Dieter Korczak (Hrsg.): Freundschaft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.11.2019

Dieter Korczak (Hrsg.): Freundschaft. Von Aristoteles bis Facebook. Asanger Verlag (Kröning) 2018. 167 Seiten. ISBN 978-3-89334-632-5. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR.
Ist der Mensch des Menschen Freund?
Diese Frage wird im menschlichen Miteinander thematisiert und diskutiert, seit der Homo Sapiens sich evolutionär entwickelt hat und als Anthrôpos auf der Scala naturae eine Mittelstellung zwischen Tier und Gott einnimmt. So jedenfalls wird der Mensch als vernunftbegabtes, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigtes und gutes, gelingendes Leben für sich und Menschheit anstrebendes Lebewesen in der anthropologischen, aristotelischen Philosophie klassifiziert (vgl. dazu: Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 47ff). Und zwar nicht nur in der bemerkenswerten und herausfordernden Weise, wie dies der Jenenser Philosoph Wolfgang Welsch mit der postmodernen Deutung artikuliert, dass (menschlicher) Geist sich evolutionär entwickelt habe und nicht als Alleinstellungsmerkmal des Humanums angesehen werden könne. Seine Kritik am anthropischen Denken fußt auf der Herausforderung, menschliche Existenz im Diesseits einzumessen und zu akzeptieren: „Wir sind von dieser Welt“, weil der Mensch grundsätzlich ein welthaftes Lebewesen sei (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php); sondern auch in der globalen Verfasstheit der „Globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der es einleitend unmissverständlich heißt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Die Akzeptanz und die Kontroverse freilich tun sich bei der Wirklichkeit des individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Lebens der Menschen auf. Dem Synonym „Freundschaft“ werden einerseits Bedeutungen zugeordnet, die sich als „Gastfreundschaft“, „Brüderlichkeit“, „Nächstenliebe“, „Solidarität“ und „Achtsamkeit“ ausdrücken, aber andererseits als Antonym „Feindschaft“ bewirken.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Bei der Betrachtung und Analyse des Umgangs der Menschen miteinander, können Begriffs- und Wertbestimmungen hilfreich sein. Nehmen wir den Begriff „Freundschaft“, wie er uns aus der antiken griechischen und römischen Philosophie als philia (φιλíα) und amicitia überliefert ist, so erkennen wir die Halteseile, Richtungsweiser, Stoppstraßen und Schluchten. Wo sich Freundschaften bilden, bewirken sie mehr als Bekanntschaft. Sie entwickeln Werte, die das menschliche Miteinander und Zusammengehörigkeitsgefühl bestimmen. Es sind Einstellungen und Erfahrungen wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Achtung, Respekt, Toleranz, Empathie – Freundschaft bewährt sich im alltäglichen und im gemeinschaftlichen Leben, weil echte Freundschaft nicht nur Harmonie stiftet, sondern auch Konflikte aushält; weil Freundschaft Brücke ist und Geländer.
Die 1947 gegründete „Interdisziplinäre Studiengesellschaft für Praktische Psychologie“ (ISG) meldet sich über die Jahrzehnte hinweg immer wieder mit Berichten und Analysen zu Fragen eines humanen Miteinanders der Menschen zu Wort. In der „Interdisziplinären Schriftenreihe“ reihen sich mittlerweile 39 Buchveröffentlichungen, die Ergebnisse aus der Forschung, von Tagungen und Vorträgen vorlegen. Es sind gesellschaftsrelevante Themen und Herausforderungen, wie z.B.: „Kriminalität heute“, „Zukunft“, „Wissen und Glauben“, „Wertewandel“, „Bildung“, „Tradition“, „Toleranz“, „Nachhaltigkeit“, „Meinungsfreiheit“, „Migration“ – und als neuesten Band „Freundschaft“ in seiner differenzierten Wahrnehmung und Wirkung auf das individuelle und kollektive Leben der Menschen. Großen Anteil hat dabei der Soziologe Dieter Korczak, der von 1997 bis 2017 Vorsitzender der ISG war. Mehrere Veröffentlichungen wurden beim Rezensionsdienst socialnet.de besprochen (u.a.: „Das Fremde, das Eigene und die Toleranz“, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8382.php; und: „Visionen statt Illusionen. Wie wollen wir leben?