Johannes Kaspar, Tonio Walter: Strafen "im Namen des Volkes"?
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 06.02.2020
Johannes Kaspar, Tonio Walter: Strafen "im Namen des Volkes"? Zur rechtlichen und kriminalpolitischen Relevanz empirisch feststellbarer Strafbedürfnisse der Bevölkerung. edition sigma im Nomos-Verlag (Baden-Baden) 2019. 286 Seiten. ISBN 978-3-8487-5270-6. 86,00 EUR.
Thema
Tagtäglich werden strafrechtliche Verurteilungen „im Namen des Volkes“ ausgesprochen. Wie und was ist damit gemeint? Ist damit (auch) das tatsächlich vorhandene Strafbedürfnisse und Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung gemeint? Sind diese Phänomene mit empirischen Methoden verlässlich zu ermitteln? Und weiter: lässt es sich theoretisch begründen, dass entsprechende Erkenntnisse vom Strafgesetzgeber oder von der Strafjustiz bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen sind? Die Beiträge im vorliegenden Band (der auf Vorträgen einer Fachtagung vom November 2018 an der Universität Augsburg fußt) gehen diesen Fragen aus strafrechtlicher wie kriminologischer Sicht nach und befassen sich u.a. damit was in der Bevölkerung als strafbar eingeschätzt wird und welche Bedürfnisse hinsichtlich Strafhöhe und Sanktionspraxis bestehen.
Autorinnen
Die Herausgeber lehren am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Sanktionenrecht der Universität Augsburg (Prof. Dr. Kaspar) und am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht der Universität Regensburg (Prof. Dr., RiBayObLG Walter). Die Einzelbeiträge wurden, so nicht von den Herausgebern von international renommierten Lehrenden bzw. Forschenden der Universitäten Luzern, Augsburg, Regensburg, Wien, Bonn, Pennsylvania, Erlangen und Köln verfasst.
Aufbau und Inhalt
Der Tagungsband beinhaltet 14 Vorträge in verschrifteter Form. Dem Tagungsablauf folgend werden die den Einzelvorträgen bzw. aufeinanderfolgenden Vorträgen folgenden Tagungsdiskussionen in Form von Diskussionsberichten abschnittsweise protokolliert.
Der Band wird durch den Beitrag von Prof. Paul Robinson, University of Pennsylvania einführend eröffnet, der prominenteste US-amerikanische Vertreter einer an empirisch ermittelten Gerechtigkeitsintuitionen (der Bevölkerung) orientierten Straftheorie. Robinson verweist zunächst auf die Diskursgeschichte in der Straftheorie, die seit jeher in zwei Lager gespalten ist, die utilitaristischen Ansätze die Strafe in ihrer Funktion der Abschreckung und Sicherung als Mittel der Präventionen definieren und Vergeltungstheorien, welche das Ziel Gerechtigkeit zu üben in den Vordergrund stellen. Um diese, in der Ideengeschichte widerstreitenden und unvereinbaren Positionen zu versöhnen, schlägt der Autor vor, eine stärkere Orientierung am Strafbedürfnis der Allgemeinheit, an allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen zu fördern, auch um eine bessere Verankerung des Sanktionensystems in der Gesellschaft zu erreichen. Robinson folgt in seinem Vortrag fünf Fragestellungen, welche auf Grundlage empirischer Arbeit (auch des Autors) beantwortet werden.
- Gibt es überhaupt Gerechtigkeitsvorstellungen in der Bevölkerung?
Für einen Kernbereich von straffälligem Verhalten scheint es eine übereinstimmende Einschätzung was strafbar ist und wie gestraft werden soll. Über diesen Kernbereich hinaus bestünden jedoch erhebliche Meinungsverschiedenheiten, die umfassend erhoben werden und berücksichtigt werden müssten um ein Strafrechtssystem zu konstruieren, dass sich den Vorstellungen der Bevölkerung bestmöglich annähert.
- Sind die Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung nicht drakonisch und grausam?
Auf Grundlage einiger Forschungsergebnisse und selbst erhobener Daten beschreibt Robinson, dass die gegenwärtige Strafpraxis in den USA an der Einstellung der Bevölkerung vorbei geht, allerdings mit dem Ergebnis, dass die Bevölkerung zu deutlich milderen Strafen neigt, als in Gerichtsverfahren üblicher Weise abgeurteilt wird. Laut Robinson eine Folge der amerikanischen Sicherheits- und Kriminalpolitik.
- Warum sollte sich die Kriminalitätskontrolle dafür interessieren, was die Gemeinschaft für gerecht hält?
„Die empirische Forschung deutet darauf hin, dass der Gebrauch von Regeln zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit und zur Bestrafung, die den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft widersprechen kontraproduktiv ist“ (25). Robinson führt einige dieser Forschungsbefunde auf und plädiert für eine Stärkere Orientierung an gesellschaftlichen Strafvorstellungen.
