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Marc Walter, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Hrsg.): Psychische Störungen und Suchterkrankungen

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 09.04.2020

Cover Marc Walter, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Hrsg.): Psychische Störungen und Suchterkrankungen ISBN 978-3-17-035049-6

Marc Walter, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Hrsg.): Psychische Störungen und Suchterkrankungen. Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. 278 Seiten. ISBN 978-3-17-035049-6. 39,00 EUR.

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Thema

Das Fachbuch behandelt häufig auftretende Komorbiditäten von Suchterkrankungen mit anderen psychischen Störungen aus psychiatrisch-psychotherapeutischer und suchttherapeutischer Perspektive. Schwerpunkte liegen in den Besonderheiten des gemeinsamen Auftretens und das therapeutische Vorgehen, wobei vor allem Bezug auf aktuelle evidenzbasierte Studienergebnisse genommen wird. Um den Zusammenhang von Suchterkrankung und anderen psychischen Störungen erfassen zu können liegt ein Schwerpunkt des Buches im Bereich von Anamnese und Diagnostik. Die in Frage kommenden Behandlungsstrategien werden ausführlich erörtert. Für die zweite Auflage erfolgte eine gründliche Aktualisierung, sowie die Neuaufnahme von Kapiteln zu den Themen Diagnostik/​Klassifikation, sowie Medikamentenabhängigkeit.

Herausgeber und Autoren

Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank arbeitet als Chefärztin und Ärztliche Direktorin der LVR-Klinik Köln und ist Direktorin des LVR-Instituts für Versorgungsforschung im Landschaftsverband Rheinland.

Prof. Dr. med. Marc Walter ist Chefarzt und Stellvertretender Direktor der psychiatrischen Universitätskliniken Basel.

Der Herausgeberband wird durch Beiträge von 20 AutorInnen aus Praxis und Forschung getragen, die als PsychiaterInnen bzw. PsychotherapeutInnen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz arbeiten.

Aufbau und Inhalt

Das Fachbuch ist in drei Abschnitte unterteilt, das in die Grundlagen (Klassifikation, theoretische Modelle, psychodynamische Aspekte, neuropsychiatrische Grundlagen, therapeutische Prinzipien und Strategien) einführt, verschiedene psychische Störungen und komorbide Suchterkrankungen behandelt (Psychotische Störungen, affektive Störungen, PTBS, ADHS, Persönlichkeitsstörung) und auf verschiedene Abhängigkeitssyndrome und komorbide psychische Störungen (Alkohol, Tabak, Stimulanzien, Opiate, THC, Medikamentenabhängigkeit und nicht stoffgebundene Abhängigkeitsformen) eingeht.

Grundlagen

Der Grundlagenabschnitt wird durch das in der 2. Auflage neu aufgenommene Kapitel zu komorbiden psychischen und Suchterkrankungen in den psychiatrischen Klassifikationssystemen von Rolf-Dieter Stieglitz eröffnet. Er zeigt die historische Entwicklung der Berücksichtigung komorbider Störungen in den gängigen Klassifikationssystemen auf und belegt, dass es sich „bei der Komorbidität nicht um die Ausnahme, sondern um die Regel zu handeln scheint“ (31). Entsprechend nahm das Forschungsinteresse an dieser Thematik zu und es liegen nun umfangreiche Erkenntnisse zur Entstehung, wechselseitigen Wirkung und Entwicklung solcher Störungen vor, die beispielhaft vorgestellt werden.

Daran schließt sich ein Beitrag von Franz Moggi zu theoretischen Modellen zur Komorbidität psychischer Störungen und Sucht an. Die referierten Ätiologiemodelle komorbider Störungen berücksichtigen soziale und biologische Aspekte und fokussieren auch auf zeitliche Aspekte in Bezug auf Krankheitsentwicklung und Symptomentstehung, etwa in Bezug auf Affektregulations- oder Selbstmedikationsmodelle bei schweren psychischen Störungen, wo Suchtmittel zur Beruhigung oder Symptomreduktion konsumiert werden. Allerdings sind -so der Autor- diese Theorien bislang nicht ausreichend empirisch belegt.

