Hanna Ketterer, Karina Becker (Hrsg.): Was stimmt nicht mit der Demokratie?
Rezensiert von Peter Flick, 18.12.2019
Hanna Ketterer, Karina Becker (Hrsg.): Was stimmt nicht mit der Demokratie?
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
271 Seiten.
ISBN 978-3-518-29862-6.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2262.
Thema
Wir leben zwar nicht in Brechts „finsteren Zeiten“, aber die Zukunftsaussichten der liberalen Demokratie haben sich verdüstert. Mit der wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit erstarkt weltweit ein Rechtsnationalismus, von Indien bis Brasilien, von Europa bis in die USA. Auch in der Bundesrepublik Deutschland kehren siebzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes die Zweifel wieder, ob die Demokratie in Deutschland nicht vielleicht doch nur das glückliche Produkt einer einmaligen Konstellation der Nachkriegsgeschichte, des deutschen „Wirtschaftsmärchens“ (Ulrike Herrmann) ist.
Die aktuelle Krise der Demokratie interpretieren die Autorinnen und Autoren in dem von Hanna Ketterer und Karina Becker herausgegebenen Sammelband als Unfähigkeit der liberalen Demokratie, den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft durchzusetzen. Da sich der Staat mit dem Projekt des „Neoliberalismus“ ganz aus der Wirtschaft zurückgezogen habe, kann der globale Finanzkapitalismus sich in einer nicht gebremsten destruktiven Dynamik entfalten, was dazu führt, dass die Demokratie immer mehr an sozialer Zustimmung verliert. In der „Krise des Liberalismus“ aber wächst auch das Rettende: die „massenhafte Abkehr von einer Politik des >Weiter so<“ (Nancy Fraser, S. 97). Sie soll aktuell die Perspektive einer „Transformation der Demokratie“ hin zu einem „demokratischen Sozialismus“ eröffnen. Das ist dann die „gute Nachricht“ des Buches: Die Demokratie ist nur als soziale Demokratie zu retten und Europa und die Welt seien heute reif für die Gedanken einer Reform der Besitzordnung und Güterverteilung, die die liberale zur sozialen Demokratie transformiere.
Herausgebende und Autoren
Hanna Ketterer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Karina Becker ist wissenschaftliche Geschäftsführerin am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Der Band enthält Beiträge des Soziologen Klaus Dörre (Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena), der US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser und der Soziologen Stephan Lessenich (Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München) und Hartmut Rosa (Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs Erfurt).
Entstehungshintergrund
Die Konzeption des Bandes geht auf einen von der Universität Jena im Mai 2018 veranstalteten Workshop zurück, in dem die Vorträge der o.g. Wissenschaftler von Viviana Asara, Banu Bargu, Ingolfur Blühdorn, Robin Celikates, Lisa Herzog, Brian Milstein, Michelle Williams und Christos Zografos (allesamt SoziologInnen bzw. PolitikwissenschaftlerInnen) in Koreferaten kritisch kommentiert wurden. Der zweite Teil des Bands gibt eine Debatte wieder, die im Anschluss zum Workshop zwischen Fraser, Dörre, Lessenich und Rosa und den Herausgeberinnen geführt wurde.
Aufbau und Inhalt
In einer ausführlichen Einleitung (Was stimmt nicht mit der Demokratie?) erläutern Hanna Ketterer und Karina Becker die Methode einer „konstruktiven Kontroverse“, die auf eine Synthese der unterschiedlichen demokratietheoretischen Ansätze zielt. Das Buch gliedert sich in zwei große Abschnitte. Der erste Abschnitt („I. Beiträge und Kommentare“) dokumentiert die Vorträge und Koreferate, der zweite Teil („II. Kontroverse“) die o. g. Diskussion zwischen ReferentInnen und den Herausgeberinnen.
