Daniel Goffart: Das Ende der Mittelschicht
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 02.03.2020

Daniel Goffart: Das Ende der Mittelschicht. Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell. Berlin Verlag (Berlin) 2019. 399 Seiten. ISBN 978-3-8270-1396-5. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
Autoren
Daniel Goffart, Jg. 1961, der seine berufliche Laufbahn als Jurist begann, ist seit 1992 publizistisch tätig – seit 2012 dergestalt, dass er in Berlin die Hauptstadtredaktion des Nachrichtenmagazins Focus leitet. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er durch sein Buch „Steinbrück – Die Biografie“ (München: Heyne, 2012) sowie als Co-Autor von „Kanzlerin der Reserve. Der Aufstieg der Ursula von der Leyen“ (Berlin: Berlin Verlag 2015); die Erst-Autorin des Buches, Ulrike Demmer ist seit 2016 stellvertretende Regierungssprecherin.
Thema
Das Thema des Buches ist durch Haupt- und Untertitel eigentlich schon hinreichend dargelegt. Wer es genauer haben möchte: Das Buch bietet ausführliche Erläuterungen zu einem gesellschaftlichen Wandlungsprozess, den der Autor mit einem Bild vor die Augen der Leser(innen) führt: „Jahrzehntelang wurde die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf Graphiken in Form einer Zwiebel dargestellt. Die Ober- wie die Unterschicht waren nur als kleine Zipfel erkennbar; die überwiegende Zahl der Menschen fand sich in der großen bauchigen Mitte wieder. Heute müssten die Graphiker die Form unserer Gesellschaft eher als Birne zeichnen. Aus dem kleinen Zipfel der Unterschicht ist eine breite Masse geworden, die sich ohne großen Übergang bis zur schmaler werdenden Mitte fortsetzt.“ (S. 14).
Aufbau
Der Zentralteil des Buches besteht aus zwölf nummerierten Kapiteln, die gerahmt sind durch einen Pro- und Epilog („Ausblick“):
- Prolog – Von den Babyboomern bis zur Generation Golf: Die Wohlstandskinder geraten unter Druck
- Der verkannte Charme des deutschen Durchschnitts – Warum die Mittelschicht trotz ihrer Erfolge zum Auslaufmodell wird
- „Wir schaffen das!“ – Wirklich? – Die Versäumnisse der Politik und der selbstzufriedenen Deutschen
- Jobkiller Digitalisierung – oder: Die Illusion der Vollbeschäftigung
- Wer bietet mehr? – Die gewagten Verheißungen der digitalen Optimisten
- Die Plattformökonomie – Zerstörer mit beschränkter Haftung
- Schöne neue Arbeitswelt – oder: Freiheit als Falle. Von Clickworkern, digitalen Nomaden und der Mensch-Maschine
- Vom Auto zur App? – Warum die deutsche Industrie in Lebensgefahr ist. Chancen und Risiken der Revolution 4.0
- Der perfekte Sturm – Warum Demografie, Digitalisierung und Niedrigzinsen die Altersversorgung der arbeitenden Mitte zerstören
- Von der Kita bis zum Capital Club – Die Privatisierung der Bildung entwertet das Aufstiegsversprechen
- Geschlossene Gesellschaft – Members only – Drei Generationen nach der „Stunde null“ bleibt die Elite in Deutschland wieder unter sich – und wird immer reicher
- Geht Demokratie ohne Mittelschicht? – Eine breite Mittelschicht ist das Rückgrat der Demokratie, aber Angst, Verunsicherung und Wut lähmen die Politik und befördern die Radikalen
- Marketing, Manipulation, Machtmissbrauch – Die unheimliche Wirkung der Algorithmen reicht von der digitalen Entmündigung der breiten Massen bis zur Gefährdung der freien Marktwirtschaft und der Demokratie
- Ausblick: Was muss getan werden? – Revolutionen kennen keine Regeln, aber ohne Regeln droht die nächste Revolte. Roadmap für den Weg zum digitalen Gesellschaftsvertrag
Danach folgt „Lassen Sie uns reden!“ – Interview mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und ein Quellenverzeichnis, das mit weniger als 30 Positionen auskommt.
Inhalt
Das knappe Quellenverzeichnis zeigt an: Hier soll kein Beitrag zu einem wissenschaftlichen Diskurs geliefert werden. Das heißt aber nicht, dass das Sachbuch des politischen Publizisten Daniel Goffart nicht von Wissenschaft informiert wäre. Es gehörte 2019 zu den zehn Wirtschaftsbüchern, die auf der Shortlist des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises standen. Daniel Goffarts journalistische Kompetenz zeigt er in dem Interview mit dem deutschen Bundesarbeitsminister, dem er Bestimmungen abringt, von denen nicht sicher ist, ob sie noch „koalitionsfähig“ sind, weil sie eine klare sozialdemokratische Standortbestimmung aufweisen.
