Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen
Rezensiert von Marian Pradella, 03.02.2020
Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
305 Seiten.
ISBN 978-3-518-12735-3.
D: 14,00 EUR,
A: 14,40 EUR,
CH: 20,90 sFr.
Reihe: edition suhrkamp - 2735.
Thema
In seinem Buch „Das Ende der Illusionen“ betrachtet Andreas Reckwitz in fünf Aufsätzen verschiedene Aspekte eines diagnostizierten gesellschaftlichen Strukturwandels innerhalb der Moderne. Grundlegend verläuft dieser Strukturwandel von einer industriellen Moderne – welche u.a. mit den Schlagwörtern der Rationalisierung, der Technisierung oder des Allgemeinen („Normalität“ und Gleichförmigkeit) beschrieben werden kann – zu einer Spätmoderne, innerhalb welcher die kulturelle Logik des Besonderen an Bedeutung gewinnt und das Singuläre (Prämierung des Einzigartigen) als dominantes kulturelles Paradigma erscheint. Das Buch knüpft somit – sowohl begrifflich als auch thematisch – an die im Jahr 2017 erschienene Studie „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Reckwitz an, geht jedoch über sie hinaus, indem nun diverse Aspekte im Zusammenhang mit der Singularisierungsthese in breiterer Form behandelt und weitergedacht werden. Den Aufsätzen des Buches liegt die Diagnose zugrunde, dass der Glaube an die liberale Großerzählung eines fortlaufenden gesellschaftlichen Fortschrittes im Zuge dieses Strukturwandels der Moderne zunehmend von einer Desillusionierung abgelöst wird (bspw. im Zuge des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien, von Finanzkrisen oder terroristischen Anschlägen).
Autor
Andreas Reckwitz ist Professor für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Seine Veröffentlichungen umfassen u.a. „Die Transformation der Kulturtheorien“ (2000), „Das hybride Subjekt“ (2006) und „Die Erfindung der Kreativität“ (2012). Sein Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) erhielt sowohl innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses (siehe bspw. das „Reckwitz-Buchforum“ auf Soziopolis) als auch in den Feuilletons der deutschen Zeitungen eine große Aufmerksamkeit und wurde zudem 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. 2019 wurde Reckwitz mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.
Aufbau
Das Buch ist – neben der Einleitung – in fünf Aufsätze eingeteilt:
- Kulturkonflikte als Kampf um die Kultur: Hyperkultur und Kulturessenzialismus
- Von der nivellierten Klassengesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft: neue Mittelklasse, alte Mittelklasse, prekäre Klasse
- Jenseits der Industriegesellschaft: Polarisierter Postindustrialismus und kognitiv-kultureller Kapitalismus
- Erschöpfte Selbstverwirklichung: Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien seiner Emotionskultur
- Die Krise des Liberalismus und die Suche nach dem neuen politischen Paradigma: Vom apertistischen zum einbettenden Liberalismus
Inhalt
Das erste Kapitel „Kulturkonflikte als Kampf um die Kultur: Hyperkultur und Kulturessenzialismus“ bietet eine erweiterte Version eines bereits im Jahr 2016 erschienenen Aufsatzes von Reckwitz. Ausgangspunkt hierbei ist eine – in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ ausführlich diskutierte – diagnostizierte Kulturalisierung des Sozialen. Gegen Samuel P. Huntingtons Hypothese eines kommenden „Kampfes der Kulturen“ im Nachgang des Ost-West-Konflikts, sei jedoch vielmehr entscheidend, dass es sich dabei um einen noch grundlegenderen Konflikt handele, nämlich um einen Konflikt um das Verständnis von Kultur an sich. Reckwitz beschreibt dies im Folgenden als einen Kampf zwischen zwei konträren Kulturalisierungsregimes, innerhalb derer jeweils ein grundlegend anderes Verständnis davon hervorgebracht wird, was Kultur eigentlich bedeutet. Reckwitz skizziert zunächst die Verwendungsweisen des Begriffes der „Kultur“ im wissenschaftlichen Diskurs und stellt diesem ein eigenes, „starkes“ Kulturverständnis entgegen: für Reckwitz sind Kultur und Wert eng verbunden und Kultur ist das, was mit Wert aufgeladen bzw. valorisiert wird. Als Gegensatz hierzu erscheint das Rationale, welches vielmehr von einer Zweck-Mittel-Beziehung beherrscht sei. Während die industrielle Moderne zentral von jener Rationalität geleitet worden sei, habe sich innerhalb des Strukturwandels der Moderne eine umfassende Kulturalisierung des Gesellschaftlichen ergeben: während das Zweckrationale an Bedeutung verliert, gewinnen Prozesse der Valorisierung an Beudeutung. Entscheidend ist nun, dass diese Kulturalisierung in zwei konträren Formen erscheint, welche im Folgenden gegenübergestellt werden:
- auf der einen Seite die Hyperkultur,
- auf der anderen Seite der Kulturessenzialismus.
