Gregor Lang-Wojtasik (Hrsg.): Bildung für eine Welt in Transformation
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 23.01.2020
Gregor Lang-Wojtasik (Hrsg.): Bildung für eine Welt in Transformation. Global Citizenship Education als Chance für die Weltgesellschaft. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 192 Seiten. ISBN 978-3-8474-2284-6. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
In den „einleitenden Gedanken“ (S. 7) zur „gesellschaftliche[n] Transformation und transformatorische[r] Bildungsarbeit“ (S. 7) (S. 7–17) rekurriert der Herausgeber auf den Anlass zu dieser Publikation: den Sozialwissenschaften und der Pädagogik würden – mit Verweis auf das Hauptgutachten: „Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen von 2011 (WBGU) – eine wesentliche Rolle zugeschrieben, indem nach Erziehungs- und Bildungsprozessen gefragt werde, die zu einer erhaltenswerten Welt beitrügen. Auf die Ziele habe sich die Weltgemeinschaft 2015 mit den Sustainable Development Goals bereits geeinigt. Die Frage danach, welche Bildung und welches Bildungssystem es brauche, die Transformation umzusetzen, sei zu klären. Global Citzenship Education (GCED) sei ein Zugang von Bildung, dessen transformative Bedeutung noch zu schärfen sei.
Herausgeber
Prof. Dr. Dr. Gregor Lang-Wojtasik ist seit 2007 an der Pädagogischen Hochschule Weingarten Professor für Erziehungswissenschaft/Pädagogik der Differenz. Er ist Studiendekan der Fakultät I und Direktor des Forschungszentrums für Bildungsinnovation und Professionalisierung. Die Laufbahn des Grund- und Hauptschullehrers durchzieht eine Themenvielfalt der interkulturellen Bildung, der Entwicklungspädagogik, des globalen Lernens und Themen von Inklusion und Exklusion, die von seinen zahlreichen internationalen Erfahrungen in der Feldforschung, als Tutor und von Vortrags- und Vernetzungsreisen nach Afrika, Asien, Lateinamerika, Indien usw. gespeist sind. Seine Forschungsaktivitäten beziehen sich auf Schultheorien, Konzepte zum interkulturellen und globalen Lernen, zum Umgang mit Differenz im Umfeld von Lehrerinnen- und Lehrerbildung.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband wird vom Herausgeber eingeleitet (siehe oben) und vereint 12 Beiträge, die nachfolgend dargestellt werden. Den Abschluss bilden „Angaben zu den Autor/innen“ (S. 191–192).
Den Band eröffnen zwei Beiträge des Herausgebers, Prof. Dr. Gregor Lang-Wojtasik, die sich inhaltlich ergänzen. Im ersten Aufsatz „Große Transformation von Gesellschaft und Mensch – differenztheoretische Überlegungen zum Weltkollektiv mit pädagogischem Interesse“ (S. 19–31) erkundet der Autor, warum sich Menschen überhaupt mit der „großen Transformation“ (S. 19) beschäftigen sollen. Mit Bezug auf die Forschung ergeben sich daraus zwei Fragen:
- Wie sieht die Welt aus, in der wir leben und welchen Rahmen bietet sie für die Transformation (Transformationsforschung)? und
- Wie sieht die Welt aus, in der wir zukünftig leben wollen und was heißt das für die Zukunftsfähigkeit (transformative Forschung)?