Dazu gehört auch, dass Hubertus Heil dem bedingungslosen Grundeinkommen, wie es etwa vom Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG Joe Kaeser alias Josef Käser geboren, gefordert wird, eine klare Absage erteilt: „Bei allem Respekt vor Herrn Kaeser – die Politik darf nicht zulassen, dass die Wirtschaft in der Digitalisierung die Gewinne macht und die Verluste in Form überzähliger Arbeitskräfte an den Staat übergibt, der dann mit Grundeinkommen oder anderen Maßnahmen die Aussortierten finanzieren soll. Das wäre eine soziale Entpflichtung der Unternehmen.“ (S. 391).
Man kann Herrn Kaeser/Käser vieles vorhalten, von seinem Jahreseinkommen mit mehr als 14 Millionen bis zu seinen Bücklingen im Namen des Kapitals vor Wladimir Putin und dem saudischen Herrscherhaus; eines aber nicht: dass er es an Klarheit mangeln ließe. So hat er sich denn auch im Juni 2016 auf der Digital Life Design Conference in München zur Zukunft der deutschen Mittelklasse eindeutig geäußert: „Was passiert mit denen, die wegen der Digitalisierung ihr Geschäft aufgeben müssen? Was geschieht mit denen, die gekündigt wurden und jetzt Probleme haben zu überleben? Was machen die? Die Digitalisierung wird die Mittelklasse vernichten. Die Digitalisierung ist 1-0-1-0-1-0 – und eben nicht die analoge Entwicklung über einen bestimmten Zeitraum. Folgendes wird passieren: Da nicht jeder ein Software-Ingenieur ist, schrumpft die Mittelklasse. Sie wird dünner. Es findet eine Art Polarisierung statt. Von zehn Menschen in der Mittelklasse steigt einer auf, und neun steigen ab.“ (als Übersetzung aus dem englischen Original zitiert nach S. 90–91).
Nirgendwo sonst wird auf den engen Zusammenhang zwischen „Ende der Mittelschicht“ und „Digitalisierung“ prägnanter hingewiesen als hier. Und weitaus mehr als anderswo wird im vorliegenden Buch eben dieser enge Zusammenhang thematisiert. Damit gewinnt es sein eigenes Profil – und hebt es ab von anderen Analysen zum „Ende der Mittelschicht“ – beispielsweise dem von Christoph Butterwegges „Die zerrissene Republik“ (Weinheim – Basel: Beltz Juventa, 2019).
Die enge Verknüpfung von „Ende der Mittelschicht“ und „Digitalisierung“ im vorliegenden Buch wird schon allein dann offenbar, wenn man sich nur die oben aufgeführten Überschriften und Untertitel der 14 zentralen Buchteile vor Augen führt: Ab Kapitel 3 „Jobkiller Digitalisierung“ ist „Digitalisierung“ im Gespräch, das sich bis zum 12. Kapitel mit dem Untertitel „Die unheimliche Wirkung der Algorithmen reicht von der digitalen Entmündigung der breiten Massen bis zur Gefährdung der freien Marktwirtschaft und der Demokratie“ erstreckt.
Wie eng vom Autor der Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten „Ende der Mittelschicht“ und „Digitalisierung“ gedacht wird, zeigt sich vollends, wenn wir uns das Schlusskapitel „Ausblick: Was muss getan werden? – Revolutionen kennen keine Regeln, aber ohne Regeln droht die nächste Revolte. Roadmap für den Weg zum digitalen Gesellschaftsvertrag“ ansehen. Dort wird eine zeitgenössische Variante der „Zehn Gebote“ aufgestellt, die nachfolgend schlagwortartig skizziert sei:
- „Die Wahrnehmung des Rechts ist … der erste und wichtigste Abschnitt, mit dem ein neuer Gesellschaftsvertrag für die digitale Zukunft beginnen muss.“ (S. 346).
- „Multilateral handeln! Mindestens im europäischen Rahmen, besser noch auf der Ebene der OECD oder der G-20.“ (S. 354).
- „Der dritte Punkt eines neuen Gesellschaftsvertrags müsste den grundlegenden Ausbau der Bildungssysteme beinhalten.“ (S. 356).
- Der vierte Punkt beinhaltet die Frage: „Was machen wir mit den digitalen Bildungsverlierern?“ (S. 361).
- Der fünfte Punkt ist ebenfalls eine Frage; nämlich die „wie Wachstum und Ertrag in der digitalen Marktwirtschaft künftig gerechter verteilt werden können“ (S. 363).
- Der sechste Punkt zielt auf eine Konzeption von „digitaler Ethik“ (S. 368ff).
- „Der siebte Punkt der Zukunftsagenda betrifft die Lüge in unseren Preisen oder, anders ausgedrückt, die ökologische Dimension der Digitalisierung.“ (S. 370).
