Markus Vogt: Ethik des Wissens
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 05.02.2020
Markus Vogt: Ethik des Wissens. Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft in Zeiten des Klimawandels. oekom Verlag (München) 2019. 98 Seiten. ISBN 978-3-96238-163-9. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
(Angebliches) Wissen als Massenware, stets frei verfügbar, und bald nicht mehr nur als Quelle von (Des-)Information, sondern über Algorithmen generiert, verändert die Rolle von Hochschulen. Sie gelten nicht mehr als Garanten gesicherten Wissens, werden bezichtigt, den Elfenbeinturm nicht zu verlassen, den Bezug zur Lösung von Problemen verloren zu haben und für die Gesellschaft bedeutungslos zu werden. Der Autor geht davon aus, dass dieser Diskrepanz ein „verkürztes Verständnis von Rationalität“ (S. 7) zugrunde liege, die u.a. zu einer „Marginalisierung ethischer Fragen“ (S. 7) führe. Im vorliegenden Essay begründet er, wie eine „Ethik des Wissens“ Forschung und Gestaltung, Freiheit und Verantwortung als Einheit zu begreifen versucht, mit der Hochschulen in „postfaktischen Zeiten“ als gesellschaftliche Akteure wieder Vertrauen gewinnen können.
Autor
Prof. Dr. Markus Vogt ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit den 1990er Jahren gehören das Verhältnis Mensch-Umwelt, die globale Entwicklung, Friedens-, politische und Wirtschaftsethik zu den Forschungsgebieten (u.a. als Mitarbeiter im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung, als Leiter der Clearingstelle „Kirche und Umwelt“ an der Theologischen Hochschule in Benediktbeuren, als Sprecher des Sachverständigenrats Bioökonomie der Bayerischen Staatsregierung u.a.m.). Maßgeblich hat er das Forschungsprojekt HochN – Nachhaltigkeit an Hochschulen geprägt und das Netzwerk Hochschule & Nachhaltigkeit Bayern etabliert. Er ist Mitglied der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 sowie der ökologischen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz. Sein Werk „Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive“ aus dem Jahr 2009, basierend auf seiner Habilitationsschrift 2007, wurde mehrfach ausgezeichnet.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist nach dem Vorwort (S. 7–8) in vier Kapitel unterteilt und schließt mit dem Literaturverzeichnis (S. 89–98).
In Kapitel 1 „Wissenschaft zwischen Beobachter- und Akteursrolle“ (S. 9–28) erklärt Vogt die Brisanz der Thematik: In ökologischer und soziokultureller Hinsicht zeige sich am deutlichsten, wie klein das Zeitfenster geworden sei, mittels vorhandener technischer Optionen den fragilen Zustand des ökologischen Systems, der im Anthropozän entstanden sei, zu verändern. Dafür brauche es eines stabilen Vertrauens einer auf Freiheit und Vernunft fußenden Wissensgesellschaft in Lösungen, zu welchen innovative Forschung beitragen könne. Genau dieses Vertrauen sei brüchig geworden, mit der Konsequenz, dass Wissen nicht mehr in Handeln umgesetzt, häufig wider besseres Wissen ein Weiter-So verfolgt werde. Trotz hochschulseitiger Aktivitäten, sich dem Thema Nachhaltigkeit zu nähern (z.B. Nachhaltige Hochschulentwicklung HochN, das Netzwerk Hochschule und Nachhaltigkeit in Bayern), sei die mediale Aufmerksamkeit und transformative Kraft nicht von Wissenschaftler/innen (z.T. organisiert bei www.scientists4future.org) initiiert worden, sondern von Schüler/innen, deren Engagement für die Generationengerechtigkeit authentischer wirke. Wissenschaft habe die Muster der Vergangenheit beibehalten und habe sich die transformative Aufgabe nicht zu Eigen gemacht. Aus allen Begriffen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft neu zu beschreiben versuchen, favorisiert Vogt den der „katalytischen Wissenschaft“ (catalytic science): Gemeint ist, dass Wissenschaftler/innen eine robuste Wissensbasis schaffen, die verständlich kommuniziert wird und im Austausch mit anderen Akteuren macht- und interessenstransparent lösungsorientiert agiert.