Zu I. Beiträge und Kommentare:
- Für ein antagonistisches Demokratiemodell. Das Kapitel beginnt mit dem Beitrag Klaus Dörres: „Demokratie statt Kapitalismus“ oder: „Enteignet Zuckerberg!“ (S. 21 ff.). Seine These lautet, dass wir in „entdemokratisierten Demokratien“ leben. Mit dem „Landnahme -Theorem“ im Anschluss an Rosa Luxemburg beschreibt Dörre die Tendenzen, die zur Monetarisierung der Lebenswelt und einer „schwachen Demokratie“ geführt haben. Wie expansive Gewalt der Kapitalakkumulation im Zeitalter des Imperialismus' die Zerstörung „nichtkapitalistischer sozialer Formationen“ (Luxemburg) vorantrieb, so würde seit den 1970er Jahren ein neues „Akkumulationsregime“ die repräsentative Demokratie und andere „marktbegrenzende Institutionen zum Objekt einer neuen Landnahme“ machen. Immer größere Teile der demokratischen Infrastruktur und der Lebenswelten werden den Marktimperativen unterworfen. Zuletzt werde auch die repräsentative Demokratie auf dem Altar eines expansionistischen Kapitalismus „geopfert“. Als Gegenstrategie empfiehlt er einen radikaldemokratischen Reformismus, eine mittlere Linie zwischen systemkonformen Sozialdemokratismus und neoleninistischen Revolutionskonzeptionen eines Zizek oder Alain Badiou. Ziel ist eine „substantielle Demokratie“, die ihre Inhalte, Verfahren und Institutionen auf Felder und Sektoren ausweitet, die jetzt noch von Mitbestimmungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Dörre schlägt vor,die institutionellen Möglichkeiten des demokratischen Rechts zu nutzen. Dabei dürfe man sich nicht auf die liberalen Demokratieformen und „verständigungsorientierte, deliberative Verfahren“ (S. 45) stützen. Er setzt auf ein antagonistisches Politikmodell, dass die repräsentative Demokratie in der jetzigen Gestalt „zugunsten einer substantielleren Vorstellung der Selbstregierung des dēmos, des demokratischen Souveräns“ (S. 45) erweitert. Im Klartext: Der liberale Demokratieformen müssten auf nationaler, europäischer und globaler Ebene durch wirtschaftsdemokratische Steuerungselemente erweitert werden, die die Fragen der Eigentumsordnung neu regeln. Für Dörre bleibt die Infragestellung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse („Enteignet Zuckerberg!“) das zentrale Anliegen einer radikaldemokratischen Politik bzw. einer „neo-sozialistischen Option“.
- Kritik der eurozentristische Sicht. Michelle Williams merkt in ihrem Beitrag „ Die schwierige Ehe der Demokratie mit dem Kapitalismus“ (S. 52 ff.) kritisch an, dass jede Form der demokratischen Neuorientierung eine ethno- und europazentristische Sicht vermeiden und der Tatsache Rechnung tragen sollte, dass die relative Stabilität von Demokratien im Zentrum der Weltgesellschaft immer schon auf der Ausbeutung der Nichtdemokratien in der Peripherie des Kapitalismus beruhten. Enteignung und Ausbeutung von Menschen und Natur im globalen Süden seien nach wie vor die Garanten des Wohlstands und der demokratischen Stabilität von Ländern des globalen Nordens. Christos Zografos argumentiert in seinem Text „ 'Enteignet Zuckerberg! ' um die Demokratie vor dem Kapitalismus zu retten! Ja, aber wie?“ (S. 66 ff.) in einer ähnlicher Stoßrichtung und erinnert an eine Vielzahl offener Fragen, die Dörres Idee von der EU als „sozial-ökologischer Union“ aufwirft. Ihm ist unklar, wie genau und warum die EU von der Protagonistin neoliberaler Politik zum Anwalt sozial-ökologischer Rechte wandeln sollte, v.a. wenn sich die Europäer dabei vom gewohnten Wohlstandsniveau verabschieden müssten. Von daher siedelt Zografos die Akteure des Transformationsprojekts eher auf der Ebene internationaler sozialer Bewegungen sowie radikal sozial-ökologische Initiativen auf Gemeindeebene an.