Zur Klärung des erziehungswissenschaftlich relevanten Transformationsbegriffs greift Lang-Wojtasik auf systemtheoretische Überlegungen zum Verständnis von Weltgesellschaft und philosophisch-anthropologische Überlegungen zur Weltgemeinschaft zurück und begreift sie als „funktionale Brillen“ (S. 22) der Erkenntnis von Welt, als „Einheit einer Differenz“ (S. 22) und „Bedingung der Möglichkeit“ (S. 22) von Mensch und Gesellschaft. Im Anschluss daran bestimmt der Verfasser die „Transformationsforschung in der Weltgesellschaft“ (S. 24), die keine sicheren räumlichen, zeitlichen, sachlichen und sozialen Orientierungen mehr bieten kann, und die „Transformative Forschung für die Weltgemeinschaft“ (S. 25), für die ziemlich genau definiert ist, was sie für das Überleben braucht, was aber gesellschaftlich nicht durchgesetzt werden kann, sondern nur im gemeinschaftlichen Handeln erreichbar bleibt. Mit dem Begriff des Weltkollektivs konstruiert Lang-Wojtasik die Einheit der Differenz von Weltgesellschaft („Kommunikationsofferten als Optionen des Verstehens und Handelns“ (S. 27) im Abstrakten) und der Weltgemeinschaft („sprachliche Konkretionsofferten der Verständigung und des Tuns“ (S. 27) im Konkreten) und den darin enthaltenen Spannungen. Transformationsforschung fokussiert sich auf die Weltgesellschaft und formuliert „deskriptiv kognitive Erwartungen“ (S. 28), transformative Forschung auf die Weltgemeinschaft und setzt auf normativ legitimierte Hoffnungen (S. 28).
Der zweite Beitrag „Große Transformation, Bildung und Lernen – Chancen und Grenzen einer Global Citizenship Education“ (S. 33–49) knüpft an die grundlegenden Theoreme an und frägt nach den Aufgaben der GCED, die sich in der Differenz von transformativer Bildung (Welches Lernen braucht es für den Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?) und der Transformationsbildung (Welche Einrichtungen braucht es, um eine Bildung für alle zu ermöglichen?) manifestiert. Transformative Bildung findet statt, wenn Nachhaltigkeit durch Bildung und Lernen vorangebracht werden, was in Ansätzen des globalen Lernens realisiert wird. Transformationsbildung als institutionalisierte Möglichkeit zur Bildung, kann organisiert werden in Schule und Bildung als Eintrittskarte ins Leben. Angesichts der Einheit in der Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (siehe oben), ergibt sich nach Lang-Wojtasik eine Spannung zwischen „normativem Pragmatismus“ (S. 39), weil globales Lernen in vielfältiger Weise stattfindet und transformative Bildung anregt, und „pragmatischem Pessimismus“ (S. 39), weil die Zugänglichkeit zur Bildung für viele Menschen nicht gesichert ist. Im nächsten Schritt überprüft der Autor, inwieweit GCED einen kulturellen Wandel zum Weltkollektiv befördern kann und erkennt drei Herausforderungen: 1) Die Inklusion von in vielerlei Weise heterogenen Menschen in Bildungseinrichtungen über weltbürgerliche Erziehung als global literacy, 2) GCED als Kombination querschnittlicher Bildungskonzepte, um die Lernwege anschlussfähig zu machen und 3) die Kluft zwischen Wissen und Handeln als pädagogische Aporie zu akzeptieren. Mit professionalisierten „Change Agents“ (S. 44) glaubt der Verfasser „machbare Wege der Transformation durch Bildung“ (S. 44) initiieren zu können, ist sich der Grenzen aber stets gewahr.