Der Autor greift auf Max Webers Vorträge „Wissenschaft als Beruf“ (1919) und „Politik als Beruf“ (1919) zurück, um die „wissenschaftstheoretische Tiefenstruktur“ (S. 18) des Konflikts zwischen den Befürwortern eines sich auf Wertfreiheit berufenden Wissenschaftssystems, das getrennt von Politik und Gesellschaft ihre Erkenntnisgewinnung verfolgt, und Verfechtern einer Wissenschaft, die eingebettet in gesellschaftliche und politische Kontexte agiert und die Erkenntnisse nutzt, um auf die Bedingungen einzuwirken, zu erklären. Für beide Positionen gibt es „gute Gründe“ (S. 21), die Vogt auflistet. Da sich das Konzept Nachhaltigkeit politisch etabliert habe und kein wissenschaftliches sei, bedürfe es einer gesonderten Aufmerksamkeit, in welcher Rolle Hochschulen als Akteure und „change agents“ ihr Wissen einbringen könnten, und der Anspruch einer transformativen Wissenschaft nicht dazu führe, politisches Handeln und Entscheidungen zu ersetzen und die Verantwortung ethisch und moralisch zu übernehmen. Die folgenden Kapitel sieht der Autor als Beitrag zur Verortung des Modells der transformativen Wissenschaft.
In Kapitel 2 „Die soziale Grammatik der Verantwortung“ (S. 29–47) stellt der Autor die sich auf Nachhaltigkeit berufende „große Transformation“ (S. 29) mit dem Ziel einer ökologisch, global und intergenerationell entgrenzten Verantwortung als radikale Überforderung dar und dechiffriert sie angesichts der gegenwärtigen „Bedingungen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft“ (S. 29) in der Nachhaltigkeitskommunikation als „deklamatorische Verantwortungsüberlastung“ (S. 30). Am Beispiel der Sustainable Development Goals (SDG) verdeutlicht Vogt die Diskrepanz zwischen den substanziell bedeutsamen, aber konzeptionell inkohärenten und damit utopischen SDGs und der Uneinlösbarkeit angesichts des Alltags und der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wissenschaft dürfe sich nicht vereinnahmen lassen, die SDGs methodisch als Ziele von Forschung zu verwenden, sie könne basierend auf ihrem Rationalitäts- und Freiheitsanspruch eine „Impulsgeberfunktion“ für die Umsetzung der Ziele einnehmen, transdisziplinär agierend, methodisch reflektiert und aus sich selbst heraus und nicht politisch beauftragt. Aufgabe von Ethik sei es, Zielkonflikte (wie z.B. bei der „simulativen Demokratie“ (S. 32)) und Dilemmastrukturen zu offenbaren, d.h. „Arenen, Grenzen und Handlungsbedingungen von Verantwortung“ (S. 32) neu zu vermessen. Ethik müsse ferner die „Erosion von Verantwortung“ (S. 34) analysieren, und sich nicht von der Unübersichtlichkeit einer postmodernen Gesellschaft oder der fehlenden kausalen Zurechenbarkeit blenden lassen, sondern genau das Geflecht von Akteuren hinter angeblich „anonymen Systemlogiken“ (S. 36) durchleuchten und vermeintliche Neutralität entlarven. Wenn das Zusammenspiel von Verantwortung und Freiheit nicht mehr funktioniere, dann sei der Liberalismus und mit ihm die Freiheit von Wissenschaft in Gefahr.
Der Klimawandel ähnele einem „Stresstest“ für eine Gesellschaft, ob sie sich in disruptiven Veränderungsprozessen ein kollektives und nicht nur ein individuelles Verantwortungs- und Freiheitsdenken bewahrt habe. Für die Wissenschaft bedeute dies, dass sie „das Vertrauen in Vernunft und Freiheit als Grundlage der Demokratie“ (S. 38) verteidige, sich proaktiv an der Bewältigung der Probleme beteilige, damit auch das Politische füttere, ohne sich zu deren verlängertem Arm machen zu lassen. Mithilfe der „sozialen Grammatik der Verantwortung“ (S. 39), die Verantwortung als Beziehungsgefüge von Zuständigkeit bei einem Subjekt, für etwas (Objekt) und gegenüber jemandem (Adressat) versteht, vermag Vogt die Verantwortungsüberlastung zu erklären und Wege aufzuzeigen, sie aufzulösen. Verantwortung zeige sich darin, Vorrangiges von Nachgeordnetem zu unterscheiden, mitzugestalten, sich einzubringen, auf Unvereinbarkeiten hinzuweisen und für das eigene Handeln Rechenschaft abzugeben. So könne der Prozess der Transformation der SDG „in ein wissenschaftsfähiges Konzept“ (S. 42) angegangen werden. Schließlich brauche es für die Verantwortung noch einer „Risikomündigkeit“ (S. 43), nämlich entsprechend Freiraum für Innovationen zu geben und Einschränkungen so zu setzen, dass eine Risikoeskalation verhindert werde. Am klügsten verankert sieht Vogt das Konzept bei „Responsible Research Innovation“ (RRI) (S. 45), weil es viel mehr Implikationen beinhalte als eine reine Folgenabwägung, jedoch insgesamt noch kaum erforscht sei.
