Nasima Ebrahimi: Schrei in die Welt
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 10.01.2020

Nasima Ebrahimi: Schrei in die Welt. Eine Fluchtgeschichte als Appell zur Wahrung der Menschenrechte von Frauen und Kindern. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2019. 126 Seiten. ISBN 978-3-945959-45-9. D: 12,00 EUR, A: 12,00 EUR, CH: 15,00 sFr.
Thema
Thema der vorliegenden Lektüre ist die Fluchtgeschichte einer Frau und ein Appell zur Wahrung der Menschenrechte.
Autorin
Yasmin Jakub (Pseudonym) ist 1982 von Afghanistan nach Deutschland geflohen. Sie arbeitet z.Zt. ehrenamtlich als Übersetzerin für afghanische Flüchtlinge.
Entstehungshintergrund
Der Entstehungshintergrund ist ihre eigene Erfahrung als Mädchen in Afghanistan aufgewachsen und zwangsverheiratet worden zu sein. Jakub hat erst nach der Flucht in Deutschland die volle Souveränität für ihre Leben zurückgewonnen und engagiert sich seitdem für die Menschrechte von Kindern und Frauen.
Aufbau
Das Buch beginnt mit einer Danksagung an alle, die ihr ehrenamtlich bei der Abfassung des Manuskripts, der Suche nach einem Verlag und durch Spenden geholfen haben (4 Seiten), und mit einem Vorwort über ihre Erfahrungen von den 1960er bis in die frühen 1980er Jahre und der Hoffnung, ein kritisches Bewusstsein für die erlebte frauenverachtende Praxis zu wecken (2 Seiten).
Inhalt
Die Autorin ist als 4. von 17 Geschwistern in einem kleinen Dorf in Afghanistan aufgewachsen und musste sehr jung (im Gegensatz zu ihren Brüdern) wegen einer Erkrankung der Mutter Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen, hatte aber auch aufgrund der Unterstützung durch den Vater das Privileg eine Schule – nach Geschlechtern getrennt – zu besuchen; es blieb aber wenig Zeit für Schularbeiten. Als ihre ältere Schwester sich in einen nicht standesgemäßen jungen Mann verliebte und mit einem anderen zwangsverheiratet werden sollte, beging sie Selbstmord.
Ihre eigene Verlobung fand im Alter von 8 Jahren statt; ihr Mann war mindestens 20 Jahre älter. Da sie hübsch und gebildet war, war der Kaufpreis mit 40.000 € relativ hoch, der aber zurückgezahlt werden mussten, falls die Heirat nicht zustande kam. Eigene Selbstmordversuche von Jakub hatten wegen der ständigen Kontrolle durch die Familie keinen Erfolg, doch konnte sie mit solchen Drohungen die Eltern erpressen, ihr wenigstens den weiteren Schulbesuch zu gestatten. Die erste Begegnung mit dem Verlobten fand mit 12 Jahren – noch vor Beginn der Periode – statt; er missbrauchte das noch kindliche Mädchen.
Am Tag der Hochzeit wurde sie – unter Drohung mit Steinigung – gezwunge, zu zustimmen. Zur ‚Henna‘-Nacht wurden 300 Frauen eingeladen und nach einem zweiten ‚Ja‘-Sagen feierten ca. 2000 Gäste – nach Geschlechtern getrennt – die Hochzeit. Die Defloration bereitete dem noch unerfahrenen 14j. Mädchen Verletzungen und heftige Schmerzen. Sie lebte dann mit ihrem Mann in einem Ferienhaus seiner Eltern, floh aber bald zu ihren Eltern nach Kabul, weil ihre neue Familie sie schlecht behandelte und sie Angst vor den Taliban hatte. Ihr Mann war einverstanden und folgte ihr. So konnte sie – heimlich und unterstützt vom Vater – die Schule weiter besuchen, musste aber für ihre Herkunfts- und ihre neue Familie weiterhin unbezahlt arbeiten.
Nach drei Fehlgeburten wurde sie mit 15 J. zum vierten Mal schwanger, als die Russen Kabul bombardierten und nach ihrem verwundeten Bruder fahndeten (weitere Fehlgeburt). Die Großfamilie lebte damals von der Rente des Vaters (ca.100 € im Monat) und dem Geld, das Jakub inzwischen durch Unterrichten (Mathematik und Physik) verdiente. Sie erhielt nach dem Schulabschluss – ermöglicht durch den Einmarsch der Russen – einen Studienplatz für Mathematik, entschied sich aber im dritten Semester zusammen mit ihrem Mann, und mit ärztlicher Unterstützung wegen angeblicher ‚Behandlungsbedürftigkeit‘, im Mai 1982 zur Flucht nach Indien und kam von dort über Schlepper (mit gefälschten arabischen Ausweisen für die Flugtickets) nach Deutschland.
Sie war erneut schwanger und brachte einen gesunden Jungen zur Welt. Nach dem Erhalt der Arbeitserlaubnis zog die Familie wegen der besseren Arbeitsbedingungen von Göttingen nach München, wo sie intensiv Deutsch lernte und sich um die Erziehung der zwei Kinder – die Tochter Maria war 1985 geboren – kümmerte, im Gegensatz zu ihrem eher passiven Mann. Sie arbeitete im Frühstücksservice eines Hotels, später in einer Kantine, wurde unabhängig von Sozialunterstützung, konnte sich eine Eigentumswohnung kaufen, litt aber unter der Mehrfachbelastung von Familie und Beruf.
Beide Kinder studierten (Jura und Medizin); aus Dankbarkeit für die Unterstützung durch ein ‚christliches‘ Land, hatte sie den Kindern christliche Namen gegeben. Im Jahr 2015 starb ihr Mann nach einem Schlaganfall. Sie fühlte sich danach, da sie ihre ungewollte Ehe wie einen ‚Käfig‘ erlebt hatte, erstmalig frei, denn Ihr Mann hatte sie als Kind gekauft und niemals freigegeben. Seit 1996 kümmert sich Jakub ehrenamtlich um afghanische Frauen und Kinder und engagiert sich gegen ungerechte patriarchalische Moralvorstellungen. Dankbar für die Chancen in Deutschland möchte sie mit diesem Buch Deutschland etwas zurückgeben.
Diskussion
Eine einfach geschriebenes, damit sehr gut lesbares und anrührendes Buch von einer Flucht nicht nur von einem Land in ein anderes, sondern auch von einer Kultur in eine andere, was in doppeltem Sinn als Befreiung erlebt wurde. Die zwangsweise viel zu frühe Heirat, die Vergewaltigungen in der Ehe haben negative Spuren hinterlassen, die nicht zu löschen sind, gleichzeitig aber auch positive durch die Unterstützung des Vaters beim, in Afghanistan damals für Mädchen nicht üblichen, Schulbesuch, der der Autorin eine gute intellektuelle Entwicklung und frühe Unabhängigkeit trotz der bedrückenden Umgebung ermöglichte. Ein Zeugnis einer mutigen äußeren und inneren Selbstbefreiung.
Fazit
Aufgrund der leicht verständlichen Sprache ist das Buch sehr gut geeignet für Gespräche mit Jugendlichen über kulturelle Differenzen, Flüchtlingsprobleme und Nachdenken über die eigene Kultur und eine emanzipatorische Befreiung aus Unterdrückung und Unmündigkeit.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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