Dr. Till Bastian, Arzt und Vorsitzender der Association of World Citizens (AWC) in Deutschland betrachtet das „Anthropozän als Transformation“ und zeigt „Optionen und Notwendigkeit eines Weltbürgertums“ (S. 51–61) auf. Beginnend mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam, über Stefan Zweig und Sigmund Freud macht der Autor klar, dass die emotionalen Bindungen zwischen den Menschen in Friedenszeiten sicherstellten, Kriege zu verhindern. Dieses Empfinden von Weltbürgertum sei vielfach verhindert worden (z.B. durch Rassismus, Nationalismus, sozioökonomische Ungleichheit zwischen globalem Norden und Süden, einseitiger Ressourcenverbrauch u.a.m.). Bastian verdeutlicht an Hand des Tuvalu-Problems (Untergang des Inselstaates aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels) und des rechtlich nicht verankerten und individuell nicht einklagbaren ökologisch orientierten Weltbürgerrechts, dass kein Staat dazu gezwungen werden kann, umweltverträglich zu handeln und niemand seinen 2010 bei der UN verbürgten Anspruch auf sauberes Trinkwasser einklagen könne. Damit werde den Menschen das Recht genommen, Rechte zu haben, weil es nicht möglich sei, sich gegen Ausbeutung und Zerstörung von Lebensgrundlagen zu wehren. Zugleich wollten die Staaten des Nordens die Menschen, die sich dessentwegen auf die Flucht begeben, nicht haben. Das Verursacher-Prinzip werde ignoriert, der Friede dadurch gefährdet. Der Autor rekurriert auf Kant und dessen drittes Friedenstraktat, in welchem die Menschheit (an sich und in der Person) niemals nur Mittel, sondern auch als Zweck gesehen werde. Dafür brauche es Ehrfurcht und Demut, die auch für das Empfinden von Recht und Unrecht im Zusammenleben nötig und Grundlage für eine globales Gemeinschaftsgefühl seien. Alle Fakten zu den Folgen der Naturzerstörung und den daraus resultierenden Folgen seien seit 30 Jahren bekannt. Die Folgen seien nicht zu eliminieren, es gäbe aber Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, statt sie zu ignorieren.
Im Aufsatz „Transformatives Globales Lernen – eine Grundlegung in didaktischer Absicht“ (S. 63–74) begründet Prof. Dr. Annette Scheunpflug, Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Pädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, inwiefern Bildung stets Transformation enthält und transformatorisches Potenzial in Richtung Partizipation und Gesellschaftsentwicklung auslöst. Die Verfasserin legt das Hauptgutachten „Welt im Wandel“ des WBGU von 2011 zugrunde, in dem die „großen Themen“ artikuliert sind, die eine „weltbürgerliche Bildung“ adressieren wird. Angesichts der Komplexität der Materie in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Perspektive stellt Scheunpflug einige didaktische Anforderungen transformativen globalen Lernens im Einzelnen dar: Das Überwältigungsverbot, die Wissensgenerierung, das In-Beziehung-Setzen und die Selbstzuordnungskompetenz, die Entscheidungsunterstützung und die didaktische Planung.
Über „Transformative Bildung im Kontext Schule“ (S. 75–88) berichtet Prof. Dr. Claudia Bergmüller, Professorin für Erziehungswissenschaften/Schultheorie und historische Bildungsforschung an der PH Weingarten. Obwohl in Bildungsplänen verankert sei, Schüler/innen zur nachhaltigen Entwicklung zu befähigen, sei in der Praxis „Enttäuschung spürbar“ (S. 76), weil sich daraus kein entsprechendes Verhalten ableiten lasse. Die von der Verfasserin präsentierten Ergebnisse entstanden aus der Analyse von sehr verschiedenen Lehr-Lernsettings zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (AG, Kampagne, Lehrervortrag), die in Einzel- wie Gruppeninterviews, mit Lehrkräften und unter Beteiligung von Nicht-Regierungsorganisationen entstanden sind. Mit Bezug auf die Lehrmodi lässt sich feststellen, dass sowohl eine rein inhaltlich ausgerichtete Vermittlung als auch eine normativ-moralische Ansprache der Schüler/innen wenig transformative Wirkung erzeugen, sondern eher abschrecken. Was die Umsetzung des Wissens auf das Handeln anbetrifft, so berichtet Bergmüller von drei Engagement-Modi bei den Schüler/innen. Im Modus „Wissen und Handeln“ sind Berichte zusammengefasst, die infolge des Unterrichts zu Veränderungen im Verhalten geführt haben. Der Modus „Wissen und Verdrängen“ weist auf Wissen hin, das aber für das persönliche Verhalten nicht enaktiert wird. Der Modus „Wissen und anderen davon erzählen“ beinhaltet den Impetus, das eigene Wissen weiter zu tragen, tätig zu werden und andere mitzunehmen. Die Autorin schlussfolgert, dass schulische entwicklungspolitische Bildungsarbeit dann gefördert werden kann, wenn der gemeinsame Handlungsrahmen der Schule als Erprobungsraum genutzt wird und das Wertelernen in die Sozialität eingebunden ist.
Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Professorin für Interkulturelle Bildung im Lehrgebiet Allgemeine Pädagogik und Dr. Dita Vogel, Senior Researcher am Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung der Universität Bremen greifen in ihrem Aufsatz „Transnationale Mobilität als Transformationsanlass für Schulen – ein professionskritischer Beitrag aus der Interkulturellen Bildung“ (S. 89–105) ein schultheoretisch und organisationspädagogisch nur wenig beachtetes Thema auf. Zur besseren Verortung skizzieren die Autorinnen zunächst die Entwicklung von der Ausländerpädagogik für ausländische Kinder von Arbeitsmigrant/innen mit sicherer Rückkehroption hin zur Interkulturellen Bildung für Lehrer/innen, deren Intention darauf gerichtet ist, die Unterschiedlichkeit der kulturellen Prägung zu verstehen und für das soziale Lernen grundzulegen. Im Anschluss daran kam es zu einer Ausdifferenzierung, aus der zum einen Vielfalt und Differenz als Basis einer Diversity Education und einer Anpassung schulischer Bedingungen hervorging, zum anderen die Migrationspädagogik, die migrationsbedingten Ungleichheiten und Diskriminierungen mit in den Blick nahm und zum dritten ein Strang entstand, der den (engen) Kulturbegriff kritisch reflektierte und den Fokus auf eine „Bildung für eine Einwanderungsgesellschaft“ (S. 95) legte. Schulen, so die Autorinnen, sind mit transnationaler Migration konfrontiert, weil ihnen Schüler/innen anvertraut werden, deren Zukunft nicht in Deutschland liege. Anhand zweier Beispiele von Kindern mit Mehrfachmigration, die für eine begrenzte Zeit in Deutschland beschult wurden, zeigen sie auf, welche Chancen entstehen können, aber auch, welche vergeben werden, weil nicht der Inhalt, sondern die Sprache an erster Stelle stehe. Mit zunehmender Mehrfachmigration und einer als Selbstverständlichkeit ausgegebenen Offenheit, im Ausland arbeiten oder leben zu wollen, müssten sich Bildungspolitik und die Institution Schule darauf besinnen, Wissen und Können so auszurichten, dass sie „die Normalitätsannahme des Nationalen“ (S. 102) hinterfragen und junge Menschen zu erziehen, sich als Teil einer Weltgesellschaft zu sehen. In dieser Forderung steckt in der Tat viel Transformationspotenzial.
Dr. Heidi Grobbauer, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Kommunikation, Entwicklung und dialogische Bildung (KommEnt) in Salzburg und Mitglied des Leitungsteams des Universitätslehrgangs GCED, erklärt im Beitrag „Global Citizenship Education als transformative politische Bildung zwischen Theorie und Praxis“ (S. 107–120) das Zustandekommen und die konzeptionelle Weiterentwicklung des Masterstudiengangs, der federführend von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt in Kooperation mit anderen Hochschulen und kommEnt durchgeführt wird. Ausgewiesenes Ziel ist es, Lehrende an Schulen, Ausbildungsinstitutionen und Hochschulen dafür zu gewinnen, selbst Maßnahmen zur GCED zu entwickeln. Dies entspricht dem Train-the-Trainer-Konzept, das dem Lehrgang zugrunde liegt und womit Multiplikator/innen für die Schul- und Bildungspraxis gewonnen werden sollen. Die Autorin legt im Anschluss die „Grundlagen von GCED im Lehrgangskonzept“ (S. 110) dar: Es ist erstens der „integrative Ansatz“, der den Schirm bildet für die verschiedenen in GCED eingeflossenen pädagogischen Konzepte. Zweitens versteht sich GCED als historisch-politisches Lernen mit kritisch-postkolonialer Ausrichtung, in dem der Nationalismus kritisch betrachtet und Globalisierungsbewusstsein geschaffen wird, das trotz des weiten Gegenstandsbereichs Wissenschaft und auch außer-akademisches Engagement in sich vereinen kann. Der dritte Punkt besteht darin, die Politikwissenschaft als primäre Bezugsdisziplin heranzuziehen, auf dem Global Citizenship basiert und GCED als politische Bildung definiert. Dies äußert sich in gesellschaftstheoretischen Debatten zur „Transformation von Zugehörigkeit und demokratischer Teilhabe“ (S. 115) und zur „sozialökologischen Transformation“ (S. 117), die innerhalb von GCED geführt werden müssen.
