Georg Eckardt: Ausgewählte Texte zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft
Rezensiert von Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, 11.11.2019

Georg Eckardt: Ausgewählte Texte zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft. In memoriam Wilhelm Wundt. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2019. 132 Seiten. ISBN 978-3-658-25789-7. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 44,50 sFr.
Thema
Der Beginn der Psychologie als Wissenschaft lässt sich nicht auf ein Datum festlegen, aber ganz sicher war Wilhelm Wundt (1832–1920) eine prägende Gestalt der frühen akademischen Psychologie. So beschränkt sich dieser Band auf die Darstellung der Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft durch Wundt. Dies macht Sinn, weil Wundt über lange Zeit einen starken, sogar internationalen Einfluss hatte, er seine Interessenschwerpunkte im Laufe seines langen Lebens veränderte und auch sein Verständnis von Zielen, Aufgaben und Methoden der Psychologie über Jahrzehnte hinweg entwickelt hat. Zudem hinterließ Wundt ein wissenschaftliches Œuvre, das mit ca. 32.000 Druckseiten, verzweigten Schachtelsätzen mit vielerlei Einschüben (S. 43) ungewöhnlich umfangreich und für heutige Leserinnen und Leser nicht leicht zu erschließen ist. Georg Eckardt, passionierter Psychologiehistoriker, hat sich hier der schwierigen und verdienstvollen Aufgabe angenommen, Wundts Psychologieverständnis für die heutige Zeit verständlich zu machen.
Autor
Prof. Dr. Georg Eckardt lehrte bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2002 Entwicklungspsychologie und Geschichte der Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind derzeit die Geschichte der Psychologie sowie die wissenschaftstheoretischen und philosophische Grundlagen der Psychologie.
Entstehungshintergrund
Wilhelm Wundt, der Begründer des weltweit ersten Psychologischen Laboratoriums an der Universität Leipzig im Jahr 1879, verstarb hochbetagt im Jahr 1920. Im Hinblick auf das Gedenken an Wundts Tod vor 100 Jahren befasst sich Georg Eckardt mit Wundt. Der äußere Anlass ist weniger bedeutsam und findet auch in dem Buch keine eingehende Thematisierung. Die Beschäftigung mit Wundt lohnt aber auch nach einem Jahrhundert, weil er für die Entstehung der akademischen Psychologie wohl so wichtig war wie kein anderer. Wundts umfangreiches Werk ist in den letzten Jahren zudem kontrovers diskutiert worden. Das ist eigentlich überraschend, weil man nach über einem Jahrhundert Klarheit erwarten könnte. Die Gründe für die unterschiedlichen Deutungen von Wundts Psychologie sind aber vielfältig (s.u.). Eckardt macht sich daher die Mühe, auf Wundt selbst zurückzugehen, dessen theoretische Arbeiten zu lesen, zu verstehen und zu vermitteln. Der Ansatz von Eckardt ist ideen- und problemgeschichtlich, nicht biografisch, sozial- oder gar institutionengeschichtlich.
Aufbau und Inhalt
Das schmale Buch ist in drei große Kapitel eingeteilt:
- Die Vorläufer
- Wundts wissenschaftliches Werk
- Grenzen der Wundtschen Psychologie-Konzeption. Kontroversen
Zu jedem Kapitel bzw. Abschnitt finden sich entsprechende Zitate aus Wundts Schriften, die jeweils erklärt, gedeutet und kommentiert werden. Die äußere Form des Buches ist daher ein Text mit insgesamt 104 hellgrau hinterlegten Zitaten, die fast ausschließlich von Wilhelm Wundt stammen. Einige weitere Autoren, wie Johann Friedrich Herbart (Kap. 1), Karl Bühler und Hugo Münsterberg (Kap. 3) sind mit Zitaten, dazu ein paar Briefe (Kap. 2) einbezogen worden, um Auffassungen sichtbar zu machen, von und mit denen sich Wundt kritisch abgesetzt hat. Das Layout des Buches ist vergleichbar gestaltet wie die Bände der „Schlüsseltexte der Psychologie“ des gleichen Verlags.