- Die historische Chance eines „gegenhegemonialen Blocks“. Nancy Fraser kritisiert in ihrem Beitrag „Die Krise der Demokratie: Über politische Widersprüche des Finanzmarktkapitalismus jenseits des Politizismus“ (S. 77 ff.) die geläufigen demokratietheoretischen Erklärungsversuchen, welche eine Krise der repräsentativen Demokratie zwar empirisch beschreiben, aber sie alleine auf die Dysfunktionalität ihrer Institutionen und Verfahren zurückführen. Aufbauend auf den Theorieperspektiven von Karl Marx und Karl Polanyi, will Fraser zeigen, dass die Krise der Demokratie nur ein Strang einer „allgemeinen Krise“ der kapitalistischen Gesellschaft ist. Jede Phase des Kapitalismus, vom staatlich organisierten Monopolkapitalismus bis zum gegenwärtigen „finanzialisierten Kapitalismus“ (Fraser), sei von einem politischen Widerspruch geprägt. Auf der einen Seite erfordert die Kapitalakkumulation eine funktionierende öffentliche Gewalt, die als dauerhafte und berechenbare Rechtsinstitution auf demokratische Legitimation angewiesen sei. Gleichzeitig aber untergräbt und destabilisiert der Finanzmarktkapitalismus die Demokratie durch wachsende soziale Ungleichheit und die Zerstörung der Lebenswelt. So kommt Fraser zu der zweifachen Schlussfolgerung, dass die Demokratie im Kapitalismus erstens notwendig „schwach und begrenzt“ sein muss, insofern die Eigentumsrechte und die Verfügungsgewalt über das Kapital nicht angetastet werden dürften, und zweitens, dass Auswege aus der demokratischen Krise, die nicht die Strukturen und Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft selbst in Frage stellen, wenig Aussicht auf Erfolg haben. Nancy Fraser fordert, dass die demokratische Linke deshalb die Gunst der Stunde nutzen, um im Geist Antonio Gramcis angesichts „einer ausgewachsenen Krise der (neoliberalen, d.Verf.) Hegemonie“ (S. 97) die Chance zu einer demokratischen „Volksfront“ oder, wie sie sagt, eines „gegenhegemonialen Block“ zu nutzen. Dieser Block bildet im Unterschied zur ethnisch definierten Gemeinschaft die solidarische Gemeinschaft des Volkes gegen den Block der „Herrschenden“, S. 225).
- Krisenbewusstsein und Demokratie. In ihrer Replik „Die Krise der Demokratie pluralisieren“ (Vgl. S. 100 ff.) kritisiert Banu Bargu, dass man nicht wie, Fraser das tut, von der Demokratie „als solcher“ sprechen kann. Die Demokratietheorie erfordere gerade auf globaler Ebene eine „ungleiche und differenzierte Geografie“, die der Komplexität der unterschiedlichen historischen Demokratiemodelle gerecht wird. Brian Milstein (vgl. S. 111 ff.) stellt in seinem Text „Über das Ergänzungsverhältnis von Krisenbewusstsein und Demokratie: Eine Anmerkung zum politischen Widerspruch des Kapitalismus“heraus, dass eine Krise erst dann zur Krise wird, wenn sie von sozialen Akteuren als solche wahrgenommen wird. Erst wenn Akteure ihre demokratischen Rechte der Selbstbestimmung in Gefahr sehen und daher akuter Handlungsbedarf besteht, entwickele sich ein „Kampf um kulturelle und politische Hegemonie“. Um aber das Krisenbewusstsein der Akteure zu verstehen, sei ein anderer Bezugsrahmen erforderlich, der über die enge ökonomische Perspektive Frasers hinaus eine Theorie der Moderne berücksichtigt.