Die Hyperkultur steht dabei in einem engen Zusammenhang mit ihrer primären Trägergruppe, der (neuen) akademischen Mittelschicht, die innerhalb der Gesellschaft der Singularitäten als hegemonial erscheint. Kultur wird hier als eine globale Ressource erfahren, welche den Individuen potenziell zur Verfügung steht, um ihr Streben nach Selbstverwirklichung und Besonderheit zu erfüllen. Diesem kosmopolitischen Verständnis von Kultur steht der Kulturessenzialismus konträr gegenüber. Während innerhalb der Hyperkultur das Individuum im Mittelpunkt steht, ist es hier vielmehr ein Kollektiv in seiner Gesamtheit, das mit Wert aufgeladen wird. Dabei wird eine strikte Grenze zwischen Wertvollen und Wertlosen aufgebaut, d.h. die Grenzen zwischen einem als homogen gedachten Innen (wertvoll) und einem Außen (wertlos) stabil gehalten. Im Folgenden entwirft Reckwitz ein vierteiliges Modell der möglichen Beziehungen zwischen diesen beiden identifizierten Formen der Kulturalisierung. Vollständig neu im Vergleich zu der vorherigen Version des Aufsatzes aus dem Jahr 2016 ist der Schlussteil des Kapitels. Reckwitz identifiziert hier verschiedene Schwachstellen beider Kulturalisierungsregimes und fragt nach einer möglichen dritten Form der Kulturalisierung, die diesen Schwachstellen entgegenwirken könnte. Zentraler Kritikpunkt ist, dass sowohl die Hyperkultur als auch der Kulturessenzialismus auf das Singuläre bezogen sind, d.h. bspw. auf die Einzigartigkeit kultureller Güter in der Hyperkultur oder auf die Einzigartigkeit eines bestimmten Kollektivs im Kulturessenzialismus. Beiden stellt Reckwitz nun als dritte (und normativ begrüßte) Möglichkeit der Kulturalisierung das Kulturuniversale entgegen, d.h. eine „Kulturalisierung, die sich auf ein Kollektiv ausrichtet und zugleich nichtessenzialistisch ist [H.i.O.]“ (S. 54). Dies bedeutet nun jedoch nichts weniger, als dass das Allgemeine (welches in der Gesellschaft der Singularitäten der Spätmoderne fundamental an Bedeutung verloren hat) nun erneut als zentraler Bezugspunkt erscheinen müsste, ohne dabei jedoch einfach eine (unmögliche) Rückkehr zu einer „geordneten“ Industriemoderne im Blick zu haben. Reckwitz plädiert vielmehr für einen neuen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess darüber, was für alle – innerhalb eines bestimmten Kollektivs – gleichermaßen als wertvoll gelten kann und sollte. Dabei spielt die Praxis des „doing universality“ eine entscheidende Rolle, d.h. eine nie abgeschlossene Arbeit an der Hervorbringung des Universalen sowie der Diskurs um das, was dieses Universale beinhaltet.
