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Klaus Dörre, Christiane Schickert (Hrsg.): Neosozialismus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.01.2020

Cover Klaus Dörre, Christiane Schickert (Hrsg.): Neosozialismus ISBN 978-3-96238-119-6

Klaus Dörre, Christiane Schickert (Hrsg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. oekom Verlag (München) 2019. 215 Seiten. ISBN 978-3-96238-119-6. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Reihe: Bibliothek der Alternativen - [Band 1].

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Das S-Wort

In den Auseinandersetzungen mit den Wirkungen und Wirrnissen, die das kapitalistische und neoliberale System schafft, gibt es grundlegend zwei Meinungen. Die eine plädiert dafür, den Kapitalismus einzuhegen und die nachteiligen, sozialen Folgen abzumildern ( vgl. dazu: Paul Collier, Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25338.php ). Die andere sieht im Kapitalismus Kultur- und Menschheitszerstörung ( Jürgen Meier, Wider die Kulturzerstörer, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25606.php ). Die Alternativen sind deutlich: Revision oder Revolution. Der Wirtschafts- und Lebensform des Kapitalismus wird traditionell die des Sozialismus entgegen gestellt. Ziemlich deutlich, wenn man von den Auffassungen der Unbelehrbaren und Profiteuren des kapitalistischen Denkens und Handelns absieht, sind die Forderungen nach einem Perspektivenwechsel, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 formulierte: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission: Unsere kreative Vielfalt, 2. erw. Aufl. Bonn 1997, S. 18).

Entstehungshintergrund und Autorenteam

„S“ wie Sozialismus, wird als Alternative zum Kapitalismus verstanden. Definitorisch entstand der Begriff im 19. Jahrhundert als Reaktion auf individuelle und kollektive ökonomische und soziale Ausbeutung und Ungleichheit. Und er knüpfte an die revolutionären Bewegungen mit den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität an. Der sozialistische Gedanke differenzierte sich in vielfältiger Weise. Da ist vom „demokratischen Sozialismus“ die Rede, vom „staatsbürokratischen Sozialismus“, vom „Staatssozialismus“, vom „Ökosozialismus“… Es sind Initiativen, wie sie etwa in der „Soziologie der Weltbeziehung“ ( vgl. dazu: Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25302.php ) diskutiert werden, und vom US-amerikanischen Soziologen Erik Olin Wright (1947 – 2019) als Kapitalismuskritik und Parteinahme für ein neues Nachdenken über die Weiterentwicklung von sozialistischem Denken und Handeln propagiert wurde. Die DFG-KollegforscherInnengruppe der Universität in Jena nimmt das neue Nachdenken zum Anlass, beim oekom-Verlag eine neue wissenschaftliche Reihe zu begründen, „um emanzipatorische Alternativen für ein anderes Morgen zu entwickeln“. Die „Bibliothek der Alternativen“ will wissenschaftliches Diskussionsforum sein, um Entwicklungen (zu) analysieren, lokale Beobachtungen in größere Zusammenhänge ein(zu)ordnen und Wissen bereit(zu)stellen, um Rahmenbedingungen und Eckpfeiler für mögliche Wege hin zu einer besseren Gesellschaft zu identifizieren“.

Der Jenenser Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologe Klaus Dörre und die Geschäftsführerin der DFG-Kollegforscher_innengruppe „Postwachstumsgesellschaften“ am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Christine Schickert, lassen in dem Sammelband ForscherInnen zu Wort kommen, die davon überzeugt sind und dafür eintreten, „dass es sich lohnt, über eine sozial und ökologisch gerechte, demokratische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wieder nachzudenken“.