“, www.socialnet.de/rezensionen/18045.php). Das Thema „Freundschaft“ wurde bei der Tagung der ISG im Herbst 2017 in Bernau bei Berlin im interdisziplinären Diskurs thematisiert.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort des Herausgebers werden die Beiträge der DiskutantInnen abgedruckt: Der Düsseldorfer Philosoph und NRW-Ministerialbeamte Hans-Ulrich Baumgarten stellt fest: „Jede Freundschaft beruht auf Gemeinschaft“, indem er die antiken, aristotelischen Freundschaftsvorstellungen thematisiert und auf ihre Bedeutung hin befragt. Dieter Korczak setzt sich auseinander mit dem „Wert der Freundschaft in einer komplexen, globalisierten Welt“. Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Erika Alleweldt fragt: „Unterscheiden sich Männer- und Frauenfreundschaften?“. Sie entwickelt eine Sozialstruktur von Freundschaft. Die Mediatorin für zwischenmenschliche Beziehungen, Ghania Ibelaidene, reflektiert über „Die Kunst, Freunde zu gewinnen“. Der Banker Johannes Schneider differenziert zwischen „Geschäftsfreunde – Facebook-Freunde“. Der Pädagoge Achim Würker denkt über „Schulfreundschaften“ nach. Der Literaturwissenschaftler Klaus-Dieter Schult spricht über die Phänomene von „Brieffreundschaften“. Der Paderborner Musikdidaktiker Thomas Krettenauer macht sich mit der Songstrophe „That’s What Friends Are For“ auf die Spurensuche nach dem Mythos und der Symbolik der Freundschaft in der Musik. Der Literaturwissenschaftler Paul Werner Wagner beendet mit dem Beitrag „Die Troika – ein Plädoyer für Freundschaft über Länder und ideologische Grenzen hinweg“ den Sammelband.
Die ganz unterschiedlich prononcierten Ausführungen über die Bedeutung von Freundschaften im individuellen Leben und im kollektiven Zusammenleben der Menschen vermitteln Aspekte, die sowohl in historischen Zusammenhängen, als auch sozial und kulturell aktuell zu bedenken sind. Es sind Erinnerungsstücke, Aha-Erlebnisse und Hau-Rucks, die verdeutlichen, dass ein freundschaftliches, soziales und humanes Miteinander das Wohlbefinden der Menschheit befördern. Es sind (eigentlich) selbstverständliche Vormerkungen, wie etwa die Erkenntnis, dass Freundschaft mit anderen Menschen das „Mit-sich-selbst-befreundet-Sein“ voraussetzt. Es sind die in kulturellen Prozessen übermittelten und in interkulturellen Erfahrungen erworbenen Phänomene, die Wertmarkierungen erzeugen, wie etwa die Begriffe „Treue“, „Kameradschaft“ und „Vielfalt“; und die gleichzeitig notwendig machen, sie auch dem Wertewandel zu unterziehen. Wenn Pierre Bourdieu Freundschaft als „Sozialkapital“ benennt, wird erkennbar, dass „Freundschaft kein modisches Phänomen ist, sondern ein konstituierendes Merkmal für gelungenes, gesellschaftliches Zusammenleben“ ist.
„Sage mir, mit wem du Freund bist, und ich sage dir, wer du bist“; diese leicht umgewandelte Goethesche Charakterbeschreibung will ja ausdrücken, dass das Entstehen und Erhalten von Freundschaften eine anspruchsvolle Herausforderung darstellt. Ghania Ibelaidene bringt dazu das Bild ein, wonach Freunde der Spiegel des „Selbst-Wert-GEFÜHLS“ seien. Freundschaft, so die Auffassung von „Nonviolent Communication“, ist demnach nicht mehr und nicht weniger als Stärke und natürliches Verhalten von Menschen (vgl. dazu: Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, 2007, ).
Fazit
Die Aussage: „Ich habe tausend Freunde!“, etwa im Zusammenhang mit der Facebook-Nutzung und der scheinbaren „Allzeit-Bereit-Einstellung“ in der virtuellen Welt, ist sicherlich kein probates Mittel, um Freundschaften zu schaffen und zu erhalten. Das Nachdenken über Freundschaft ist aber auch keine nostalgische Nachschau über überkommene und überholte Wertvorstellungen. Die Virtualisierung und Globalisierung der Welt bietet vielfältige, neue Formen, um Freundschaften zu schließen. Was über die Zeiten und Entwicklungen hin Bestand hat ist die Erkenntnis: „Freundschaft ist eine besondere Beziehung“. Sie erfordert Verpflichtung und Verantwortung. Das ist ein Ruf, der in den Zeiten der Unsicherheiten und des Momentanismus, des Ego- und Ethnozentrismus, des Rassismus und Populismus dringend gefragt ist!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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