- „Moralische Ökonomie“ gegen die sozial-ökologische Entgrenzungsdynamik. Stephan Lessenich problematisiert in seinem Vortrag „Die Dialektik der Demokratie. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen im Wohlfahrtskapitalismus“(S. 121 ff.) die Folgen einer „Dialektik der Demokratie“, die auch schon in der Vergangenheit strukturellen Einschließungen und Ausgrenzungen bewirkt hat, was ihrem normativen Anspruch auf eine „verallgemeinerte[r] Gegenseitigkeit der Anerkennung als Gleiche und Gleichberechtigte“ eigentlich widerspricht. Lessenich zeichnet nach, wie die Demokratie der Nachkriegszeit (für viele im Rückblick eine Phase des „sozialen Kapitalismus“) die radikaldemokratische Teilhabe auf einen paternalistischen Versorgungsanspruch verengt habe. Teilhabe sei in der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie von soziokulturellen Begrenzungen begleitet worden, die sowohl entlang der vertikalen Achse als auch entlang der horizontalen Achse sozialer Herrschaftsbeziehungen verliefen. Wurden bei Ersterer Teilhaberechte „von oben“ gegen „die da unten“ verteidigt, wurden bei Letzterer „Teilhaberechte qua Staatsbürger*innenschaft von innen“ (Lessenich) gegenüber „Nachzügler*innen und Neuankömmling*en aller Art von außen“ (Lessenich) ausgespielt. Zudem verweist Lessenich auf eine sozial-ökologische Entgrenzungsdynamik, die quer zur „Oben-Unten- und zur Innen-Außen-Dialektik“ liegt. Der deregulierte Kapitalismus wirke destruktiv auf die Reproduktionsfähigkeit der Natur. Demokratie, im normativen Sinn, sei deshalb nur durch die „Demokratisierung der Demokratie“ verwirklichen und erfordere eine grundlegende „Transformation der Demokratie“. Träger der Veränderung könnten nur „neue demokratische Subjektivitäten“ sein, die gesellschaftliche Verantwortung für „progressive, inklusive und nachhaltige Geschlechter-, Natur- und Weltverhältnisse“ übernehmen müssten. Sein Vortrag mündet in der Forderung nach einer „neuen moralischen Ökonomie“, die die Kritik globale Ungleichheitsverhältnisse, das Lernen eines „anderen Umweltbewusstsein“ und die Ausweitung globaler sozialer Rechte organisiert.
- Der Bruch mit der liberalen Demokratie. Eine „transformative Demokratie“ sei nur mit einem Bruch mit den liberal-demokratischen Verhältnissen zu haben – darauf macht Viviana Asara in ihrem Kommentar zu Lessenich („Die Grenzen der liberalen Demokratie. Aussichten auf eine Demokratisierung der Demokratie“, S. 139 ff.) aufmerksam. Eine gemeinschaftlich-substanzielle Idee eines „Guten Lebens“, wie sie Lessenich verfolgt, würde auf jeden Fall liberale positive Freiheiten einschränken und eine kollektive Selbstbegrenzung erfordern. Letzteres sei nicht innerhalb der bestehenden formal-prozeduralistischen demokratischen Verfahren realisierbar. Ein Bruchszenario radikaler Art entwickelt Ingolfur Blühdorn in seinem Beitrag „Dialektik der Emanzipation. Kritische Soziologie in der Endlosschleife“ (S. 152 ff.). Er stellt sich die Frage, ob die von Lessenich „gefeierte“ Dynamik der Emanzipation, die ein entgrenztes Freiheits- und Subjektivitätsverständnis erzeugt, nicht auch die Einsicht mit sich bringt, dass sich die Idee der Demokratie insgesamt als „dysfunktional“ überlebt haben könnte und wir uns deshalb nicht besser von der gewohnten Idee einer repräsentativen Demokratie mit ihren inhärenten Begrenzungen verabschieden sollten (es ist für mich nicht so ganz klar, ob ihn dieser Gedanke beunruhigt oder ihn mit einer gewissen Genugtuung erfüllt, nach dem Motto: „Was fällt, das soll man ruhig stoßen.“).