Aufbau und Inhalt

Der Diskussionsband wird in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um Ideen, Erfahrungen und Entgegnungen zum „Neosozialismus“; und im zweiten Teil werden „Pfade und Strategien für den Wandel“ thematisiert. Klaus Dörre formuliert acht Thesen gegen die real existierenden Kapitalismen und für demokratisch verfasstes, menschenwürdiges, gleichberechtigtes, zivilgesellschaftliches Denken und Handeln. Mit dem Begriff „Neosozialismus“ setzt er den Kontrapunkt zum Kapitalismus und wirbt für neosozialistische Projekte. Der Politikwissenschaftler von der Universität Greifswald, Hubertus Buchstein nimmt Dörres Gedanken mit der Frage auf: „Zwischen Neosozialismus und Retrosozialismus?“. Er gibt zu bedenken, dass „das Projekt eines egalitären, ökologischen, geschlechtergerechten und freiheitlichen Sozialismus ( ) enorm anspruchsvoll (ist); es ist noch viel anspruchsvoller als der momentan von verschiedenen Seiten unter Druck geratene demokratische Verfassungsstaat“. Die Linke sollte sich nicht auf einfache Antworten einlassen. Die Soziologin von der Johannes Kepler Universität im österreichischen Linz, Brigitte Aulenbacher, fragt angesichts der tatsächlichen und gefühlten kapitalistischen Transformationsprozesse: „Sozialismus relouded?“. Wenn vom Ende des Fordismus, und auch vom Postfordismus die Rede ist, wenn der Philosoph Axel Honeth davon ausgeht, dass Sozialismus, wenn das „antiquierte Denkgehäuse“ des Widerstandes gegen gleichberechtigtes, soziales und demokratisches Denken überwunden ist, gedacht und entwickelt werden kann, dämmert es vielen, dass „kein Sozialismus auch keine Lösung“ ist. Es kann und wird nicht den einen, richtigen Sozialismus geben, sondern viele Formen von Sozialismen. Der Politikwissenschaftler von der Universidad Nacional de Colombia, Raul Zelik, zeigt mit dem Beitrag „Venezuela: kein Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ die vielfältigen, postkapitalistischen Formen und Projekte auf, diskutiert die positiven Ansätze und die negativen Auswirkungen und verdeutlicht mit fünf Thesen auf, wie „eine Kollektivierung der Macht und … die Ausweitung von Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit auf dem Feld der Ökonomie“ gelingen könnte ( vgl. dazu auch: Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26436.php ). Der Soziologe von der Lancaster University, Bob Jessop, reagiert mit dem Beitrag „Kapitalismus, Staat, Transformation: Neosozialismus oder demokratischer Ökosozialismus?“ auf die Begrifflichkeiten bei der Suche nach Alternativen zum Kapitalismus. Er gibt zu bedenken, dass die Verwendung von Vorsilben, wie „Neo…“, „Post…“, „Prä…“ u.a., Kontinuitäten und Brüche bei traditionellen Benennungen eher verschleiern denn charakterisieren können. Er schlägt eine analytische Argumentation vor, bei der Logiken wie „ökologisch“, „technologisch“, „ökonomisch“, „politisch“ und „gesellschaftlich“ herangezogen werden sollten.

Im zweiten Teil „Pfade und Strategien für den Wandel“ wird ein Text abgedruckt, den Erik Olin Wrigth im Rahmen eines wissenschaftlichen Workshops zur „Great Transformation“ 2017 in Jena vorgetragen hat: „Mit realen Utopien den Kapitalismus überwinden“. Er stellt historische und aktuelle Utopien und Visionen vor, die „den Übergang von konsumbasierten zu aktivitätsbezogenen Lebensweisen“ ermöglichen und sich in den Wertvorstellungen und -aktivitäten Gleichheit, Demokratie und Solidarität ausdrücken. Das geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG Metall, Hans-Jürgen Urban, stellt fest: „Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat“. Dort wo Momentanismus vorherrscht und Nichtnachhaltigkeit gelebt wird, gerät die Menschheit in die Sackgasse von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Auch gewerkschaftliches Denken und Tun muss die demokratische Transformation hin zur „Wirtschaftsdemokratie als Kern einer postkapitalistischen Ökonomie“ unterstützen und voranbringen. Die Politologin und Wirtschaftswissenschaftlerin von der Lancaster University, Ngai-Ling Sum, stellt mit ihrem Beitrag „Die Arbeiter(innen) zurückgewinnen: subalternes widersprüchliches Bewusstsein und affektive Politiken“ ein Konzept vor, wie es gelingen kann, emotional und real „auf neoliberale wirtschaftliche Prekarität und auf neurechten Populismus (zu) reagieren“. Der Politikwissenschaftler von der Witswatersrand-University in Johannesburg, Vishwas Satgar, plädiert „Gegen den Ökozid: für eine demokratische, ökosozialistische Politik“. Der Aufruf und der Zwang, angesichts der Klimakatastrophen einen gerechten Strukturwandel zu vollziehen, fordert insbesondere linke Politik heraus, eine neue, lokal- und globalgesellschaftliche Krisenpolitik zu entwickeln, die in einem demokratischen Ökosozialismus münden soll ( siehe auch: Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​23859.php ). Der Wiener Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Christine Schickert setzen sich mit dem Beitrag „Ökosozialistische Strategien für eine sozial-ökologische Transformation“ damit auseinander, wie postkapitalistische Politik als wachstumskritische Praxis wirksam werden kann. Zur Überwindung des Kapitalismus bedarf es einer „doppelten Transformation“: Zum einen hin zu einer solidarischen und ökologisch nachhaltigen Produktions- und Lebensweise; zum anderen hin zu einem Green New Deal ( vgl. auch: Jeremy Rifkin, Der globale Green New Deal, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26178.php ).

Fazit

Der Sammelband „Neosozialismus“ lässt sich als Streitschrift lesen. Nicht etwa in dem Sinne, dass die Autorinnen und Autoren daran zweifelten, dass es einer Transformation weg vom Kapitalismus und hin zu grundlegend sozialen, demokratischen und solidarischen Formen bedürfe, sondern dahingehend, dass Begrifflichkeiten für ein neusozialistisches Denken und Handeln sorgsam bedacht, benannt und benutzt werden sollten. Die kongruenten und kontroversen Auseinandersetzungen um den S-Begriff jedoch machen Mut und bestätigen: Ob „Neosozialismus“ oder „demokratischer Ökosozialismus“ – ein kritischer und tätiger Widerstand gegen neoliberale Politik ist notwendig!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.01.2020 zu: Klaus Dörre, Christiane Schickert (Hrsg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. oekom Verlag (München) 2019. ISBN 978-3-96238-119-6. Reihe: Bibliothek der Alternativen - [Band 1]. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26358.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.


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