Das zweite Kapitel „Von der nivellierten Klassengesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft: neue Mittelklasse, alte Mittelklasse, prekäre Klasse“ widmet sich dem Wandel der Sozialstruktur innerhalb der Spätmoderne, insbesondere seit den 1990er Jahren. Während in den Sozialwissenschaften eine solche Frage nach der Sozialstruktur klassischerweise mit ökonomischen Faktoren zu erklären versucht wird, sieht es Reckwitz als notwendig an, hierüber hinauszugehen. Zwar wendet auch er sich im Folgenden der Frage der gesellschaftlichen Klassen zu, grenzt sich jedoch von einem Marxschen Verständnis ab. Vielmehr seien „Klassen“ lediglich durch ein Verständnis des engen Zusammenspiels von kulturellen, ökonomischen und politischen Aspekten zu ergründen: u.a. in Anlehnung an die Studien von Pierre Bourdieu und dessen Modell der Kapitalsorten soll daher ein multidimensionales Bild der Klasse entworfen werden. Von diesen Vorüberlegungen zum Begriff der Klasse ausgehend analysiert Reckwitz die Entwicklung der Sozialstruktur: die nivellierte Mittelstandsgesellschaft (Helmut Schelsky) als „Gesellschaft der Gleichen“ (Pierre Rosanvallon) konnte bis in die 1980er Jahre wirkmächtig werden, wurde im Folgenden jedoch schrittweise von einer neuen Drei-Klassen-Gesellschaft abgelöst. Diese neue Klassengesellschaft teilt sich auf in die „neue (akademische) Mittelklasse“, eine „alte Mittelklasse“ sowie eine „prekäre Klasse“ (hinzu kommt eine kleine „Oberklasse“). Während in den westlichen Gesellschaften innerhalb der industriellen Moderne eine relative Gleichheit der Sozialstruktur zu verzeichnen war, sei die heutige vielmehr gekennzeichnet von einem nebeneinander von gleichzeitigen Aufstiegs- und Abstiegsbewegungen (Metapher des Paternosteraufzugs). Diese Gleichzeitigkeit nimmt Reckwitz im Folgenden zentral in den Blick und führt die neue Polarisierung auf diverse Prozesse im Zusammenhang mit der Postindustrialisierung, der Bildungsexpansion sowie des Liberalisierungsprozesses des Wertewandels zurück. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes widmet sich Reckwitz unter jeweils einer Unterüberschrift den Spezifitäten der Lebensführung der drei (bzw. vier) identifizierten Klassen.
Wie bereits in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ wird die neue Mittelklasse (oder: Akademikerklasse) als primäre Trägergruppe des Singularisierungsprozesses sowie der Hyperkultur identifiziert. Die alte Mittelklasse – welche in der industriellen Moderne noch die zentrale, allumfassende Mittelschicht darstellte – ist dagegen von einer weitreichenden Entvalorisierung betroffen: die Entwertung von mittleren Berufsabschlüssen oder auch die Sesshaftigkeit dieser Klasse stehen im Widerspruch zu der hegemonialen, hochgebildeten und kosmopolitischen neuen Mittelklasse. Nochmals intensiver betroffen von der kulturellen Entwertung ist die neue Unterklasse, wobei hier erschwerend hinzukommt, dass gleichzeitig eine eklatante sozial-ökonomische Deklassierung stattfindet (während es der alten Mittelklasse ökonomisch weiterhin verhältnismäßig gut geht). Während diese Klassen-Grundstruktur bereits in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ in ähnlicher Weise dargelegt wurde, geht Reckwitz im letzten Drittel des Aufsatzes deutlich darüber hinaus und zeigt auf, in welche Richtungen weitere Analysen mithilfe dieser ausgearbeiteten Struktur gehen könnten. Dies beinhaltet vor allem die Verknüpfung der Klassenstruktur mit weiteren gesellschaftlich relevanten Themenfeldern: so versucht Reckwitz die Auswirkungen der jeweiligen Spezifitäten der neuen Klassen der Spätmoderne in Bezug auf Fragen des Geschlechts, der Migration, der Stadt-Land-Differenz sowie der Milieudifferenzierung anzudeuten. Im letzten Fall schlägt Reckwitz beispielsweise eine Kombination seines eigenen Klassen-Ansatzes mit den Ergebnissen der SINUS-Studien (Soziokulturelle Milieus) vor, um somit die Heterogenitäten innerhalb der zunächst recht abstrakt skizzierten Klassenstruktur genauer in den Blick zu bekommen. Abschließend wird der Fokus auf die politischen Auswirkungen der neuen Klassengesellschaft gelegt sowie mögliche Szenarien einer weiteren Entwicklung der Sozialstruktur skizziert.
