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Cas Mudde, Cristóbal Rovira Kaltwasser u.a.: Populismus

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 07.01.2020

Cover Cas Mudde, Cristóbal Rovira Kaltwasser u.a.: Populismus ISBN 978-3-8012-0545-4

Cas Mudde, Cristóbal Rovira Kaltwasser, Anne Emmert (Übersetzerin): Populismus. Eine sehr kurze Einführung. Verlag J.H.W.Dietz (Bonn) 2019. 192 Seiten. ISBN 978-3-8012-0545-4. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.

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Thema

Der Anspruch der Autoren ist es, Klarheit zu schaffen, was in der politischen Diskussion als populistisch zu gelten hat und wie populistische Politiker*innen und Bewegungen nach dem Maßstab dessen zu bewerten sind, was die Autoren als „liberale Demokratie“ bezeichnen. Populismus (P.) ist für sie, so viel vorweg, ambivalent.

Autoren

Cristóbal Rovira Kaltwasser hat eine Professur für Politikwissenschaft an der Diego Portales University (UDP) in Santiago de Chile.

Cas Mudde ist ein niederländischer Politikwissenschaftler mit den Forschungsschwerpunkten Extremismus und Populismus, zurzeit Assistenzprofessor an der Universität von Athens (Georgia).

Aufbau und Inhalt

Nach dem Vorwort soll

  • Kapitel 1 klären „Was ist Populismus?“ Für die Autoren ein „Ideengefüge“, das charakterisiert ist durch die Entgegensetzung von „Volk“ und „Elite“ und die Berufung auf den „Gemeinwillen“, eine „dünne Ideologie“ ohne „kohärente ideologische Tradition“. Deshalb ist P. „immer mit anderen Ideologien verhaftet“ (25 f.), entweder mit linken oder rechten, d.h. „nativistischen“, nationalistischen. Die Autoren sprechen von “Wirtsideologien“ (72). Schon im Vorwort wenden sie sich gegen die Gleichsetzung mit Sozialismus oder Faschismus. Der „autoritäre Machthaber“ sei kein Merkmal des P. (103). P. sei aber nicht vereinbar mit dem Pluralismus, der „viele Machtzentren“ in der Gesellschaft für erstrebenswert hält (27 f.). Ein zweifaches historisches Erbe nutzt oder missbraucht der Populismus, nämlich die Idee der Volkssouveränität und die des „Gemeinwillens“ (39). Deshalb teilweise die Vorliebe für Referenden und Volksentscheide (40).
  • Nach dieser allgemeinen Charakterisierung werden in Kapitel 2 „Populismus in aller Welt“ populistische Politiker, Parteien und Bewegungen in Nordamerika, Lateinamerika, Europa, „Australasien“ und Südafrika vorgestellt, um die Vielfalt der Varianten zu verdeutlichen. Das Spektrum ist für die Autoren weit gespannt. Es reicht z.B. von Pinochet bis Chavez und von Berlusconi bis Tsipras.
  • In Kapitel 3 unterscheiden sie drei Formen der populistischen Mobilisierung: eine „personalistische Führung“, soziale Bewegungen und die Parteien, wobei Übergänge und Mischformen festgestellt werden, wie man sich denken kann.
  • In Kapitel 4 wird „Die populistische Führungsfigur“ charakterisiert und politisch verortet. Als häufiges Merkmal wird Anti-Intellektualismus und Männlichkeitskult ausgemacht (104). Auch Frauen bedienten sich gern „geschlechtsspezifischer Klischees“ oder des Frauen-Bonus (110). Populisten seien oft Outsider des politischen Systems. Typisch sei aber der Insider-Outsider-Status.
  • In Kapitel 5 nehmen die Autoren eine funktionale Bewertung des P. für das demokratische System vor. Demnach können populistische Bewegungen und Parteien zur Entdemokratisierung beitragen, indem sie z.B. die „Moralisierung“ der Politik begünstigen (129), oder aber Demokratisierungsprozesse fördern, indem sie etwa ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen mobilisieren (ebd.). Dem P. – „das (schlechte) Gewissen der liberalen Demokratie“ (171 f.) – werden also „negative“ und „positive Effekte“ zugeschrieben.
  • In Kapitel 6 werden Erklärungen für Erfolg und Misserfolg des P. gesucht, wobei die Autoren zwischen der „Nachfrageseite“ und der „Angebotsseite“ unterscheiden. Nur so weit nämlich Empörung über untätige Eliten, Korruption etc. verbreitet ist, können populistische Angebote auf Aufnahmebereitschaft stoßen. Dementsprechend werden Empfehlungen für die etablierte Politik formuliert.

