Jan Volker Wirth, Heiko Kleve: Die Ermöglichungsprofession
Rezensiert von Dipl. Soz. Päd. Detlef Rüsch, 17.06.2020

Jan Volker Wirth, Heiko Kleve: Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer für systemisches Arbeiten.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2019.
201 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0309-7.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Systemische Soziale Arbeit.
Thema
Dieses Fachbuch thematisiert unterschiedliche Aspekte systemischen Arbeitens in der Sozialen Arbeit. Die sogenannten „Leuchtfeuer“ sind meist zweiseitige Ausführungen, die eine intensive, reflexive Auseinandersetzung mit dem persönlichen Handeln, Sprechen, Denken und Fühlen ermöglichen. Es werden Fallbeispiele, Praxisempfehlungen und Praxiseinsatzfelder beschrieben.
Autoren
Prof. Dr. phil. Jan V. Wirth studierte an der Alice Salomon- Hochschule Diplom-Sozialarbeit, an der FU Berlin Soziologie und provomierte an der PH Freiburg. Außerdem ist er Supervisor, Familientherapeut, NLP-Practitioner und Weiterbildner sowie seit 2004 Lehrender in unterschiedlichen Kontexten in Polen, Österreich und Deutschland. An der privaten Hochschule Diploma ist er seit 2019 Professor. Außerdem ist er im Vorstand der dgssa (Deutsche Gesellschaft für Systemische Sozialarbeit) und im wissenschaftlichen Beirat des Carl Auer Verlages.
Prof. Dr. phil. Heiko Kleve studierte Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität, wo er 1998 promovierte. Heiko Kleve war seit 2002 Professor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und von 2005 bis 2017 Professor an der Fachhochschule Potsdam. Seit 2017 leitet er den WIFU-Stiftungslehrstuhl für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien. Außerdem ist er Systemischer Berater (DGSF), Supervisor und Coach (DGSv), Systemischer und lehrender Supervisor (SG), Konflikt-Mediator und Case Manager (DGCC). Zudem ist Heiko Kleve Autor verschiedener Fachbücher.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist entstanden aus einer Sammlung von Aphorismen, die Jan W. Wirth seit 2012 geschrieben hat und welche in einem Blog zusammen mit Heiko Kleve und nach einem Diskurs mit vielen Leserinnen und Lesern entsprechend zu 69 Leuchtfeuern entwickelt wurden. Es wird hieraus eine Ermöglichungsprofession entworfen, welche „Möglichkeiten zu Entwicklung, zu Wachstum und zu einem sinnhaften Leben“ (S. 13) anstelle von Lösungen für Probleme anbietet.
Aufbau
Das Fachbuch ist so aufgebaut, dass nach einer prägnanten Einführung die insgesamt 69 sogenannten Leuchtfeuer in verschiedene Themenblöcke geordnet dargestellt werden. Dabei werden fettgedruckte Überschriften, Leuchtfeuer bzw. prägnante Leitsätze vorangestellt, Erläuterungen beschrieben und schließlich mit einem Leuchtturmsymbol markiert Praxiseinsatzfragen gestellt. Hieran schließen Praxisempfehlungen an, die mit wechselnden Figuren markiert werden. Zusätzlich werden noch Merksätze genannt, die mit einer Glühbirnenzeichnung markiert sind. Ein 35 Titel umfassendes Literaturverzeichnis schließt den Band ab.
Inhalt
Dieses Fachbuch ist inhaltlich in vierzehn Kapitel untergliedert. Diese beziehen sich auf
- Philosophie
- Wirklichkeit
- Konstruktion
- Wissen und Nichtwissen
- Ambivalenz und Umgang
- Haltung
- Kommunikation
- Handeln
- Lebensführung
- Systemisch arbeiten
- Methoden
- Fähigkeiten
- Macht
- Vielfalt
Dabei werden jedem Kapitel entsprechende „Leuchtfeuer“ zugewiesen, die von ihrer Anzahl her sehr unterschiedlich sind. Während beispielsweise Philosophie und Wirklichkeit nur mit jeweils zwei „Leuchtfeuern“ bedacht werden, sind es bei dem Kapitel Systemisch arbeiten acht und bei Methoden sogar neun „Leuchtfeuer“. Einzelne „Leuchtfeuer“ geben Erläuterungen ab, während bei anderen Graphiken und Tabellen zum Einsatz kommen. Beim Leuchtfeuer 10 („Wir wissen erst, was wirklich möglich ist, wenn es möglichst wirklich wird“, S. 37) wird zum Beispiel das „S.E.L.B.S.T- Konzept“ als systemisches Zielführungsmodell vorgestellt. Beim Thema Ambivalenz wird für die Soziale Arbeit postuliert, dass es nötig sei, den „professionell richtigen Umgang mit Ambivalenzen und den zugrunde liegenden Unterscheidungen verbreiternd zu diskutieren, grundständiger zu lehren und vertiefter zu erforschen.“ (S. 52). Humorvoll und zugleich ernsthaft wird beim „Leuchtfeuer“ „Haltung“ von den zwei bedeutungsvollen Tagen im Leben von Sozialarbeitern/-innen gesprochen: „Der eine Tag ist der, an dem sie es werden. Der andere Tag ist der, an dem sie erkennen, warum sie es geworden sind.