Kapitel 3 „Die Krise der Klugen“ (S. 48–63) beginnt mit der überspitzten Frage, ob Universitäten angesichts ihres „hochausdifferenzierten Wissenschaftsbetriebs“ (S. 49) mit großem Daten-Output, aber einer auffallenden Stummheit, wenn es um die Wahrnehmung der existentiellen Bedeutung für das Handeln gehe, zu „randständige[n] Echokammern“ (S. 49) werden? Mit Blick auf die Ergebnisse zum Megathema Klima- und Umweltwandel lasse sich Vogt zufolge nachzeichnen, wie die singulären Ergebnisse zu apokalyptischen Szenarien eher als ferner Mythos, denn als Realität wahrgenommen würden. Aufgabe einer „Nachhaltigkeitswissenschaft als Bildungsmethode“ (S. 51) sei es, die „dissoziierten Wissenslandschaften“ (S. 51) zu verknüpfen und die Wissensbasis auf Basis der Fakten des Anthropozäns neu zu reflektieren, auch mit Blick auf den erforderlichen Handlungswillen. Rationalität ohne Bezug zu einem „Diskurs über gelingende Lebensführung“ (S. 52) und zu entsprechendem Handeln sei verkürzt und spiegele nicht Klugheit wider, sondern vereinfachende Folgenoptimierung. Darin sei die Krise der Klugen begründet, für die das WBGU-Gutachten „Unsere digitale Zukunft“ (2019) zwar ein Ausweg in einem „normativen Kompass“ (S. 55) namens Würde, Teilhabe, Schutz von Eigenart und Vielfalt, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen gegeben werde, der aber noch „wissenschaftsbasiert ethisch-politisch“ entfaltet werden müsse, um das Stadium von Leerformeln zu überschreiten und das humanistische Fundament der Universitäten aufrecht zu erhalten.
Die „Ideologie eines Anti-Realismus“ (S. 57) sei in Zeiten digitaler Blasen mit den Optionen, sich einseitig zu informieren und gegen Kritik zu immunisieren, eine weitere Gefahr, die auch auf die Klugen zutreffen könne. Zum Faktum, dass heute wissenschaftliche Erkenntnisse in vielen Gesellschaftsbereichen nicht ernst genommen und sie journalistisch nicht bearbeitet werde, komme hinzu, dass Wissenschaftler/innen sich wieder neu auf den „wissenschaftlich zugängliche[n] Wahrheitsgehalt“ (S. 58) von Vernunft zu berufen lernen müssten und gegen die „Verachtung von Expertenwissen“ (S. 59) als Grundlage unserer Kultur – auch der Selbstachtung wegen – Widerstand zu leisten. Universitäten hätten, so der Autor mit Berufung auf das WBGU-Gutachten eine „kulturelle Revolution“ zu leisten und einen „Paradigmenwechsel im Verständnis von Fortschritt“ (S. 61) zu vollziehen. Ihr „Geschäft“ müsse die „gesellschaftlichen Nebenwirkungen“ (S. 60) bereits prospektiv mitdenken und die Konflikte nicht ignorieren. Wenn die SDGs als politische Resolution der Weltgemeinschaft akzeptiert werden, so müsste Wissenschaft sich an diesem veränderten Fortschrittskonzept ausrichten und sich als System wie als handelnde Akteure/innen stets die Frage der Resilienz stellen, die laute: Kann Fortschritt von der Natur mitgetragen werden? Daraus wird zu beurteilen sein, ob etwas langfristig wohlstands – und lebensfördernd sei.