Das dritte Kapitel „Jenseits der Industriegesellschaft: Polarisierter Postindustrialismus und kognitiv-kultureller Kapitalismus“ betrachtet den Wandel des Kapitalismus von einer industriellen hin zu einer postindustriellen Ökonomie. Während die Industrieökonomie (Schlagwörter sind hier: Standardisierung, Massenproduktion, Routine- und Fließbandarbeit, Fordismus) nach dem Zweiten Weltkrieg dominant wurde, wird diese spätestens seit den 1990er Jahren radikal abgelöst von einer postindustriellen Spätmoderne, welche einerseits neue Polarisierungen hervorbringt, andererseits als ein kognitiv-kultureller Kapitalismus zu verstehen sei. Polarisiert ist der Postindustrialismus zu nennen, da er neue Spaltungen erzeugt: einerseits ermöglicht er den Aufstieg für jene Hochqualifizierten der neuen akademischen Mittelschicht, die oftmals im Bereich der Wissensarbeit verankert sind. Andererseits produziert er gleichzeitig einen starken Anstieg an Beschäftigten mit niedrigen Qualifikationen im Niedriglohnsektor, die oftmals einfache Dienstleistungen ausführen. Eine solche Polarisierung wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass jene Tätigkeiten, welche eine mittlere Qualifikation erfordern, tendenziell im Verschwinden begriffen sind: „Vielmehr existieren zwei diametral entgegengesetzte neue Arbeitswelten nebeneinander“ (S. 159). Während die hegemoniale neue Mittelklasse ihre Arbeit als einen integrativen Bestandteil ihres Lebens mit dem Streben nach Selbstverwirklichung ansieht (bzw. ansehen kann), ist die Arbeitswelt der einfachen Dienstleistungen maßgeblich geprägt vom Versuch der Aufrechterhaltung eines Normalzustandes oder grundlegender: der Aufrechterhaltung der eigenen Existenz. In Bezug auf das zweite zentrale Thema des dritten Aufsatzes – der Identifizierung eines „kognitiv-kulturellen Kapitalismus“ in der Spätmoderne – arbeitet Reckwitz einen Wandel der Tiefenstruktur des Ökonomischen heraus. „Kognitiv“ sei er zu nennen, da der Stellenwert des immateriellen Kapitals (bspw. Humankapital, Patente) eklatant ansteigt. „Kulturell“ sei er zu nennen, da nicht mehr so sehr funktionale Produkte im Vordergrund stehen, sondern vielmehr jene Güter (diese umfassen sowohl weiterhin materielle Produkte, jetzt aber auch Dienste, Ereignisse oder mediale Formate), die mit einem kulturellen Wert aufgeladen und valorisiert werden. Nicht mehr (nur) die Mittel-Zweck-Funktion von Gütern steht im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Anspruch auf Einzigartigkeit. Erneut bringt dies eklatante Polarisierungen mit sich, denn nur wenige Güter können den Status der Singularität erreichen und die Märkte der Spätmoderne erscheinen als „Winner-take-all“-Märkte.