- Der Weg aus der „Resonanzkrise“: Die regulative Idee des Gemeinwohls. Einen ganz anderen Ton schlägt Hartmut Rosa in seinem Vortrag „Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung“ (S. 160 ff.) an. Er deutet die aktuelle Krise der Demokratie als „Resonanzkrise“, die er kultursoziologisch auf eine wachsende Entfremdung der Mitglieder der modernen Gesellschaften zurückführt. Nach Rosa konstituiert sich das demokratische Gemeinwesen über gemeinsame Werte der wechselseitigen Anerkennung, die er dem Begriff der „Resonanzbeziehung“ zu erfassen sucht. Zu einer gelingenden Demokratie gehörten eben nicht nur eine konsequente Klassen- und Interessenpolitik, wie sie Dörre fordert, aus der dann das „gemeinsame Gute“ von selbst hervorgeht, sondern ein feines Sensorium für „Gemeinsinn“ und „Gemeinwohl“ (beides sind komplementäre Voraussetzungen zur Stabilisierung von solidarischen Gemeinschaften). Das erfordert die „individuelle Fähigkeit, die Stimme eines anderen zu hören, ihm zu antworten“ (Rosa) und die damit verbundene Bereitschaft, sich selbst zu verändern. Ein Zusammenhalt der Gesellschaft werde nur dort verwirklicht, wo sich „soziale, materiale und vertikale Resonanzachsen“ gegen institutionelle Zwänge durchsetzten. Institutionelle Ermöglichungsbedingungen der Demokratie als Resonanzsphäre sieht Rosa in Ansätzen einer von ihm so genannten „aleatorischen Demokratie“, der Ausweitung einer intakten Sphäre des Öffentlichen mittels „bürgerschaftlicher Begegnungsräume“ und starker öffentlich-rechtlicher Medien.
- Die Wirklichkeit des Pluralismus und die unterschätzte Interessenpolitik. Robin Celikates macht in seinem Beitrag mit dem Titel „Kampf um Demokratisierung oder Resonanzgeschehen? Kritische Anmerkungen zu Hartmut Rosas resonanztheoretischer Demokratiekonzeption“ (S. 189 ff.) grundsätzliche Bedenken geltend: die von Rosa vertretene republikanisch-kommunitaristische Position eines Wertekonsens' sei in einer pluralistischen Gesellschaft unrealistisch. Lisa Herzog erhofft sich in ihrem Text „Konkrete Demokratie wagen“ (S. 196 ff.) von einer Revitalisierung der Interessenpolitik mehr als von überzogenen normativen Ansprüchen. Entgegen Rosas Skepsis sei Interessenpolitik durchaus eine elementare Voraussetzung für eine von ihm gewünschte Gemeinwohlorientierung.
Zu II: „Kontroverse: Ein Gespräch zwischen Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa und Karina Becker und Hanna Ketterer“. Im Anschluss an die Zusammenfassung der Herausgeberinnen lassen sich folgende zentrale Ergebnisse der Kontroverse festhalten: Es besteht ein Konsens in der Einschätzung der Auswirkungen des globalen Kapitalismus auf die liberale Demokratie. Auch über das Ziel einer Vertiefung der sozialen Demokratie ist man sich einig. Der Rekurs auf eine Demokratie- und Gerechtigkeitstheorie, die auf Formen einer Kompromisskultur und deliberative Beratungsverfahren abhebt, erscheint insbesondere Dörre und Fraser wenig sinnvoll. Im Kern geht es den beteiligten WissenschaftlerInnen um eine „substantielle Demokratie“, die die Wiedereinbettung der kapitalistischen Wirtschaft in die Gesellschaft und in demokratische Entscheidungsprozesse anvisiert. Die Idee eines „globale sozialdemokratischen Sozialismus“ (S. 249) soll die „demokratische Kontrolle über das gesellschaftliche Mehrprodukt“ (Nancy Fraser S. 248) sichern. Damit haben aber auch schon die Gemeinsamkeiten erschöpft. Unterschiedliche Akzente und Differenzen werden vor allem an zwei Punkten deutlich:
