Udo Baer: Was hochbelastete Kinder brauchen
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 07.01.2020

Udo Baer: Was hochbelastete Kinder brauchen. Praxishandbuch für die Begleitung und Betreuung. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2019. 164 Seiten. ISBN 978-3-608-96440-0. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Das Buch bietet fachlich fundiert mit vielen Beispielen umfangreiche Verstehens- und Praxishilfen für alle Fachkräfte, die mit hochbelasteten Kindern und Jugendlichen arbeiten. Im Mittelpunkt stehen belastete Kinder und Jugendliche mit Selbstschädigungen, aggressiven Verhaltensweisen und verschiedenen Formen der Delinquenz. Aufgezeigt wird, was diese Kinder brauchen.
Autor
Udo Baer, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, ist Mitbegründer des Pädagogischen Instituts Berlin, Seminarleiter, Leiter von Forschungsprojekten, Mitbegründer der Zukunftswerkstatt „therapie kreativ“, Vorsitzender der Stiftung „Würde“ sowie erfolgreicher Buchautor zu Themen der Kinderpsychologie und Pädagogik. Geboren wurde der Autor 1949 in der Niederlausitz, kurz vor dem Mauerbau 1961 erfolgte die Flucht an den Niederrhein. Nach dem Studium erwarb er Praxiserfahrungen in der Erwachsenenbildung und in Gemeinwesen-Projekten und in Leitung von Modellprojekten. 1987 erfolgten die Gründung und der Aufbau der Zukunftswerkstatt „therapie kreativ“.
Aufbau
Das Buch gliedert sich nach einer Vorbemerkung in drei Teile.
- Im Teil A stellt Baer acht Wege der Unterstützung vor,
- im Teil B wird ein Modell vorgestellt, nachdem sich verletzte, hochbelastete und komplextraumatisierte Kinder und Jugendliche unterscheiden lassen.
- Im dritten Teil C stehen die Helfenden im Fokus.
Den Abschluss bildet ein zweiseitiges Literaturverzeichnis.
Inhalt
Teil A: Die acht Wege
Im ersten Kapitel mit dem Titel: „Der erste Weg: Zur Quelle gehen – Diagnostik“ werden hilfreiche Haltungen der Helfenden thematisiert, um dann sogenannte vier Monster der Entwürdigung, nämlich die Gewalt, die Erniedrigung, die Beschämung und ins Leere gehen zu beschreiben. Anschließend setzt sich der Autor mit „vergifteten Atmosphären“ in den Familien der Kinder und Jugendlichen auseinander, um dann im Kapitel „Zugänge zum Verständnis“ eine Belastungspyramide vorzustellen. Aufgezeigt wird die Notwendigkeit eine Form der Belastung zu finden, bei der eine sofortige oder kurzfristige Reduzierung möglich ist. Hierbei gilt es „die Weisheit der Kinder“ ernst zu nehmen.
Im zweiten Weg „Rahmung“ wird die Bedeutung sicherer Orte ebenso thematisiert wie die Problematik möglicher weiterer Täterkontakte. Die Bedeutung klarer Strukturen mit klaren Verantwortlichkeiten und Regeln wird betont. Eingegangen wird zudem auf den besonderen Gerechtigkeitssinn vieler hochbelasteter Kinder und Jugendlicher.
Im dritten Weg wird auf dem Hintergrund der Beschreibung von Bindungsstörungen die Notwendigkeit von guten neuen Beziehungserfahrungen problematisiert. Hierzu gehören insbesondere spürende Begegnungen, die der Autor anhand von konkreten leiblichen Übungen erläutert.
Im vierten Weg mit dem Titel „Tridentität – Nähren, Spiegeln, Gegenüber-Sein“ stellt der Autor das mit seiner Frau entwickelte Tridentitätskonzept vor. Dieses Konzept beinhaltet drei wesentliche Interaktionen, dass Nähren, das Spiegeln und das Gegenüber-Sein.