Der vierte Aufsatz „Erschöpfte Selbstverwirklichung: Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien seiner Emotionskultur“ widmet sich den Folgen des Strukturwandels der Moderne auf der Ebene des Individuums. Im Zentrum steht ein zentrales Dilemma des spätmodernen Individuums: es sucht gleichzeitig nach radikaler Selbstverwirklichung und sozialem Erfolg. Diese widersprüchlichen Ziele produzieren jedoch oftmals Enttäuschungserfahrungen und stehen – so Reckwitz – in einem engen Zusammenhang mit dem Anstieg von Erschöpfungskrankheiten: „Die spätmoderne Kultur verspricht dem Individuum subjektive Erfüllung in einer Weise wie keine zuvor […] und lässt doch immer wieder diese subjektive Erfülltheit als ein Phantasma scheinen“ (S. 204). Zentral betrachtet Reckwitz im Folgenden den Wandel der Subjektkultur innerhalb der Moderne: während der industriellen Moderne folgte das Subjekt einem Leitbild der sozialen Anpassung, stand Emotionen skeptisch gegenüber und war von einem Ideal der Pflichterfüllung geprägt. Diese Subjektkultur wird etwa ab den 1970er Jahren abgelöst von einer, innerhalb welcher das Subjekt zeitgleich nach Selbstverwirklichung strebt (ein Ideal welches von Reckwitz auf die Romantik des 18. JH zurückgeführt wird) sowie das Ziel des hohen sozialen Status (welches auf ein „bürgerliches“ Ideal des 19. JH zurückgeführt wird) vor Augen hat. Reckwitz führt aus, dass eben diese Verknüpfung widersprüchlicher Ideale ein hohes Maß an Enttäuschungspotenzial mit sich bringt („spätmoderne Enttäuschungsproduktion“ (S. 221)). Weil positive Emotionen sowohl vom Subjekt permanent gesucht als auch gesellschaftlich eingefordert werden, werden – durch Enttäuschungen bei Nichterfüllung dieses Ideals – negative Emotionen systematisch produziert. Im letzten Teil des Aufsatzes betrachtet Reckwitz zwei mögliche Strategien des Umgangs mit dieser widersprüchlichen Selbstverwirklichungskultur: einerseits die Entwicklung einer Lebensform, welche spätmoderne Ambivalenzen reflektierend bearbeiten kann, andererseits die Distanzierung des Selbst von dem spätmodernen Fokus auf Emotionen insgesamt.
Ausgangspunkt des fünften Kapitels „Die Krise des Liberalismus und die Suche nach dem neuen politischen Paradigma: Vom apertistischen zum einbettenden Liberalismus“ ist die Feststellung einer Krise des westlichen Liberalismus, die sich bspw. im Zuge des Erstarkens von populistischen Bewegungen während des letzten Jahrzehnts zeigt. Reckwitz zweifelt im Folgenden an, dass diese Krise lediglich im Blickfeld der klassischen politischen Links-Rechts-Unterscheidung zu erklären ist. Vielmehr lenkt er den Blick auf eine Frage der politischen Paradigmen, welche er als tiefgehender und elementarer als die Rechts-Links-Unterscheidung ansieht. Diese politischen Paradigmen lösen sich geschichtlich ab, haben eine je spezifische Antwort auf die Frage nach der Strukturierung der gesellschaftlichen Ordnung und können stets sowohl in einer eher linken als auch einer eher rechten Ausprägung gedacht werden. Die Links-Rechts-Unterscheidung wird somit zu einer sekundären Kategorie erklärt (jedoch nicht grundsätzlich verabschiedet), vielmehr müssten primär die dahinterliegenden Paradigmenwechsel in den Blick genommen werden. Die Paradigmen stellen dabei jeweils eine spezifische historische Antwort auf gesellschaftliche Problemlagen dar und lösen sich – so Reckwitz – genau dann ab, wenn die Bearbeitung dieser Problemlagen (welche sowohl sozioökonomische, soziokulturelle und demokratiepraktische Probleme umfassen) durch das zuvor erfolgreiche Paradigma nicht mehr möglich ist.
Reckwitz nimmt im Folgenden zentral die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick und identifiziert zwei grundlegende Paradigmen:
Zunächst ein sozial-korporatistisches Paradigma, welches ab den 1970/80er Jahren durch das Paradigma des apertistischen Liberalismus abgelöst wird. Ersteres kann mit Reckwitz als ein Regulierungsparadigma beschrieben werden, das bspw. in den Wohlfahrtsstaaten „westlicher“ Gesellschaften dieser Zeit zum Ausdruck kommt. Der aktive Staat nimmt hierbei eine zentrale Rolle ein und wirkt maßgeblich als ordnende wirtschaftliche Steuerungsinstanz, er bändigt die Kräfte des Kapitalismus und wirkt verteilend. Das Regulierungsparadigma reagiert auf ein Problem des Mangels an sozialer Ordnung nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges und ist zunächst sehr erfolgreich. Jedoch gerät es ab den 1970er Jahren in eine elementare Krise, was von Reckwitz zentral durch eine erfolgte Überregulierung (erneut: sowohl auf sozioökonomischer, soziokultureller und demokratiepraktischer Ebene) erklärt wird. Während Regulierung zunächst als erfolgreiche Antwort auf gesellschaftliche Problemlagen erschien, wird eben diese Regulierung nun zu einem Problem, „das sowohl ökonomisch den Strukturwandel hemmt als auch kulturell die Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen beschneidet“ (S. 260). Das sozial-korporatistische Paradigma wird in Folge dieser Krise abgelöst vom Dynamisierungsparadigma des apertistischen Liberalismus, welches durch „die generelle Deregulierung, Dynamisierung und Öffnung zuvor fixierter gesellschaftlicher Strukturen“ (S. 262) gekennzeichnet sei.