Ein Anhang mit Literaturhinweisen pro Kapitel, weiterführender Literatur und Personenregister beschließt die Publikation.

Diskussion

Das im Titel versteckte Versprechen, man wisse nach der Lektüre, was Populismus ausmacht, wird nicht eingelöst, kann so nicht eingelöst werden. Die Autoren spiegeln eine Scheinklarheit vor. Viele Begriffe bleiben unbestimmt. Viele Aussagen erscheinen damit widersprüchlich oder ungereimt. Was kennzeichnet die „Elite“ oder die Eliten? Was ist „elitär“? Was verstehen die Autoren unter Minderheiten? Was soll man davon halten, dass sowohl Bewegungen von Indigenen in Lateinamerika und Neuseeland (114, 69) als auch Rechtspopulisten in Europa unter „Ethnopopulismus“ subsumiert werden? Solch schlechte Abstraktheit bestimmt viele Textpassagen. Was außer der Vielzahl der „Machtzentren“ (28) definiert die „liberale Demokratie“? Wodurch mindert der P. „oft die Qualität liberaler Demokratien“ (144)? Vielleicht durch „ein extremes Mehrheitsprinzip“? Die analytische Beschreibung des heutigen demokratischen Systems, speziell der Funktion der Parteien darin (85), ist unzureichend.

Der P. erscheint in der Darstellung verwirrend widersprüchlich, teils weil der scheinbaren Widersprüchlichkeit nicht auf den Grund gegangen wird, teils weil Begriffe unklar sind. Er soll einerseits autoritär sein, andererseits wird ihm eine „Wahlverwandtschaft“ mit direkter Demokratie attestiert (41). Populisten „lehnen Minderheitenrechte und Pluralismus ab“, versuchen aber auch, so die Feststellung im nächsten Satz, „Randgruppen Stimme und Macht zu verleihen“ (143).

Was P. vom politischen Mainstream unterscheiden soll, ist alles andere als klar. Die Aussage „Populisten wollen vor allem ihre Repräsentanten an der Macht sehen“ (86) gibt kaum ein Unterscheidungskriterium her. Der Verweis auf die wirtschaftliche Macht der „Elite“ sei für „regierende Populisten“ nützlich, weil entlastend, wird gesagt (36). Dieselbe Praxis bescheinigen die Autoren aber später den Regierungen generell (165).

Die angeführten Merkmale für P., nämlich Anti-Intellektualismus, das Streben nach einer geschlossenen Gemeinschaft (39), die Leugnung von Klassengegensätzen, kennzeichnen durchweg rechten P. „Klassenunterteilungen“ würden nach Ansicht der Populisten das Volk schwächen (35). Insofern erscheint das Insistieren auf einem linken P. politischer Korrektheit geschuldet. Entsprechend verwunderlich ist die Argumentation im Vorwort: „Im Einklang mit den langjährigen Extremismusstudien der deutschen Wissenschaft machte ein rechter Populismus einen linken geradezu notwendig“ (14).

Aufschlussreich sind einige Andeutungen am Ende des Buches, die verraten, warum der P. heute „eine komplexere Herausforderung“ (161) werden könnte. Die Verfasser gestehen mehr oder weniger verklausuliert ein, dass Demokratien einen Legitimationsverlust zu verkraften haben, weil die Regierenden sich „höheren Instanzen“ verantwortlich fühlen (151). Der „Druck der internationalen Märkte“ wird erwähnt (ebd.). „Verpflichtungen gegenüber Dritten“ (165), IWF, Weltbank, EU (ebd., 152), hätten häufig Vorrang vor den Verpflichtungen gegenüber den Wählern. Eine solche Beschreibung des aktuellen Kontexts hätte die Aufklärungsfunktion des Buches etwas erhöht.

Fazit

Eine wenig hilfreiche, eigentlich überflüssige Publikation.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
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Es gibt 89 Rezensionen von Georg Auernheimer.

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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 07.01.2020 zu: Cas Mudde, Cristóbal Rovira Kaltwasser, Anne Emmert (Übersetzerin): Populismus. Eine sehr kurze Einführung. Verlag J.H.W.Dietz (Bonn) 2019. ISBN 978-3-8012-0545-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26329.php, Datum des Zugriffs 25.09.2023.


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