Gleich in der Einleitung zu seinem Buch behandelt Eckardt eine Frage, die in den letzten Jahren die Psychologiegeschichte bewegte: Verstand Wundt seine Psychologie als Naturwissenschaft – ablesbar etwa an seiner experimentellen Psychologie – oder als Geisteswissenschaft – ablesbar an seinem weiten Verständnis für vielfältige Methoden? Eckardt stellt die kontroversen Positionen anschaulich dar und kommt zu dem Ergebnis, dass man sich „die Frage so nicht stellen kann“ (S. VIII). Wundt lässt sich weder in die eine noch in die andere Schublade einordnen. Vielmehr verstand er die Psychologie als Wissenschaft, die eine „mittlere“ Position einnahm, nicht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, sondern beide Bereiche umfassend.
Das erste Kapitel behandelt vor allem Leibniz, Kant, Herbart und Fechner. Es zeigt sich hier, dass Wundt eine Psychologie entwickeln wollte, die vor allem von mythologischen und spekulativen Argumentationen frei war. Dies war ein Grund, warum Wundt nicht nur Herbarts Metaphysik und dessen spekulative Mathematisierung der Psychologie ablehnte und auf „der exakten Analyse der Erfahrung“ (S. 20) bestand. Wundt führte Fechners Psychophysik fort, distanzierte sich aber auch hier von dessen Spekulationen für die Psychologie (Fechner 1851).
Das zweite Kapitel ist chronologisch angelegt und stellt daher Wundts Werdegang dar. Hierbei stehen aber wieder seine wissenschaftlichen Arbeiten, weniger seiner Biographie, im Mittelpunkt. Eckardt zieht die Hauptwerke von Wundt heran (Wundt 1862, 1864–1865, 1874) und stellt in ziemlich gedrängter Form die zentralen Konzepte der Lehre Wundts dar. Es wird deutlich, dass an den verschiedenen Missverständnissen der Wundtschen Psychologie der Meister selbst nicht unbeteiligt war. Zu dem für Wundts Psychologie wichtigen Begriff der Apperzeption lieferte Wundt in Abgrenzung zu Leibniz und Herbart Beschreibungen und Bilder, nach genauen Definitionen muss man bei Wundt aber suchen.
Aufschlussreich ist für Eckardt auch der dritte Band der „Logik“, der erst bei der dritten Auflage (1906-1908) hinzugekommen ist. Wundt entwickelte hier (anlässlich des Streits mit Karl Bühler um dessen Experimente zur Denkpsychologie) die Möglichkeiten, Grenzen und Merkmale des psychologischen Experiments. Die „willkürliche Variation ihrer Bedingungen“ (S. 80) zählt wie bei dem naturwissenschaftlichen Experiment für ihn zu den Kennzeichen. Diese Variation der Bedingungen sieht er bei den Experimenten der Würzburger Schule nicht gegeben und bewertet sie abwertend als „Ausfrageexperimente“.
Natürlich enthält das zweite Kapitel auch die zentralen Konzepte der Wundtschen Psychologie – bis hin zur Völkerpsychologie, der er sich in seinen letzten 20 Lebensjahren gewidmet hat (Wundt 1900–1920).
Das dritte Kapitel ist den Kontroversen gewidmet. Wundt war bekanntermaßen streitbar. Jochen Fahrenberg hat immerhin 16 Kontroversen identifizieren können (S. 93). Wahrscheinlich waren es mehr, in denen sich Wundt von Kollegen absetzte oder eigene, frühere Schüler zu belehren versuchte. Eckardt behandelt exemplarisch drei verschiedenartige Kontroversen: eine mit seinem Schüler Ernst Meumann 1862–1915), die bedeutende Kontroverse mit Karl Bühler (1879–1963), einem Schüler seines Schülers Oswald Külpe (1862–1915), und mit seinem Schüler Hugo Münsterberg (1863–1916).
Ernst Meumann war Assistent von Wundt gewesen. Wundt hatte auch seine Untersuchungen gelobt, was selten vorkam. Bei Meumann wuchs bald das Interesse, psychologische Erkenntnisse „für praktische gesellschaftliche Zwecke, insbesondere Erziehung, Schule und Bildung“ (S. 95) zu nutzen. Bei Wundts Streit mit Meumann ging es um die Frage, in welcher Zeitschrift welche psychologischen Untersuchungen zu veröffentlichen seien. Wundt kritisierte, dass Meumann mit der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Archiv für die gesamte Psychologie“ zu sehr in den Bereich der Pädagogik abdriften würde. Wundt benannte seine eigene Zeitschrift „Philosophische Studien“, ab 1905 „Psychologische Studien“.