Dieses neue Paradigma ist maßgeblich von zwei Prozessen gekennzeichnet:
- der Öffnung der Märkte (Neoliberalismus) sowie
- der Öffnung der Identitäten (Linksliberalismus),
welche nun beide – eigentlich selbst konflikthaft zueinander stehend – das vorherige Paradigma des Sozial-Korporatismus als gemeinsamen Feind erkennen, denn letzteres erscheint aus dieser neuen Perspektive als „rigide, freiheitsfeindlich und kollektivistisch“ (S. 264). Während das erste Paradigma stark auf den Nationalstaat beschränkt blieb, wird durch die doppelte Liberalisierung im zweiten Paradigma der Fokus auf ein Globales verlegt (bspw. internationale Finanzmärkte mit eingeschränkter nationaler Steuerung oder der Bedeutungsgewinn von internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen). Der Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien seit den 2010er Jahren wird von Reckwitz als Symptom dafür angesehen, dass das Dynamisierungsparadigma nun selbst wiederum in eine Krise geraten ist, welche auf einen Prozess der Überdynamisierung zurückzuführen sei und nun vielmehr der „Mangel an sozialer und staatlicher Einrahmung der ökonomischen Märkte“ (S. 272) als problematisch erscheint. Zwar antworte der Populismus tatsächlich mit einem Programm der Regulierung auf diese Überdynamisierung, jedoch nicht in Form einer gestaltenden Regulierung. Vielmehr werde hier mithilfe eines Programms der nationalistischen Schließung gearbeitet, welches jedoch lediglich einen vergangenen Zustand zurückersehnt anstatt die Probleme der Überdynamisierung tatsächlich zeitgemäß beantworten zu können. Dennoch müsse der heutigen Krise des apertistischen Liberalismus tatsächlich mit einer neuen Form der Regulierung begegnet werden, eine Form der Regulierung jedoch, die sich deutlich von den Zielen des Populismus unterscheidet.
Reckwitz beschreibt dieses potenziell aufkommende und normativ begrüßte Paradigma als einen „regulativen Liberalismus“, d.h. ein Paradigma welches erneut auf soziale Ordnungsbildung ausgerichtet ist. Dieses kann jedoch keine einfache Wiederholung des ersten Regulierungsparadigmas darstellen (da diverse Entwicklungen – bspw. im Zusammenhang mit der unwiderrufbaren Globalisierung oder der Heterogenität der Gesellschaften – nicht rückgängig zu machen sind), muss jedoch trotzdem auf den „Mangel an Ordnungsbildung gegenüber maximal freisetzenden Märkten, multinationalen Akteuren, individuellen Rechten und kulturellen Identitäten“ reagieren (S. 286). Hierfür müssten sowohl auf der Ebene des Staates als auch der Zivilgesellschaft neue regulierende Antworten gefunden werden, um somit ein neues gesellschaftliches Allgemeines innerhalb der Heterogenität der Spätmoderne zu etablieren. Abschließend skizziert Reckwitz diverse Problemfelder, in welchen der regulative Liberalismus eine Antwort liefern müsste, um sich tatsächlich als ein neues Paradigma zu etablieren (die Themenfelder lauten: Meritokratismus, Stadt-Land-Differenz, Infrastruktur, Grundregeln). Während sowohl das sozial-korporatistische Paradigma als auch das Paradigma des apertistischen Liberalismus von einer Idee des Fortschritts ausgingen, müsse im einbettenden Liberalismus das Fortschrittsideal revidiert werden. Ein naiver Glaube an Fortschritt und Steigerung sei heute nicht mehr haltbar.