- Sollten Abschreckung und Sicherung nicht dennoch einen größeren Wirkeffekt haben als die Orientierung an empirisch belegbaren Strafbedürfnissen?
Hier kommt es, so der Autor, darauf an, beide Ansätze angemessen zu verfolgen und glaubwürdig, d.h. nachvollziehbar zu gestalten. „Selbst wenn man … davon ausginge, dass solche … Prinzipien … wie Abschreckung oder Sicherung einen Vorteil bei der Kriminalitätsbekämpfung bieten, indem von der gerechten Strafe abgewichen wird, so ist es doch wahrscheinlicher, dass jeder Vorteil dieser Art durch denjenigen Wirksamkeitsverlust bei der Kriminalitätsbekämpfung vernichtet wird, der sich einstellt, wenn solche Abweichungen von der gerechten Strafe die moralische Glaubwürdigkeit des Strafrechtssystems in der Gemeinschaft untergraben“ (31).
- Sollte das Strafrecht überhaupt von den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung abweichen?
Abweichungen wird es als immanentes Problem der Kriminalpolitik immer geben, was zum einen von der Art der Deliktklassen, aber auch von den Meinungsbildungsprozessen der Gesellschaft abhängt. Als gesellschaftspolitisches Moment ergeben sich für den Strafrechtsbereich Gestaltungsmomente um den Diskurs in der Gesellschaft zu fördern.
Die folgenden vier Beiträge gehen auf unterschiedliche Aspekte einer empirisch begründeten Vergeltungs- und Straftheorie ein. Robinson gibt zunächst einen Überblick zu internationalen Entwicklungen, gefolgt von „Grundlagen einer empirisch begründeten Vergeltungstheorie“ von Herausgeber Tonio Walter (der eine empirisch-soziologische Vorgehensweise als Weg zu einer rationaleren Kriminalpolitik propagiert). Dem folgen verfassungsrechtliche Aspekte einer empirisch fundierten Theorie der Generalprävention von Herausgeber Kaspar und Überlegungen zur Rolle der Spezialprävention aus Sicht der Bevölkerung von Katrin Höffler.
Zwei weitere Beiträge befassen sich mit konkreten Forschungsprojekten und deren empirischem Ertrag für ein stärker an gesellschaftlichen Strömungen orientiertes Strafsystem. Zunächst fragen Henning Müller und Annemarie Schmoll danach, ob der Ansatz der Deliktschwereforschung als Grundlage für ein gerechteres Strafrechtssystem dienen kann. Die Autoren differenzieren zunächst den Unterschied zwischen Deliktschwereforschung und Strafeinstellungsforschung und benennen methodische Probleme der Forschungsansätze, welche bei Befragung der Bevölkerung an Kategorien orientiert ist, welche i.d.R. nicht geeignet sind ein Abbild realer Schweremaßstäbe von Kriminalität und deren Wahrnehmung in der Gesellschaft zu erheben. Die Autoren nehmen eine deutlich skeptische Haltung ein, bezüglich Bevölkerungsbefragungen Erkenntnisse über deren Einstellung zu erheben und so ein gerechteres Strafrechtssystem herzustellen.
Diesen Überlegungen schließt sich im Folgebeitrag Franz Streng mit einem Überblick zu Studien zum Strafbedürfnis der Bevölkerung, insbesondere forschungsmethodischen Aspekten und ausgewählten Ergebnissen an. Bemerkenswert ist hier, dass „bei allen Sanktionsfragen ein klarer Trend zu härteren Strafen beobachtbar ist“ (149). Der Zeitrahmen dieser Studien umfasst bis zu 39 Jahre und liegt zwischen 1977 und 2016.
Im folgenden Abschnitt befassen sich vier Beiträge, teils auf empirischer Basis, teils auf theoretischen Ansätzen basierend mit grundlegenden Fragestellungen einer stärker an gesellschaftlichen Rechtsvorstellungen orientierten Strafpraxis. Die einzelnen Texte gehen auf die Phänomene „Verteidigung der Rechtsordnung und öffentliches Interesse als Rechtsbegriffe mit empirischem Gehalt?“ (Philipp Eierle), „Die Bedeutung des Unrechtsbewusstseins für Gerechtigkeitsintuitionen und Strafbedürfnisse der Bevölkerung“ (Lukas Cerny), Vorstellungen zur Reichweite des Notwehrrechts in der Bevölkerung (Gregor Prijatelj) und das Verhältnis des Strafbedürfnisses der Bevölkerung im internationalen Vergleich (Konstantina Papathanasiou) ein. Insgesamt wird deutlich, dass die Vorstellungen in der Bevölkerung (teils stark) von den geltenden Rechtsnormen abweichen und eine Veränderung, oder gar Anpassung gesellschaftlicher Bedürfnisse an die gesetzliche Lage nur schwer zu erreichen ist. Daneben bestehen z.T. deutliche Unterschiede im internationalen Vergleich.