Kapitel 4 „Exzellenz der Verantwortung“ (S. 64–88) klärt, wie Universitäten, wenn sie sich als autonome „strukturpolitische Akteure“ (S. 64) verstehen, in ihrem Vorgehen nicht nur auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen reagieren, sondern sich proaktiv betätigend zu „gesellschaftlichen Brückenbauern“ (S. 65) zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen werden und sich in ihren Voraussetzungen selbstreflexiv zeigen können. Nachhaltigkeit ersetze für Universitäten keine „normativen Debatten“ (S. 66), sie sei eine Herausforderung, insofern sie die eigenen Implikationen (Bedingungen, Ziele) thematisiere, Zielkonflikte benenne und so „transformative Wissenschaft“ betreibe, also eine „Wertdebatte über gute Bildung und exzellente Forschung“ (S. 66f) anstoße und die eigenen Ergebnisse bewerte. Gegenüber dem quantitativ orientierten „scientific impact“ sieht der Autor den „societal impact“ (S. 67) im Qualitätsvorteil. Vogt rekurriert auf den von der Leibniz- und Fraunhofer-Gesellschaft herausgegebenen Leitfaden „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“ (S. 67), der mit kleinen Abstrichen seiner Ansicht nach modellgebend auch für die Nachhaltigkeitsforschung in den drei Varianten der Nachhaltigkeitsforschung im engeren und weiteren Sinne und der nachhaltigen Forschung an Universitäten sein könne. Die Besonderheit von Universitäten liege in der Einheit von Forschung und Lehre, sodass die Partizipation der Studierenden und der Absolvent/innen als Akteure der Wissensgesellschaft stets mit zu bedenken sei. Wolle die (traditionelle) Wissenschaft zu einer transformativen oder emanzipatorischen Wissenschaft mutieren, so sei eine „Neuvermessung“ (S. 76) von Diskursräumen nötig: Die sich abschottende Fachdiskussion nach innen (Expertokratie) und die spätere Kommunikation in die Außenwelt der Gesellschaft hinein müsse einer sich aus den Anliegen von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Politik entwickelnden wissenschaftlichen Fragestellung Platz machen, die aktuell am besten im Konzept der Transdisziplinarität, verstanden als Hybrid von klassischer Wissenschaft, mit der methodisch systematisch komplexe Zusammenhänge analysiert werden, von instrumenteller Wissenschaft, die zielbezogen problemlösende Handlungsoptionen verfolgt und der katalytischen Wissenschaft, die prozedural und ko-kreativ Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse formt – zum Ausdruck kommt. Gelinge eine Kombination dieser drei Konzepte, könne „high quality knowledge“ (S. 75) entstehen, die Rolle von Wissenschaft in „deliberativen, auf Vernunft angelegten Demokratien“ (S. 77) gestärkt und „Wissenschaft als Dienst an der Gesellschaft“ (S. 77) neu definiert werden.
„Aufklärung 2.0“ als eine „ethisch-philosophische Schulung von kritischem Denken“ (S. 84) sei nötig, um die Prämissen jeder Wissenschaft methodisch kontrolliert zu reflektieren und insbesondere den Dualismus des Verständnisses von Rationalität zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu beleben. Dies sei in vielfacher Hinsicht erforderlich, wie z.B. die einseitige Überhöhung von Natur oder Marktfreiheit oder die aus der Anthropozentrik abgeleiteten Fehlschlüsse nahelegen würden. Mit einer „Ethik des Wissens“ (S. 81) könnten die Rationalitäten in einen Dialog treten und selbstreflexiv die Entstehungsbedingungen erörtern und Wissensgenerierung, -verwendung und -umsetzung in Bezug zueinander setzen. Vogt spricht sich dafür aus, jedes Studium mit einem studium generale beginnen zu lassen, das genau diese Optionen biete und zudem auch Transdisziplinarität fördere. Nachhaltigkeit sei „Befähigung zu Freiheit“ (S. 85), wenn sie als Handlungsermächtigung im Sinne der Herstellung von ökonomischen, sozialen, ökologischen Voraussetzungen für alle verstanden werde und nicht moralinhaltig und einschränkend daherkomme. Entsprechend verhalte es sich auch bei den Universitäten: Mit dem Einsatz für Nachhaltigkeit werde die Freiheit von Forschung und Lehre vollzogen und Hochschulen könnten als „strukturpolitische Akteure ihre eigenen Handlungsbedingungen mitgestalten“ (S. 88). Dass Freiheit das System der Hochschulen sei, müsse sie auch zu den Verteidigern von Freiheit und Demokratie machen, sie könnten sich auf der Grundlage ihrer unabhängig gewonnenen Forschung am gesellschaftlichen Dialog beteiligen, könnten mit „beherzter Freiheit“ (S. 86) aber auch widerständig sein gegenüber machtvoller Beeinflussung und die Kultur der Freiheit mit den Studierenden als Haltung einüben. Angesichts der Komplexität der Nachhaltigkeitsthematik könne daraufgesetzt werden, dass sich selbst ernst nehmendes Wissen danach strebe, die Diskrepanz zum alltäglichen Handeln zu verringern. Deshalb endet Vogt mit dem folgenden Satz: „Eine (…) transdisziplinäre Ethik des Wissens gehört in Zeiten des Klimawandels zu den vornehmsten Aufgaben der Universitäten und Hochschulen“ (S. 88).