Diskussion
Andreas Reckwitz knüpft mit den Aufsätzen aus „Das Ende der Illusionen“ an sein vorheriges Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ an und diverse Aspekte werden hier nun in ausführlicherer Form als zuvor behandelt und weitergedacht. Dennoch wird das Buch auch für diejenigen gut lesbar sein, die „Die Gesellschaft der Singularitäten“ bisher nicht gelesen haben. Jedes Kapitel aus „Das Ende der Illusionen“ bietet einen in sich abgeschlossenen Aufsatz und die jeweils notwendigen Begrifflichkeiten werden stets in klarer Sprache entfaltet. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig auch, dass den Lesern von „Die Gesellschaft der Singularitäten“ zunächst einiges bekannt vorkommen dürfte, jedoch ist das Buch weit davon entfernt, lediglich eine Wiederholung von bereits Gesagtem darzustellen. Dies lässt sich gut an den ersten zwei Kapiteln zeigen: während hier zunächst vieles bekannt erscheint, werden jeweils im letzten Teil der Aufsätze neue Gedanken präsentiert und der Fokus nochmals erweitert. Auffällig ist außerdem die deutlich stärkere Zuhilfenahme von Grafiken und Statistiken, was den theoretischen Ausführungen von Reckwitz nochmals ein stärkeres empirisches Fundament verleiht und insgesamt Veranschaulichend wirkt.
Insgesamt scheint für Reckwitz die Suche nach einem neuen Allgemeinen innerhalb einer spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten in diesem Buch deutlich stärker in den Vordergrund zu rücken, bspw. wären hier die Ausführungen zum Thema des „Kulturuniversalen“ zu nennen. Reckwitz plädiert hier für die Hervorbringung eines neuen Allgemeinen, sowohl im Kontrast zu der „normativen Leere“ der Hyperkultur (S. 54) als auch zu dem Freund-Feind-Denken des kollektivistischen Kulturessenzialismus. Das letzte Kapitel bietet mit dem Modell der politischen Paradigmen zudem eine völlig neue Perspektive, wobei erneut die Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Allgemeinen als zentrales Thema erscheint. Während die spätmodernen Gesellschaften in allen Aufsätzen des Buches als radikal polarisiert erscheinen, versucht Reckwitz Wege aufzuzeigen, wie diesem entgegenzuwirken wäre. Gerade dies stellt einen weiteren Unterschied zu „Die Gesellschaft der Singularitäten“ dar, denn Reckwitz wagt sich in „Das Ende der Illusionen“ in allen Aufsätzen deutlich stärker an eine Skizzierung möglicher Zukunftsszenarien sowie der Darlegung seiner eigenen normativen Position (die notwendige Etablierung eines neuen, nichtessenzialistischen Kollektiven bzw. eines neuen Allgemeinen). So leitet Reckwitz bspw. im letzten Aufsatz aus der Identifizierung eines Wechsels von Regulierungs- und Dynamisierungsparadigmen nach der Zeit des Zweiten Weltkriegs ab, dass das nächste politische Paradigma erneut ein Regulierungsparadigma sein wird: „Es ist zu vermuten, dass die auf dieses Paradigma folgende Regierungsweise erneut ein Regulierungsparadigma sein wird“ (S. 250). Zwar formuliert Reckwitz vorsichtig und schränkt bspw. ein, dass mit dieser Prognose keine „zyklische Entwicklung unterstellt werden soll“ (S. 286), dennoch wäre zu fragen, ob der „einbettende Liberalismus“ tatsächlich die wahrscheinlichste Antwort auf die spätmoderne Polarisierung sein wird. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass die Analysen von Reckwitz innerhalb der Moderne angesiedelt sind und kein Bruch mit der Moderne an sich erwartet wird (vgl. die Rezension von Ulrich Bröckling auf Soziopolis), denn ein solcher Bruch würde nochmals ganz andere Szenarien – jenseits von Dynamisierung und Regulierung – erwartbar machen. Dennoch, gerade dieser Blick in die Zukunft macht das Buch höchst interessant, gleichzeitig erscheint dieses Wagnis teilweise überraschend. So legt Reckwitz an anderen Stellen des Buches selbst dar, dass sich die Soziologie mit Prognosen eigentlich sehr schwer tut (S. 130) oder stellt in Bezug auf die Entwicklung der westlichen Ökonomie fest, „dass es sich hierbei um einen der seltenen Fälle handelt, in denen Sozialwissenschaftler mit ihren Prognosen richtiggelegen haben“ (S. 147). Es bleibt abzuwarten, ob die eigenen Prognosen von Reckwitz einen weiteren dieser seltenen richtigen Fälle darstellen können wird.