„Transformatorische Menschenrechtsbildung im Lichte universalistischer Ethik: eine Antwort auf Neonationalismus und Ethnopluralismus“ (S. 121–132) beleuchtet Dr. Constanze Berndt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung der Universität Rostock. Die Autorin legt offen, dass institutionalisierte Erziehung und Bildung per se auf der Basis der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland politisch-normativ und die Fragen darauf zu richten seien, welche Paradigmen, Leitbilder und Ziele verfolgt und reflektiert würden und wie sie sich „didaktisch operationalisieren“ (S. 122) ließen. Im ersten Schritt leitet sie die „Universalität des Menschseins“ (S. 122) historisch her und skizziert „aktuelle Diskurslinien“ zur „Unhintergehbarkeit universalistischer Prinzipien“ (S. 125), um Menschenrechte als „Fundament für jede Form der Toleranz und Akzeptanz von Verschiedenheit“ (S. 126) zu legitimieren. Dem Universalismus stellt sie den „Enthnopluralismus“, der von nationalistischen Neuen Rechten häufig referenziert wird, als eine „vergangenheitsromantische Narration ohne Zukunft“ (S. 126) gegenüber und entlarvt die hierarchische Überordnung des Volkes und die Ausblendung des Menschen. Aus menschenrechtstheoretischer und subjektorientierter Perspektive seien nach Ansicht von Berndt sowohl in der Bildungsorganisation als auch in der Didaktik Defizite zu erkennen. Bildungsinstitutionen müssten globales Lernen und Menschenrechtspädagogik viel stärker aufgreifen und sich auf Basis der subjektorientierten Didaktik dem expansiven Lernen zuwenden. Aus dieser Verbindung heraus könnte Menschenrechtsbildung transformatorisch werden und zwar subjekt- und gesellschaftsverändernd, wie dies aktuell an Fridays for Future sichtbar sei.
Prof. Dr. Thomas Nauerth, apl. Professor für Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück, widmet sich dem Thema „Frieden als transformierendes und bildendes Thema zukunftsfähigen interreligiösen Dialogs“ (S. 133–146). Angesichts des Missbrauchs von Religionen als Anlass für Konflikte und massiven Hasses gegenüber Andersgläubigen plädiert der Verfasser dafür, im Gespräch miteinander „religiöse Überzeugungen“ (S. 134) auszutauschen und sich so gegenseitig zu achten, statt religiös gelenkten Funktionären das Feld zu überlassen. Ausgehend vom Weltreligionstreffen von Assisi im Jahr 1986 zeigt Nauerth auf, welche „transformierende Kraft“ (S. 134) von den Treffen ausging, insbesondere was die interreligiöse Bildung anbetrifft. Von Assisi könne gelernt werden, dass sich „Frieden als Leitperspektive“ des interreligiösen Dialogs eigne. Mit der „Erklärung zum Weltethos“ sei ein vorläufiger Höhepunkt erreicht, auf deren Basis eine „weltgesellschaftliche ethische Alphabetisierung“ (S. 139) aufzubauen sei und die sich ebenso für jede GCED eigne. Abschließend verdeutlicht der Verfasser anhand ausgewählter Beispiele seine These, dass der interreligiöse Dialog seine Kraft entfalten könne, wenn er lokalen Bezug aufweise und zu einer Graswurzelarbeit werde.