Diskussion
Mir hat sich nicht erschlossen, wieso der Verfasser genau den Klimawandel als Anlass nimmt, die „Ethik des Wissens“ zu thematisieren und zu begründen, denn es gibt und gab m.E. zig andere hoch brisante Themen, an Hand derer die Debatte sich entzünden hätte können. Freilich lassen sich unter dem Dach des Klimawandels sehr viele und für den ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Fortbestand existentielle Aspekte subsumieren, die für Wissensproduktionsstätten wie Hochschulen herausfordernd sind. Insofern ist der Wert dieses Essays viel fundamentaler: Er verlangt von allen an den Hochschulen Agierenden (und nicht nur von den forschenden, lehrenden oder weiterbildenden Akteuren), sich grundlegend Gedanken zu machen zum individuellen und gemeinschaftlichen Tun in dieser Organisation. Die im Buch angesprochenen Aspekte können abstrahierend jederzeit ergänzt werden um Fragen zur Studierendenauswahl, zur Gestaltung von Studiengängen, zur Akquise von Forschungsaufträgen, zur sozialen Verantwortung, zur Internationalisierung oder regionalen Verankerung, zu politischen Steuerungssystemen von Hochschulen, zum Ressourcenverbrauch und zu vielen anderen Facetten, die in Leitbildern fixiert oder in hochschulpolitischen Verlautbarungen enthalten sind. So gesehen kann der Klimawandel gern als Anlass dienen, wenn echte und offene Debatten über „Freiheit und Verantwortung“ in Gang gesetzt werden, auf unterschiedlichen Ebenen sowohl innerhalb wie außerhalb von Hochschulen. Der Essay kann einen Impuls liefern, die Selbstreflexivität anzustoßen, die Diskussionskultur hochschulintern zu beleben, etablierte Saturiertheiten ebenso aufzubrechen wie borniertes Kausaldenken in Bereichen, in denen es einfache Zusammenhänge nicht gibt. Bedingungslos erinnert der Verfasser an die Notwendigkeit von Transparenz, die es braucht, um wieder Vertrauen aufzubauen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs, aber auch in das wissenschaftlich gesicherte Wissen und die Bedingungen der Wissensproduktion. Eine „Ethik des Wissens“ beinhaltet ebenso einen Appell, gesichertes und ungesichertes Wissen zu unterscheiden, aber auch dem Über-Leben Dienliches und Abträgliches, dieses zu benennen und damit auch Stellung zu beziehen. Wenn heute vermehrt die Frage auftaucht, wie Personen, die beforscht werden oder für die geforscht wird, beteiligt werden, dann sind in diesem Essay Antworten zu finden, woraus sich Partizipation begründen lässt. Bleibt zu hoffen, dass die sorgfältig vorgebrachten Argumente zu einem verantwortlichen Handeln der Hochschulen in der/für die Transformation beitragen können.
Fazit
Der Essay spricht so viele Aspekte der Rolle von Hochschulen in der Gesellschaft an, dass er – unabhängig vom Klimawandel – für Hochschulangehörige aus Forschung, Lehre, Kommunikation und Steuerung, für Hochschulpolitiker/innen, gesellschaftliche Akteure im Umfeld von Hochschulen, und den Studierenden zur Lektüre sehr empfohlen werden kann.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 76 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 05.02.2020 zu:
Markus Vogt: Ethik des Wissens. Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft in Zeiten des Klimawandels. oekom Verlag
(München) 2019.
ISBN 978-3-96238-163-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26341.php, Datum des Zugriffs 15.11.2024.
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