- Unterschiedliche Wege zu einem globalen sozialdemokratischer Sozialismus. Über den Weg, den die „transformative Demokratie“ einschlagen sollte, gibt es unter den diskutierenden WissenschaftlerInnen durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Dörres Vorschläge präsentieren die im deutschen Kontext gewonnen Vorstellungen einer in ihren Grundzügen traditionellen sozialdemokratischen „Klassenpolitik“ im neuen Gewand. Das Modell einer Wirtschaftsdemokratie, das die „sozialdemokratische“ SPD einst hoch hielt, soll zu neuen Ehren kommen und im „europäischen Maßstab“ (Dörre) seine Wiederauferstehung feiern. Wo Dörre noch die liberal-demokratischen Institutionen als problemlos nutzbare Instrument ansieht, setzt Fraser stärker auf die soziale Bewegungen jenseits der etablierten Instititutionen. Der Kapitalismus, der als „Schlange ihren eigenen Schwanz frisst“ (S. 86), droht für sie „jene politische Gewalten zu destabilisieren, auf die sie (die kapitalistische Wirtschaft, d. Verf.) selber angewiesen ist.“ (S. 86). Das macht einen Marsch durch die Institutionen wenig sinnvoll. Aussichtsreicher erscheint ihr auf dem Trümmerfeld, das die „neoliberale Abrissbirne“ hinterlassen hat, die Demokratie neu zu konstruieren. Lessenichs Plädoyer für eine „moralischen Ökonomie“ legt (unter Berufung auf Hannah Arendts „Recht Rechte zu haben“, S. 138) seinerseits stärker Wert auf die Universalisierung der Menschenrechte, die „niemandem – weder den Armen noch den Fremden noch der natürlichen Lebenswelt – abgesprochen werden“ könnten (S. 138), während Hartmut Rosa scharf zwischen einer Interessenpolitik und einer werteorientierten republikanischen Politik unterscheidet, die zu ihrer Legitimation „gute Gründe“ brauche, wie „historisch variabel“ auch immer sie ausfallen mögen (S. 162). Die Vorstellung Rosas einer kommunitären bzw. demokratischen Selbstregierung, die sich an der regulative Idee des Gemeinwohls ausrichtet, sorgt dann im Anschluss für eine heftige Kontroverse.
- Eine hitzige Debatte über Interessenpolitik und/oder Gemeinwohlorientierung. Nancy Fraser formuliert am Deutlichsten den Punkt des Dissenses, indem sie Hartmut Rosa vorwirft, dass sein normative Konzeption des Politischen, die sich auf den Standpunkt eines „ethischen Sollens beruft“ (S. 207), von dem aus dann die hässliche neoliberale Realität kritisiert wird, am Konflikt- und Machtcharakter der Politik vorbeizielt. Sein Kardinalfehler bestehe darin (die anderen Diskussionsteilnehmer schließen sich dem an), dass er sich von der „linkshegelianischen Denkweise über die Demokratie, die immer im Verhältnis zum Kapitalismus verortet ist“ (S. 230), verabschiedet habe. Statt einer historisch reflektierten Konflikttheorie sei er dem Irrweg einer „freistehenden normativen Theoriebildung“ eines John Rawls und Jürgen Habermas gefolgt. Diese insinuierte Nähe zu den von Kant inspirierten Ansätzen von Rawls und Habermas hätte Rosa auch als Kompliment auffassen können, aber er fühlt sich damit in seinem Anliegen eher missverstanden. Ihm gehe es nicht um die rationale Dimension deliberativer Politikformen, sondern um ihre emotionale Dimension, die er in seinem Resonanzbegriff zu explizieren versucht. Das aber ist in den Augen Frasers „schlechten Idealismus“. In einer Krisenzeit, in der die ideologische „Hegemonie“ des Neoliberalismus bröckelt, ändere sich notgedrungen die Tonlage einer linken Politik: mit Dialogbereitschaft und mit höflichem „Hören und Antworten“ werde man nicht weit kommen. Wo es um die „Durchsetzung von Interessen, Rechtspositionen und normativer Ansprüche“ (S. 228) gehe, sekundiert Lessenich, wirke eine Philosophie des „Hörens und Antwortens“ „zutiefst antipolitisch“ (Lessenich, S. 229), was wiederum Rosas polemische Rückfrage provoziert, ob denn seiner Meinung nach „Schießen und Sterben“ adäquatere Formen des politischen Handelns darstellen würden (S. 229). Frasers Vorschlag zur Güte, ob Rosa sich anstelle des „Gemeinwohls“ nicht doch mit dem weniger umstrittenen Begriff „allgemeines Interesse“ anfreunden könne (S. 227), stößt auf wenig Gegenliebe, schließlich würde das ja auch an der sachlichen Differenz der Positionen wenig ändern).