Die Bedeutung psychodynamischer Aspekte der Komorbidität beschreibt Gerhard Dammann im folgenden Beitrag. Die Schwerpunkte des Kapitels liegen bei narzisstischen Störungsaspekten von Suchterkrankungen (z.B. Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen), Merkmalen psychodynamischer Diagnostik, den spezifischen Gegenübertragungsphänomenen (z.B. extreme Strenge oder „Kumpelhaftigkeit“ der TherapeutInnen im Umgang mit PatientInnen), woraus Dammann Implikationen für die Psychotherapie ableitet, die von einem psychodynamischen Grundverständnis, Reflektion des Übertragungsgeschehens, klarer Struktur des Settings, Arbeit mit Rückfällen (welche als Entwicklungskrisen interpretiert werden) und multimodalen Therapiestrategien gekennzeichnet sein sollte.

Daran anschließend beschäftigen sich Johannes Wrege und Stefan Borgwardt mit den neuropsychiatrischen Grundlagen der Komorbidität. Sie diskutiere die vorliegenden Forschungsbefunde welche darauf hinweisen, dass bei Patienten die neben spezifischen affektiven oder psychotischen Erkrankungen auch Suchterkrankungen aufweisen, zusätzlich kognitive Beeinträchtigungen, welche von Gehirnanomalitäten struktureller und funktioneller Art begleitet sind und beschreiben experimentelle Forschungs- aber auch Behandlungsansätze, welche auf die Stimulation spezifischer Gehirnregionen setzen.

Grundsätzlicher beschreiben dann Kenneth Dürsteler und Gerhard Wiesbeck therapeutische Grundprinzipien bei Doppeldiagnosen. Sie plädieren für eine integrative Behandlung die Abstinenzbereitschaft nicht voraussetzen oder gar erzwingen darf; solche Vorgehensweisen führen eher zu einer Verschlechterung der Symptomatik und der Gesamtsituation. Erfolgreiche Therapiestrategien setzen -wie sonst auch- auf Beziehungsaufbau und -gestaltung, die individuelle Zielvereinbarung und Interventionsplanung und auf störungsspezifische Therapiemaßnahmen, z.B. psychoedukative oder kognitiv-behaviorale Therapiestrategien und eine angepasste Pharmakotherapie.

Den zuletzt benannten Aspekt behandeln die beiden Autoren dann im Folgebeitrag unter dem Fokus der medikamentösen Rückfallprophylaxe bei Doppeldiagnosen. Die Strategien zielen hier auf Verminderung von Suchtdruck, psychische Entlastung und dadurch Rückfallvermeidung, wobei die Behandlung keine eigene psychotrope Wirkung erzielen soll und auch keine Substitutseffekte aufweisen sollte. Das Kapitel gibt auch einen Überblick über einzelne Wirkstoffe, deren Einsatz, Wirkung und Nebenwirkungen (z.B. Acamprosat, Naltrexon, Disulfiram etc.).

Psychische Störungen und Suchterkrankung

Teil zwei des Fachbuchs geht auf die Störungsbilder psychotische Störungen, affektive und Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung, ADHS und Persönlichkeitsstörungen ein. Die von den beiden HerausgeberInnen und weiteren AutorInnen verfassten Kapitel führen jeweils knapp in das jeweilige Krankheitsbild ein, beschreiben den Zusammenhang und die Funktion komorbider Suchterkrankungen (z.B. angstminimierende Wirkung von Alkohol bei Angststörungen, Emotionsregulation durch Substanzgebrauch bei Belastungsstörungen oder spezifischer Persönlichkeitsstörung, Stimulationssuche durch Substanzkonsum bei ADHS etc.). Daneben finden sich Hinweise zur Abgrenzung der beiden Störungsgruppen und zu unterschiedlichen Therapiestrategien. Neben diesen Hinweisen ist die jeweils im Überblick referierte, aktuelle Studienlage zu den einzelnen Störungsbildern der wesentliche Ertrag dieses Abschnitts, wobei die Einzelbeiträge großen Wert auf mögliche Implikationen für die Praxis legen.