Zum Arbeits- und Forschungsgebiet von Prof. Dr. Norbert Frieters-Reermann von der Katholischen Hochschule NRW, gehört seit vielen Jahren die Friedens- und Konfliktpädagogik und die Soziale Arbeit im Kontext von Flucht und Migration. In seinem Beitrag „Frieden durch Friedensbildung – Grenzen und Chancen erhofften Transformationspotenzials“ (S. 147–160) setzt er sich kritisch mit der „euphorischen gegenwärtigen Wertschätzung gegenüber der Friedenspädagogik“ (S. 147) auseinander, in dem er die inneren und äußeren Risiken benennt und danach mithilfe zweier Denkanstöße das „Transformationspotenzial friedenspädagogischer Interventionen“ (S. 149) stärken möchte. Im ersten Impuls differenziert er das von Galtung entworfene Modell der direkten (offenen, personellen) und indirekten (verdeckten, strukturellen und kulturellen) Gewalt, sodass jede Dimension mit zwei Ausprägungen vertreten ist: Personale als intrapersonal-individuelle und interpersonal-interaktive Gewalt, strukturelle als strukturell-politische und institutionell-organisationsbezogene Gewalt, kulturelle als diskursiv-kulturelle und symbolisch-repräsentative Gewalt. Exemplarisch zeigt der Autor anhand eigener Forschung „am Beispiel der Exklusion von Menschen mit Fluchterfahrung“ (S. 153) die sechs Analyseebenen auf und betont, wie notwendig es ist, friedenspädagogische Lern -und Bildungsprozesse breit anzulegen. Der zweite Impuls zielt darauf, angesichts neuer theoretischer Perspektiven (z.B. der gewaltfreien Kommunikation, systemisch-konstruktivistischer, neurobiologischer und bindungstheoretischer Provenienz) die aus den 1990er Jahren stammenden Facetten einer Friedenskompetenz (knowledge, skills, attitudes and values) anzureichern. Frieters-Reermann beschreibt sieben Kompetenzbereiche der Friedenspädagogik (Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Bewerten, Kommunizieren, Interagieren, Handeln, Reflektieren), die zirkulär zusammenhängen und sich nicht auf den „kausal-linearen Dreiklang von Sehen, Urteilen und Handeln“ (S. 158) reduzieren lassen, aber neues Transformationspotenzial für die Friedenspädagogik enthalten.
Juniorprofessorin Dr. Ilka Koppel und Dr. Ralf Schieferdecker von der Pädagogischen Hochschule Weingarten stellen mit ihrem Aufsatz „Alphabetisierung als Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe und Transformation“ (S. 161–175) „systematische Betrachtungen zum Schriftspracherwerb“ (S. 161) an. Nachdem die Autorin und der Autor geklärt haben, wie sie Transformation in Relation zu Evolution und Revolution verorten, gehen sie der Frage nach, „welche Rolle der Literalisierungsgrad bei gesellschaftlichen Transformationsprozessen“ (S. 162) spielt. Literalität engen Koppel und Schieferdecker auf die schriftsprachbezogenen Fähigkeiten von Menschen ein, welche Ziel von Grundbildung sind und Voraussetzung, um Teilhabe zu ermöglichen. Zur Operationalisierung von gesellschaftlicher Teilhabe greifen sie auf den Ansatz der Verwirklichungschancen zurück, der eine innere (im Individuum verankerte) und eine äußere (strukturelle) Perspektive unterscheidet, wobei sich die/der Verfasser/in auf die individuelle fokussieren. Im Folgenden überprüfen sie nachgewiesene Zusammenhänge zwischen Literalität und materiellen, kulturellen, sozialen und politischen Verwirklichungschancen. Trotz vorhandener direkter Zusammenhänge zwischen Literalität und den einzelnen Dimensionen, überlagern Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen direkte Effekte bzw. kumulieren. Koppel und Schieferdecker halten sich mit der Behauptung linearer Zusammenhänge zurück, wenngleich „Menschen mit erkennbar begrenzten Verwirklichungschancen“ Gefahr laufen „sich bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen weniger stark einbringen zu können“ (S. 170) und eventuell sogar affirmativ agieren. Aufgrund empirisch zu gering beweisbaren Relationen regen sie an, die Rolle von Literalität, gerade in einer von Social Media geprägten (Schrift-)Sprache mittels weiterer Forschung (u.a. auch partizipatorischer Art) zu untersuchen.