Der Streit zwischen Wundt und Bühler wurde schon benannt. Hier ging es um die Möglichkeiten des psychologischen Experiments, die Wundt begrenzt sah. Der junge Bühler versuchte Wundt schlagfertig eines Besseren zu belehren. Überzeugen ließ sich Wundt bis zu seinem Lebensende nicht, während die heutige Psychologie die Entwicklung der Würzburger Schule der Denkpsychologie als Erweiterung und Gewinn der Psychologie sieht.
Bei dem Konflikt mit Münsterberg ging es um die Frage der Anwendung der Psychologie auf Alltagsprobleme. Wundts Schüler Hugo Münsterberg betrieb in den USA enthusiastisch und sehr erfolgreich angewandte Psychologie unter der Überschrift „Psychotechnik“. Wundt war längere Zeit gegenüber solchen Versuchen skeptisch. Erst ziemlich spät, 1909 in einem Vortrag, rang sich Wundt zu anerkennenden Worten durch; grundsätzlich abgelehnt, wie man gelegentlich vermutet hat, hat Wundt die Anwendung nicht. Er hielt sie nur lange Zeit für verfrüht und er selbst hatte kein primäres Interesse an angewandter Psychologie.
Diskussion
Der Buchtitel lässt zunächst vermuten, dass ausgewählte Texte verschiedenster Philosophen und Psychologen zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft zusammengestellt worden sind. Der Untertitel ist jedoch maßgeblich: Das Buch ist auf Wilhelm Wundt fokussiert, sowohl was die Auswahl der Originaltexte als auch was deren Erklärungen durch den Autor Georg Eckardt angeht. Diese Eingrenzung ist wegen der Bedeutung Wundts für die Disziplin und das Fach Psychologie angemessen, zumal auch selbst heute noch umstritten ist, worin die wichtigsten Ziele der Wundtschen Psychologie bestanden (Naturwissenschaft vs. Geisteswissenschaft?).
Die Wiedergabe erhellender Originalpassagen von Wundt ist ein angemessener Weg, um Wundt nach 100 Jahren besser zu verstehen. Die Auswahl der Textpassagen und die kompetenten Erläuterungen dazu machen das Buch zu einer hilfreichen und in ihrer Bewertung erfreulich ausgewogenen Einführung in die Psychologie Wundts. Vor allem das zweite Kapitel hätte m.E. ausführlicher sein dürfen. So kann man sich eine erweiterte, durchgesehene zweite Auflage wünschen.
Fazit
Der Buchautor hat mit diesem schmalen, leider aber teuren, Buch eine wertvolle Arbeit geleistet. Er vermittelt die Entstehung der Wundtschen Psychologie, deren Hauptinhalte und behandelt exemplarisch drei Kontroversen, die Wundt mit Kollegen und Schülern führte. Hierzu nutzt er über einhundert gut ausgewählte originale Textpassagen, die knapp und kompetent erläutert werden. Das Buch ist daher ein wertvoller Beitrag zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Werk von Wilhelm Wundt und dessen Beitrag zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft.
Literatur
Fechner, G. T. (1851). Zend-Avesta. Leipzig: Hamburg: Voss.
Wundt, W. (1862). Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Vol. 1. Leipzig: Leopold Voß
Wundt, W. (1864-1865). Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Lieferung 1–3. Erlangen: Enke.
Wundt, W. (1874). Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig: W. Engelmann.
Wundt, W. (1900–1920). Völkerpsychologie. 10 Bände. Leipzig: Engelmann.
Wundt, W. (1902). Grundzüge der physiologischen Psychologie. 5., völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig: W. Engelmann.
Wundt, W. (1908). Logik. Band 3. Stuttgart: Enke.
Wundt, W. (1911). Über reine und angewandte Psychologie. In Wilhelm Wundt. Kleine Schriften. Band 2. Leipzig: Engelmann.
Rezension von
Prof. em. Dr. Helmut E. Lück
FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie
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