Der fünfte Weg beschäftigt sich mit dem Ich-Aufbau mit Hilfe eines Modells von „Bedeutungsräumen“, d.h. mit Verletzungen in Räumen der Begegnung, des öffentlichen Raums, des persönlichen Raums und des intimen Raums. Vorgestellt werden Möglichkeiten der Unterstützung, z.B. mit kreativen Medien.
Im sechsten Weg werden die Bedeutung der Gefühle und Folgen chronischer Wirkungslosigkeit erörtert. Viele hochbelastete Kinder reagieren mit destruktiven und konstruktiven Wirksamkeitsbemühungen. Aggressivität der Kinder erweist sich so als „Fluch und Segen“. Zur Deeskalation tragen Interventionen (z.B. Verkehrsschilder und Stopp-Übungen) bei.
Der siebte Wegtitelt: Das große UND. Baer betont die Notwendigkeit oftmals ein Entweder-oder durch ein sowohl als auch und durch ein UND zu ersetzen. Jedoch benötige alles, was entwürdigt wird ein klares Stoppzeichen. Da hochbelastete Kinder oft belogen und getäuscht wurden sei eine partielle Offenheit der HelferInnen zwingend.
Im achten Weg „Worte und mehr für Gefühle und Beziehungen“ fordert der Autor dazu auf, die Benutzung der Sprache zu reflektieren, da diese Kinder und Jugendlichen wenig differenziert Worte für Gefühle und Beziehungen nutzen können. Geübt werden kann dies mit sogenannten Gefühlssternen oder mit gemeinsamem Musizieren.
Im achtseitigen Teil B: „Zur diagnostischen Vertiefung: das Trauma-Differenzierungsmodell und mehr“ wird zunächst die Bedeutung von Traumata als eine wichtige Form von Hochbelastung beschrieben. Der Autor stellt (S. 152) ein Trauma-Differenzierungs- Modell vor, indem Verletzungen, Trauma und Komplextrauma unterschieden werden. Abschließend werden kurz die besonderen Herausforderungen für die Pädagogik bei Komplextraumata erörtert.
Im sechsseitigen Teil C „Selbstfürsorge der Begleiter/​innen“ wird die Bedeutung der Selbstreflexion der Resonanz ebenso betont wie die Notwendigkeit des eigenen sicheren Ortes.
Diskussion
Bereits in den Vorbemerkungen betont der Autor zwei Grundsätze: 1.geht es um die Würde der Kinder und 2. es gibt keine einfachen Lösungen. Diesen Prämissen folgend beschreibt der Autor acht Wege der Unterstützung.
Systematisch und theoretisch fundiert werden die Situationen und mögliche Interventionen für hochbelastete Kinder und Jugendliche beschrieben. Hochbelastet bedeutet für Baer (S. 146) dass die Belastung schwerwiegend ist und diese Belastung in der Regel über einen längeren Zeitraum erfolgte. Typischerweise sind dies traumatische Erfahrungen, wobei oftmals die Art der Traumabewältigung besonders gravierende und nachhaltige Folgen nach sich ziehen kann.
Abschließend benennt Baer nochmals die Bedeutung der „Herzkompetenz“, um zu betonen, dass allein fachliche Kompetenz nicht ausreichend ist. Herzkompetenz meint, mit Kindern zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und ihnen zu begegnen von Herz zu Herz.
Fazit
Dieses Buch richtet sich an Pädagogisches Fachpersonal in sozialpädagogischen Einrichtungen und Jugendhilfe, Erzieher*innen, Psycholog*innen ebenso an Adoptiv- und Pflegeeltern. Der Autor fasst in einer sehr humanen Art differenziert und theoretisch fundiert wichtige diagnostische und interventionistische Grundlagen der Arbeit mit hochbelasteten Kindern und Jugendlichen zusammen. Die Darstellung erfolgt dabei sehr systematisch.
Dieses Buch kann allen Fachkräften und den Adoptiv- und Pflegeeltern sehr empfohlen werden.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 07.01.2020 zu:
Udo Baer: Was hochbelastete Kinder brauchen. Praxishandbuch für die Begleitung und Betreuung. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2019.
ISBN 978-3-608-96440-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26391.php, Datum des Zugriffs 30.11.2023.
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