“ (S. 53). Im gleichen Kapitel wird das „1 x 1 der Selbsthilfe für Helfer/-innen“ mittels zehn Selbsterforschungsfragen für sich bzw. für ein Team vorgestellt und danach erläutert, dass es bezüglich einer professionellen Haltung drei Dimensionen zu beachten gilt: Was hält man voneinander? Wie geht man miteinander um? Wie steht man zueinander? Gleichfalls Haltungsfragen behandelt das 22. „Leuchtfeuer“, indem hier die Professionalisierung in den Blick gerückt wird. Hervorragend werden im „Leuchtfeuer“ Nr. 26 verschiedene Reflexionsfragen zur Gesprächsführung gestellt, welche man sehr gut in unterschiedlichen Kontexten Sozialer Arbeit nutzen kann. Professionelle Selbstkritik wird in dem „Leuchtfeuer“ Nr. 32 deutlich gemacht, wenn die Leser/-innen aufgefordert werden, über die Theorien und Methoden nachzudenken, welche ihr professionelles Handeln leiten. Äußerst interessant ist auch das 35. „Leuchtfeuer“, bei welchem Inklusion und Exklusion in einem vier Quadranten- Schaubild thematisiert werden und es deutlich wird, dass es in unserer Gesellschaft zeitlich oder sachlich begrenzt Teilexklusionen gibt und man als Sozialarbeiter/-in sich auf die jeweilige situative Exklusion bei den Klienten fokussieren sollte. Auf den Buchtitel bezogen richtet sich das „Leuchtfeuer“ Nr. 38, in welchem die Autoren schreiben: „Soziale Arbeit ist eine Möglichkeitsprofession, weil sie dabei hilft, dass Menschen neue Möglichkeiten in ihrem Denken, Fühlen und Handeln entdecken, um von der Fremdhilfe zur Selbsthilfe zu kommen.“ (S. 105). Im Kapitel Fähigkeiten wird eine ganz interessante Sichtweise eingeführt, indem nämlich darauf abgezielt wird, dass man nicht unbedingt den Konsens kultivieren sollte in der Sozialen Arbeit, sondern vielmehr die neuen Perspektiven durch Andersdenkende schätzen sollte; sowohl was die Kollegenschaft als auch das Klientel betrifft. Im letzten „Leuchtfeuer“ betonen Jan V. Wirth und Heiko Kleve die sozialarbeitswissenschaftliche Perspektive und resümieren, dass man in der Sozialarbeit sich in die Lebenspraxis einerseits zu versenken habe, andererseits brauche man neben dem wissenschaftlichen Wissen auch ein Erfahrungswissen des Klientel sowie ein „Bündel von Fähigkeiten aus dem künstlerischen und handwerklichen Bereich…: Sinnesreichtum, Hang zur Abweichung, Fingerspitzengefühl, Sehnsüchte, Geduld, Kreativität und Humor.“ (S. 196).
Diskussion
Bei diesem Fachbuch handelt es sich nicht um ein klassisches Werk, bei welchem viele Thesen und Antithesen aufgestellt und zahlreiche Sekundärliteratur zitiert wird. Vielmehr geht es in diesem Buch aus der Reihe „Systemische Soziale Arbeit“ tatsächlich darum, wichtige Wegmarken zu setzen, an denen sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter orientieren können. Dabei legen beide Autoren Wert darauf, dass jede sozialarbeitende Person selbst ihren Weg zu gehen hat, es hierfür aber auch klare wissenschaftliche bzw. professionelle Grundbedingungen gibt. Es erschließt sich nicht, warum es nur 69 „Leuchtfeuer“ gibt. Es wäre zudem gut gewesen, wenn die einzelnen thematisch zusammenhängenden Kapitel auch textgraphisch deutlicher unterschieden wären und es mehr Graphiken gegeben hätte. Die Sozialarbeiter/-innen vielmals als „Sozialprofessionelle“ zu titulieren hat seinen Reiz; gleichwohl werden hierbei viele Personen aus dem sozialen Bereich unter einem Dach genannt und außen vor gelassen, dass es viele Quereinsteiger/-innen gibt, die nicht grundständig Soziale Arbeit studiert haben. Hier wäre mehr Differenzierung hilfreich gewesen. Die einzelnen „Leuchtfeuer“ sind sprachlich so unabhängig und klar geschrieben, dass gerade berufstätigen Menschen die Lektüre leicht fallen wird.
Fazit
Ein voll und ganz lesenswertes Buch, das sowohl einen Beitrag zur Verwissenschaftlichung Sozialer Arbeit leistet, als auch ausgesprochen praxisnah systemische Aspekte zu vermitteln weiß. Für Studierende, Praktiker/-innen und Lehrende eine hilfreich-reflexive Lektüre, ein weithin sichtbares Leuchtfeuerwerk, das die Vielfalt Sozialer Arbeit sehr gut wiederspiegelt. Ein Buch, das man vermissen würde, hätte man es nicht lesen können, und ein Buch, das man sogleich weiterempfehlen mag.
Rezension von
Dipl. Soz. Päd. Detlef Rüsch
Dipl.Soz.päd., systemischer Familientherapeut, Jugendsozialarbeiter an einer Mittelschule, Kinderschutzfachberater
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