf Gut gegen Böse. Framing ist eine Strategie, mit der Inhalte hervorgehoben und perspektiviert werden. Eingegangen wird auf Frames und die Verwendung von Metaphern, von denen es abhängt, wie Ereignisse interpretiert werden. Ein Beispiel, das Götz-Votteler und Hespers anführen, ist das Wort „Flüchtlingswelle“, das mit Wassermassen und Gefahren assoziiert wird.

Im achten Kapitel wird die Frage untersucht, welche Macht Bilder hinsichtlich der Art haben, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Fotografien werden sinnlich erfasst und wirken damit glaubwürdig. Doch sie sind allein schon deshalb nicht objektiv, weil der Fotograf einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit auswählt und weil die Fotografie eine aus dem Kontext gerissene Momentaufnahme ist. Man kann auf Bildern etwas weglassen, was den Drang zur Interpretation noch verstärken kann. Ein einzelnes Bild auf dem Filmstreifen ist ein Frame, der bewirkt, dass wir es in ein bestimmtes Deutungsraster einordnen. Hinzukommt noch, dass insbesondere Bilder im Gedächtnis gespeichert werden. Ausführlich gehen Götz-Votteler und Hespers auf die bildliche Berichterstattung zu 9/11 ein, die in das Narrativ vom Kampf Gut gegen Böse eingeordnet wurde, was die Deutungen über nachfolgende Ereignisse beeinflusst hat. 

Im neunten Kapitel wird die Frage aufgeworfen, warum populistische Strömungen ein besonders fruchtbarer Nährboden für Fake News und Verschwörungstheorien zu sein scheinen. Populismus ist Zeichen einer Krise der Demokratie, die sich im Vertrauensverlust in die politischen Vertreter, Zukunftsängsten und dem zunehmenden Einfluss verschiedener Lobbygruppen manifestiert. Komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge werden verkürzt und vereinfacht dargestellt. Es werden Lösungen in Aussicht gestellt, die nicht realisierbar sind. Den etablierten Medien wird misstraut, weil sie Teil der Elite sind, was sich im Begriff der „Lügenpresse“ widerspiegelt. Um Fake News handelt es sich, wenn die Verkürzung so geschieht, dass sie bestimmte Deutungen suggerieren.

Im Schlussteil wird die Frage aufgeworfen, wie man sich gegen Fake News und Verschwörungstheorien wappnen kann. Fünf Strategien werden skizziert:

  1. sich über Sachverhalte besser informieren;
  2. die Quellen ansehen, von denen die Nachrichten stammen;
  3. prüfen, ob die Behauptungen belegt werden, welche Sprache verwendet wird und ob Bilder gezeigt werden;
  4. digitale Kompetenz;
  5. Diskussionen auf der rationalen Ebene führen, z.B. nachfragen, was die Beweise für eine geäußerte Meinung sind.

Abschließend werden Websites zum Faktencheck angeführt sowie allgemeine Hinweise gegeben, wie man die Entstehung eigener Filterblasen und Echokammern verhindern kann.

Diskussion

Das hoch aktuelle Thema wird von den Autorinnen gründlich durchleuchtet. Ihre Ausführungen werden mit konkreten Beispielen veranschaulicht und bereichert. Ein wesentliches Kriterium von Fake News ist deren gesellschaftliche und politische Relevanz, sodass die Befassung damit hinreichend begründet ist. Ein weiteres Kriterium ist die Täuschungsabsicht. Dass dieses Kriterium an manchen Stellen nicht besonders trennscharf ist, zeigt sich vor allem im achten Kapitel, das sich mit „der Macht der Bilder“ befasst. Die Grenze zwischen absichtvoller Täuschung und einer einfachen Nachbearbeitung von Bildern ist mitunter nur schwer zu ziehen, weil es dabei auch auf den Betrachter und dessen Wissen über ein dargestelltes Ereignis und seine persönliche Deutung eines Bildes ankommt. „Grundsätzlich erschließt sich der Inhalt von Bildern nicht von selbst. Wir müssen sie erst interpretieren“ (S. 157). Für denjenigen, der sie falsch interpretiert, wären dann die Bilder Fake News, d.h. sie werden also erst durch den Betrachter zu Fake News. 

Zu den Verschwörungstheorien wird erst einmal klar gestellt, dass es keine Theorien im wissenschaftlichen Sinne, sondern Mythen bzw. Ideologien sind. Im Grunde sind es nicht drei, wie es die Forscherinnen darstellen, sondern nur zwei Kategorien: Es wird geleugnet, dass es ein Ereignis gegeben hat; das Ereignis wird anders erklärt, wobei die Erklärungen eine unterschiedliche Reichweite haben können. Die Frage, inwieweit an diesen „Theorien“ auch etwas Wahres dran sein könnte, dass es also keine 100 %igen Hirngespinste sind, wird nicht diskutiert. Es entsteht so das Narrativ einer wahren und einer gemachten Wirklichkeit. Inwiefern es jedoch eine wahre Wirklichkeit überhaupt geben kann und ob sie mehr oder weniger nicht immer auch ein Konstrukt ist, wird nicht reflektiert.

Der Populismus, auf den im neunten Kapitel eingegangen wird, geht über die Themen Fake News und Verschwörungstheorien hinaus. Denn dabei werden nicht nur komplexe Wirkungszusammenhänge extrem vereinfacht und damit auch verzerrt und verfälscht, sondern es werden auch einfache nicht realisierbare Problemlösungen angepriesen, sodass die Bürger und Bürgerinnen einer eigenen Prüfung und Entscheidung enthoben sind. Eine nicht gestellte Frage ist, inwieweit Vereinfachungen bereits als Fake News anzusehen sind. Götz-Votteler und Hespers nennen als Ursachen populistischer Strömungen unter anderen Zukunftsängste und einen Vertrauensverlust gegenüber den politischen Eliten. Diese Ängste sind nicht aus der Luft gegriffen und korrupte Politiker gibt es, sodass sich hier durchaus eine Wirklichkeit abzeichnet, die man nicht ohne weiteres als Verschwörungstheorie abtun kann. Es wird nicht diskutiert, inwieweit es überhaupt eine wahre Wirklichkeit und „wahre“ Informationen geben kann. Schließlich können Sachverhalte unterschiedlich gedeutet werden; so kann auch eine Täuschungsabsicht unterstellt werden, die möglicherweise gar nicht bestanden hat. Es wird insgesamt zu sehr der Eindruck erweckt, dass man Fake News problemlos identifizieren kann, d.h. dass Täuschungsabsichten offen zutage treten, was insbesondere bei Bildern oft seht schwer fallen dürfte.

Fazit

Das Buch befasst sich mit einem gesellschaftlich und politisch relevanten Thema: gefälschten Informationen und Denkmustern, die vorgeben, wie etwas zu verstehen ist. In den einzelnen Kapiteln werden beginnend bei den Fake News bis hin um Populismus zentrale Fragestellungen behandelt. Das verständlich geschriebene, mit anschaulichen Beispielen versehene Buch liefert eine Fülle an gesellschaftlich relevantem und nützlichem Wissen. Es ist unbedingt allen Bürgern und Bürgerinnen zu empfehlen. 

Rezension von
Dr. Antje Flade
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Zitiervorschlag
Antje Flade. Rezension vom 07.01.2020 zu: Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers: Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben. transcript (Bielefeld) 2019. ISBN 978-3-8376-4717-4. Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26293.php, Datum des Zugriffs 01.10.2023.


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