Der letzte Abschnitt umfasst drei Beiträge mit teils grundlegenden, teils methodisch-kritischen Überlegungen zur Anwendbarkeit empirischer Argumente für Strafzweckdiskussionen (hier bezogen auf die Situation in der Schweiz, von Anna Coninx), individuelles Strafverhalten im Spiegel rechtsökonomischer Experimente (Peter Lewisch) und Strafzumessungsforschung und deren Ertrag für rechtspolitische Überlegungen (Elisa Hoven und Thomas Weigend). Die Beiträge deuten an, dass es nur zufällig und von individuellen Verhältnissen ausgehend zu einem Austausch zwischen Strafrechtsinstitutionen, Gesellschaft und Wissenschaft kommt. Als Resümee der Schlussbeiträge, aber auch der dem Band zugrunde liegenden gesamten Tagung kann formuliert werden, dass „eine Gesellschaft … durch den Gesetzgeber entscheiden (müsse), welche Strafe sie für angemessen halte; die weiten Strafrahmen ohne tatsächlich präzisierende Strafzumessungskriterien würden dem nicht gerecht“ (276), wodurch die Wertung von Richtern auch oft fehleranfällig sei. Um hier eine Entwicklung voranzubringen, scheint die Nutzung empirischer Daten zum feststellbaren Strafbedürfnis der Bevölkerung ein möglicher Weg zu sein.
Der Tagungsband richtet sich an Fachkräfte unterschiedlicher Disziplinen und politisch Verantwortliche, die an der Fragestellung rechtlich und kriminalpolitischer Relevanz empirisch feststellbarer Strafbedürfnisse in der Bevölkerung interessiert sind.
Diskussion
Der Tagungsband macht die im November 2018 in Augsburg gehaltenen Vorträge in schriftlicher Form zugänglich und erlaubt durch die Absatzweise enthaltenen Diskussionsprotokolle einen detaillierten Zugang zum Tagungsgeschehen und zur Dynamik der in diesem Rahmen geführten Auseinandersetzung. Damit erschließen sich für den Leserkreis des Bandes nicht nur überblicksartige Aspekte des Themas, sondern wird ein tiefer Einstieg in die Fragestellung ermöglicht. Dass die Frage nach einer Orientierung an empirischen Befunden zum Strafbedürfnis in der Bevölkerung im rechtlichen und kriminalpolitischen Diskurs wesentlich ist, auch wenn die Diskussion um diese Fragestellung weiter kontrovers geführt wird, liegt u.a. daran (und das verdeutlicht der Tagungsband), dass die Wirkung des Strafrechts, vor allem die präventiv wirkenden Effekte. von der Nachvollziehbarkeit und moralischen Glaubwürdigkeit abhängen. Schon aus diesem Grund stellt sich die Frage nach den gesellschaftlich-empirischen Grundlagen des Strafrechtssystems. Offen bleibt allerdings, und dazu findet sich kein einziger Beitrag, wie Meinungsbildungsprozesse in der Gesellschaft funktionieren, wodurch sie, abgesehen von der Strafrechtspraxis, geprägt und beeinflusst werden. Auf die Rolle der Medien, deren Berichterstattung zu aktuellen strafrechtlichen Fragen, Prozessen und Phänomenen einen erheblichen Beitrag haben, wird in keinem der Beiträge aufgegriffen. Dafür müsste, und das Thema hätte das verdient, ein stärker interdisziplinärer Ansatz verfolgt werden, um etwa Befunde der Medien- und Medienwirkungsforschung einbeziehen zu können. Allerdings finden sich in dem Band wertvolle Hinweise zu den divergierenden Positionen einer soziologisch-empirischen Orientierung in Strafrecht und Kriminalpolitik und eine Reihe wesentlicher forschungsmethodologischer Überlegungen, wodurch belegt wird, dass die Frage danach ob „Strafen ‚im Namen des Volkes‘?“ getroffen werden auch in unserem Rechtssystem konsequenter beforscht und beantwortet werden muss.
Fazit
Ein wichtiger Tagungsband der über den angesprochenen Expertenkreis hinaus eine hohe Relevanz für alle an Strafrecht, Strafrechtsfragen und Kriminalpolitik Interessierten aufweist und alle relevanten Aspekte von forschungsmethodischen Überlegungen, Grundlagenaspekten wie straftheoretischen Grundlagen, Vergeltungsbedürfnis, General- und Spezialprävention, Strafrahmenforschung bis zu verfassungsrechtlichen Aspekten aufgreift. Ein Grundlagenwerk für die einschlägigen Ausbildungsgänge des Strafrechts und der Kriminologie.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 06.02.2020 zu:
Johannes Kaspar, Tonio Walter: Strafen "im Namen des Volkes"? Zur rechtlichen und kriminalpolitischen Relevanz empirisch feststellbarer Strafbedürfnisse der Bevölkerung. edition sigma im Nomos-Verlag
(Baden-Baden) 2019.
ISBN 978-3-8487-5270-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26299.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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