Suchterkrankungen und komorbide psychische Störungen

Im letzten Abschnitt stehen primäre Suchterkrankungen und komorbide psychische Störungen im Mittelpunkt. Ausgangspunkt der Ausführungen ist, dass sowohl psychische Störungen assoziierte Suchterkrankungen aufweisen können und umgekehrt Suchterkrankungen assoziierte psychische Störungen aufweisen können, also ein Störungs- und Symptomzusammenhang in beiden Richtungen vorkommen kann. Die von Herausgeberin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank und weiteren AutorInnen verfassten Kapitel behandelnd die Alkoholabhängigkeit, Tabakabhängigkeit, Stimulanzienabhängigkeit, Opiatabhängigkeit, Cannabisabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit und als Beispiel für nicht-stoffgebundene Störungsbilder die Medienabhängigkeit jeweils in Zusammenschau mit komorbiden psychischen Störungen. Behandelt werden jeweils Hinweise zum jeweiligen Krankheitsbild, zur Epidemiologie, verschiedene Modelle zur Komorbidität, klinische Charakteristika und Verlauf, Therapiestrategien und Implikationen für die Praxis. Neben den für die Behandlungspraxis wesentlichen Ausführungen finden sich auch hier überblicksartig referierte Forschungshinweise und deren Praxisbedeutung.

Der Band wird durch ein Stichwortverzeichnis ergänzt.

Zielgruppe des Buches

Alle Berufsgruppen die in Klinik oder Praxis mit psychischen Störungen und Suchterkrankungen konfrontiert sind, sowie interessierte Laien.

Diskussion

Der von Marc Walter und Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank vorgelegte Band schloss schon mit Erscheinen der Erstauflage im Jahr 2013 eine Lücke im psychiatrischen Behandlungsbereich. Dem psychosozialen Behandlungsfeld fehlte ein Fachbuch, dass die häufig anzutreffende Störungskombination von psychischer Störung und Suchterkrankung (bis zu 75 % komorbider Störungen) systematisch beschrieb und aufarbeitete. Es fehlten die für die Praxis aufgearbeiteten Modelle zum Zusammenhang komorbider Störungen, die Zusammenstellung wichtiger empirischer Erkenntnisse zu Entstehung und Verlauf, Therapie und Therapieevaluation. Diese Thematik greift das Fachbuch auch in der zweiten Auflage, aktualisiert und um zwei Beiträge ergänzt (Komorbidität in den psychiatrischen Klassifikationssystemen, Medikamentenabhängigkeit und komorbide psychische Störungen) auf und folgt dem schon in der Erstauflage bewährten Aufbau allgemeiner Hinweise, psychischer Erkrankung und Sucht, sowie Suchterkrankung und psychische Störung in drei Abschnitten. Damit ergeben sich für die Praxis bedeutsame Hinweise, bezüglich Störungsdynamik (die eben nicht unidirektional nur von einer Störungsrichtung (z.B. „Psychose und sekundäre Sucht“) ausgeht, sondern alle möglichen Störungszusammenhänge und -dynamiken aufgreift. Dabei haben die HerausgeberInnen und AutorInnen der Einzelbeiträge großen Wert darauf gelegt ein Fachbuch für die Praxis zu verfassen, das vielfältige Grundlagen und Hinweise für die Behandlung komorbider PatientInnen zur Verfügung stellt. Die Perspektive liegt dabei auf psychiatrischen und psychotherapeutischen Aspekten, die Bereiche der (psychiatrischen) Pflege oder (klinischen) Sozialarbeit wurden nicht berücksichtigt (was als Wunsch für eine dritte Auflage gedacht werden kann. Der wissenschaftliche Blickwinkel ist allerdings in Ansätzen dennoch multiperspektivisch, die Beiträge integrieren biologische, psychiatrische und psychotherapeutische Aspekte, sodass Professionelle in den Versorgungsbereichen Sucht, Psychiatrie und Psychotherapie von der Lektüre profitieren werden, Orientierung und praktische Unterstützung finden werden.

Fazit

Das Fachbuch von Marc Walter und Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank ist das Standardwerk zum Thema Doppeldiagnosen für alle Berufsgruppen. Es zeigt die verschiedenen Störungseffekte und die Dynamik komorbider Störungen auf, stellt wissenschaftliche Grundlagen für die Praxis zu Verfügung und gibt wichtige Hinweise für Diagnostik und Behandlung. Durch seine klare Gliederung und übersichtliche Struktur ein Gewinn für die Praxis in Psychiatrie und Suchthilfe.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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ISSN 2190-9245