- „Neues und ganzheitliches Denken ist auch erforderlich, um nicht nur den digital gap zu überwinden, also den digitalen Graben zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, sondern vor allem den Wohlstandsgraben. Zu jedem gesellschaftlichen Zukunftsvertrag gehört deshalb achtens der unbedingte politische Wille, die Ursachen globaler Probleme an der Wurzel zu fassen und mit allen verfügbaren technologischen und finanziellen Möglichkeiten zu lösen, um die Kette verhängnisvoller Konsequenzen zu durchbrechen. Es beginnt mit Krankheiten wie Malaria oder mit Bakterien in verunreinigtem Wasser.“ (S. 372).
- Nicht nur im Hinblick auf die Entwicklungsländer, aber sie besonders im Blick ist in Punkt neun der „unbedingte Wille“ (S. 374) formuliert, „in den kommenden Jahren alle entsprechenden Kräfte der Wissenschaft zu fördern und zu bündeln. Viele Kernprobleme in den ärmeren Regionen der Welt lassen sich mit Technik und Geld lösen“ (S. 375).
- „Der zehnte und letzte Punkt des digitalen Gesellschaftsvertrags muss … der Verteidigung der Demokratie gelten.“ (S. 376). Dies ist v.a. mit Blick auf China formuliert.
Was eine(n) Autor(in) umtreibt, wo ihr oder sein Herzblut fließt, wird erkenntlich an Passagen, die – um mich psychodynamischer Redeweise zu bedienen – von hoher „affektiver Besetzung“ zeugen. Im vorliegenden Buch scheinen mir das v.a. zwei zu sein.
Die erste ist: „Der nachdrücklichste Beweis für die permanente Ausplünderung der Mittelschicht durch den Staat spiegelt sich in der Tatsache wider, dass man ab einem Jahresgehalt von 54.950 Euro bereits mit dem Spitzensteuersatz belegt wird. … Vor sechzig Jahren musste man noch das Zwanzigfache des Durchschnitteinkommens verdienen, ehe man den Spitzensteuersatz bezahlen musste. Heute reicht dafür das 1,3-Fache. Hinzu kommt, dass der unersättliche Fiskus auch bei allen Reserven zulangt, die sich die Mittelschicht für die Ausbildung der Kinder oder das eigene Alter mühsam abspart. Die ab 2005 geltende nachgelagerte Besteuerung und die Sozialversicherungspflicht von Erträgen aus Lebensversicherungen oder Versorgungswerken vernichtet bei der Auszahlung einen guten Teil des extra Ersparten. Dagegen werden Erbschaftssteuern fast gar nicht mehr erhoben und die Kapitalerträge der wirklich Reichen pauschal mit 25 Prozent besteuert.“ (S. 38–39).
Als zweites Beispiel sei angeführt: „Ich frage mich ernsthaft, warum es bei uns eine so große Sympathie für die Datenkraken aus Amerika gibt, die hier in Europa kaum Steuern bezahlen und durch ihre Marktmacht viele kleine Firmen verdrängen oder aufkaufen. Warum lassen wir diese heranwachsenden Kartelle einfach weiter gewähren und im Verborgenen ihre Datennetze ausbreiten? Warum lassen wir es zu, dass wir abgeschöpft, ausgeforscht, manipuliert und verkauft werden? Warum zwingen wir sie nicht zu Transparenz? Es ist so absurd wie gefährlich, wenn zwei, drei Privatunternehmen den gesamten öffentlichen Raum für sich beanspruchen und ihn nach ihren Regeln gestalten und ausbeuten.“ (S. 353–354).
Diskussion
Es war dann doch nicht das vorliegende Buch, das im Oktober 2019 den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis erhielt; der ging an Paul Colliers „Sozialer Kapitalismus. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“ (Berlin: Siedler, 2019). Der Deutsche Wirtschaftsbuchpreis steht unter dem Motto „Wirtschaft verstehen“ und wird vergeben, um die Wirtschaftsliteratur zu fördern; mit der Auszeichnung soll die Bedeutung des Wirtschaftsbuches bei der Vermittlung ökonomischer Zusammenhänge unterstrichen werden. Zu den Auswahlkriterien schon für die Shortlist gehören neben innovativer Themensetzung oder einem neuen Blickwinkel auch Verständlichkeit und Lesbarkeit. Gemessen an diesen Kriterien gehört das vorliegende Buch ganz sicher zu den zehn besten deutschsprachigen Wirtschaftsbüchern des Jahres 2019. Wem in diesem Buch die wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, die sich natürlich auch im Schrumpfen der Mittelschicht zeigt, zu kurz kommt, möge ergänzend Christoph Butterwegges „Die zerrissene Republik“ (Weinheim – Basel: Beltz Juventa, 2019) lesen.
Fazit
Das Buch ist zu empfehlen all jenen, zu deren Sorgen um die Zukunft auch die wirtschaftliche gehört. Es eignet sich gut als Einstiegslektüre in die Wirtschaftsliteratur.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 171 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 02.03.2020 zu:
Daniel Goffart: Das Ende der Mittelschicht. Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell. Berlin Verlag
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-8270-1396-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26332.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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