Im Aufsatz „Global Citizenship Education als Transformationsauftrag für die Erwachsenenbildung“ (S. 177–189) von Prof. Dr. Ulrich Klemm, Honorarprofessor für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität Augsburg, wird der „Diskurskontext“ aufgespannt, in dem in immer kürzer werdenden Zyklen Anforderungen aus den Zeitdiagnosen an die Erwachsenenbildung gestellt werden, für die sie nicht ausgestattet ist. Dabei beinhalte die Erwachsenenbildung nach Angaben des Autors mindestens fünf für transformatives Lernen relevante Leitkonzepte der vergangenen 40 Jahre, die a) im lebenslangen, b) im selbstgesteuerten, c) im informellen, d) im bürgerschaftlichen und e) im globalen Lernen zu sehen und für GCED anschlussfähig seien. Jedoch, so seine Analyse, habe sich u.a. aus der strukturellen Verfasstheit der Erwachsenenbildung daraus weder theoretisch noch praktisch eine Gesamtkonzeption von GCED entwickeln können. Als „transformatorische Diskursdimensionen“ (S. 185) erachtet der Autor die institutionelle, die personale, die didaktische, die rechtliche und finanzielle sowie die inhaltliche Dimension, sodass GCED eine „multiperspektivische pädagogische Suchbewegung“ (S. 187) werden könne, die die Erwachsenenbildung in der Weltgesellschaft zu „einer Dienstleistung für eine globale Daseinsvorsorge“ (S. 186) in einem „fluiden Globe“ (S. 186) werden lassen könne.
Diskussion
Der Sammelband soll nach dem Willen des Herausgebers von den Transformationsfeldern des WBGU Gutachtens (Transformationsforschung und -bildung, transformative Forschung und Bildung) implizit oder explizit geleitet sein. Trotz der Komplexität der Materie und des Vorhabens, ist es bei der thematischen Breite der einzelnen Beiträge sehr gut gelungen, den Bezug zur Intention jeweils mit mindestens einem Aspekt herzustellen und so den roten Faden, den der Herausgeber in seiner Einleitung und den ersten beiden systematischen Aufsätzen liefert, zielgerichtet zu verfolgen, was auch einer starken kompositorischen Leistung zu verdanken ist, wie die einleitende thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 15) beweist. Positiv ist herauszuheben, dass trotz der erdrückenden Fakten, welche die Ausgangslage kennzeichnen, in den einzelnen Beiträgen die Optionen einer nicht immer gleich gefassten GCED sehr realistisch umrissen werden, sie weder omnipotent noch resignativ, dafür aber kritisch daherkommt, und viele Anregungen für die Gemeinschaft und die Gesellschaft enthält, sich der Transformationen zu stellen.
Fazit
Der Sammelband ist aufgrund der Brisanz und Aktualität für Professionsvertreter/innen aller pädagogischen Berufe, für interessierte Bürger/innen und politisch Verantwortliche sehr zu empfehlen. Die Lektüre setzt Offenheit für erklärende Hintergründe voraus und bietet deshalb Fachwissenschaftler/innen viele Denkanstöße. Die einzelnen Beiträge des Readers sind unabhängig voneinander und erlauben der Leserin und dem Leser, sich je nach Interesse zu bedienen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 74 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 23.01.2020 zu:
Gregor Lang-Wojtasik (Hrsg.): Bildung für eine Welt in Transformation. Global Citizenship Education als Chance für die Weltgesellschaft. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2019.
ISBN 978-3-8474-2284-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26342.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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