Interessant wäre zudem die Frage nach dem Zusammenhang der neuen Mitteklasse sowie deren Hyperkultur mit dem normativen Ziel einer Etablierung eines neuen Kulturuniversalen. So erscheint es widersprüchlich, dass der Hyperkultur (und damit auch deren Trägergruppe, der neuen akademischen Mittelschicht) eine „normative Leere und Unfähigkeit, etwas kollektiv geteilt Wertvolles und Erstrebenswertes für alle verbindlich zu machen“ attestiert wird (S. 54), gleichzeitig an anderer Stelle jedoch problematisiert wird, dass sich bspw. die Fridays-for-Future-Bewegung (als mögliches positives Beispiel einer Bearbeitung der demokratiepraktischen Krise des apertistischen Liberalismus) maßgeblich lediglich aus Mitgliedern der neuen Mittelklasse zusammensetzt (S. 302). D.h. wie passt die Diagnose einer „normativen Leere“ der neuen Mittelklasse mit den anscheinend mitunter doch normativ motivierten (und an einem Allgemeinen interessierten) Bewegungen – welche aus eben jener neuen Mittelklasse emporsteigen – der Spätmoderne zusammen? Daran anschließend wäre auch zu fragen, von wo (aus der identifizierten Drei-Klassen-Gesellschaft) ausgehend ein neues Kulturuniversales und ein einbettender Liberalismus emporsteigen könnte, gerade da der Antagonismus zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus zunächst weiterhin als der dominante erscheint (vgl. S. 61). Eventuell stellt eine solche Widersprüchlichkeit jedoch letztendlich lediglich eine weitere Ambivalenz innerhalb einer unübersichtlichen Spätmoderne dar. Insgesamt muss konstatiert werden, dass es das großes Verdienst von Reckwitz ist, diese Unübersichtlichkeiten systematisch darlegen zu können und verstehbar zu machen.
Fazit
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Reckwitz in „Das Ende der Illusionen“ eine detaillierte Analyse einer eklatant polarisierten Spätmoderne bietet, ohne dabei jedoch selbst in pessimistische Untergangsgesänge einzustimmen oder aber einem naiven Optimismus zu folgen. Vielmehr werden im nüchternen Ton (bspw.: „die Krise [des apertistischen Liberalismus] ist keine Katastrophe, sondern absolut normal [H.i.O.]“ (S. 269)) die Spezifitäten der spätmodernen Gesellschaft präzise ausgearbeitet und mögliche Auswege aufgezeigt. Auch wenn die Aufsätze zunächst als in sich geschlossen präsentiert werden, so erscheinen sie letztendlich doch eng verknüpft: jedes Kapitel bietet einen Ausschnitt eines größeren Bildes, eines Bildes des Strukturwandels von einer industriellen Moderne hin zu einer polarisierten Spätmoderne. Die zuvor publizierte umfassende Theorie der Singularitäten dient dabei weiterhin als allgemeine Hintergrundfolie, nochmals stärker als zuvor kommen allerdings nun die Polarisierungen und Ambivalenzen dieser Spätmoderne in den Blick.
Rezension von
Marian Pradella
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie - Vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas, Universität Siegen
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Zitiervorschlag
Marian Pradella. Rezension vom 03.02.2020 zu:
Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-518-12735-3.
Reihe: edition suhrkamp - 2735.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26350.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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