Diskussion
Meine kritischen Rückfragen betreffen die im Buch vorgetragene Krisendiagnose und das Ziel einer demokratischen Steuerung der Wirtschaft durch eine solidarische „Gemeinschaft der Produzenten“:
- Das demokratietheoretische Defizit. Ich sehe nicht recht, auf welche empirischen Befunde sich die Diagnose stützt, dass sich gegenwärtig eine „Krise der neoliberalen Hegemonie“ (Fraser) anbahnt oder sich ernsthaft die Chance einer „neo-sozialistische Option“ (Dörre) abzeichnet. Es sei denn, man überschätzt maßlos den Wirkungsgrad der vitalen und wichtigen sozialen Bewegungen, die sich gegen die fortschreitende Zerstörung des städtischen Lebensraums und der Natur stemmen. Und unterschätzt umgekehrt dabei die Bedeutung der Institutionen einer repräsentativen Demokratie für einen radikalen Reformismus. Angesichts ihres Autoritätsverlusts ist die Frage, ob dem von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas geforderten „Verfassungspatriotismus“ heute nicht eine vielleicht noch größere Bedeutung zukommt, als zu der Zeit, in der beide dieses Konzept (in der „alten“ Bundesrepublik) entwickelten. Eine demokratische Verfassung „lebt“, wenn sie Rückhalt in der Bürgerschaft hat, denn demokratischen Institutionen sind Garanten dafür, dass der notwendige Streit um die Ausgestaltung universalistischer Prinzipien der Verfassung in zivilisierten Formen ausgetragen wird. Um so irritierender wirken in diesem Zusammenhang antagonistische Strategien, die die richtige Forderung nach „demokratischer Polarisierung“ mit einer spürbaren Geringschätzung gegenüber einer liberalen Kompromisskultur und deliberativen Verfahren demokratischer Institutionen verbinden.
- Wirtschaftsdemokratie und die Entscheidung zwischen Kapitalismus und Demokratie. Was das zentrale Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und Demokratie angeht, so ist so sagen, dass der Kapitalismus nicht notwendig seine demokratischen Voraussetzungen zerstören und eine „Wirtschaftsdemokratie“ nicht nur als Alternative zum Kapitalismus und zum Marktsystem gedacht werden muss. Es gibt auch demokratische Alternativen im Kapitalismus. Sie reichen (wie in den Texten beschrieben) von der Ausdehnung der gesellschaftlichen Mitbestimmung, über die Einflussnahme auf kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bis hin zu Formen einer solidarischen Ökonomie. Die Idee einer Wirtschaftsdemokratie aber wird dann zur schlechten Utopie, wenn ihre Formulierungen nahelegen, dass eine wie immer geartete Selbstregierung durch eine demokratische Gemeinschaft die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in Teilsysteme (T. Parsons, N. Luhmann) rückgängig machen könnte, um die Trennung zwischen Ökonomie und Politik zu beseitigen. Außerdem: Wäre in einer für uns überschaubaren Zukunft nicht schon einiges gewonnen, wenn es gelänge, die Logik der Kapitalverwertung (Karl Marx) so zu begrenzen, dass sich ihre destruktiven Wirkungen auf die soziale Balance der Gesellschaft in erträglichen Grenzen halten?
Fazit
Das Buch stellt verschiedene Varianten einer ökonomisch orientierten Kritik an den politischen Folgen des Neoliberalismus vor, die erklären, warum die repräsentative Demokratie sich immer mehr einer Form der „marktangepassten Demokratie“ oder „Postdemokratie“ (Colin Crouch) annähert. Als Leitbegriff einer Alternative firmiert die Rede von einer „transformativen Demokratie“. Der Kapitalismus in seiner bisherigen Gestalt soll durch eine radikale Reform in eine umfassende Wirtschaftsdemokratie verwandelt werden. Die institutionellen und deliberativen Elemente der repräsentativen Demokratien stellen dabei einen nützlichen Rahmen dar, um über eine antagonistische Politik“ der Mobilisierung des „demokratischen Volkes“ gegen die „neoliberalen Eliten“ zu organisieren und schlussendlich eine „substantiellere“ Form der Demokratie zu errichten.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 18.12.2019 zu:
Hanna Ketterer, Karina Becker (Hrsg.): Was stimmt nicht mit der Demokratie? Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-518-29862-6.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2262.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26300.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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