Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hrsg.): Handbuch Praktiken und Raum
Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 27.11.2019
Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hrsg.): Handbuch Praktiken und Raum. Humangeographie nach dem Practice Turn.
transcript
(Bielefeld) 2019.
394 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4603-0.
D: 29,99 EUR,
A: 29,99 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Sozial- und Kulturgeographie - Band 28.
Thema
Wann wird ein politisch definierter oder geographisch bezeichneter Raum zu einem sozialen Raum? Wann wird ein Wohngebiet als eine Anordnung von Häusern und Straßen für die dort lebenden Menschen zu einem sozialen Raum, den sie sich aneignen können, dem sie eine Bedeutung geben, weil sie in ihm Interessen realisieren und Bedürfnisse befriedigen können? Wann wird ein bewirtschaftetes Feld oder ein Acker für den Landwirt zu einem sozialen Raum, weil dieses Feld und dieser Acker eine Bedeutung für ihn haben, die über seine wirtschaftliche Funktion der Subsistenzerhaltung hinausgehen?
Wie verändert sich das Raumverständnis, wenn dieser Bauer seine Landwirtschaft aufgibt und in der Stadt arbeiten geht, auch vor dem Hintergrund, dass sich Arbeit und Wohnen trennen und sich der Gesamtlebens- und -arbeitszusammenhang auflöst? Das gleiche könnte man den Schlosser fragen, der im Dorf eine eigene Werkstatt hatte, sie aufgibt und in der Industrie einen Arbeitsplatz findet.
Und für die historische Humangeographie könnte die Frage interessant sein, wie sich das Raumverständnis im Zusammenhang mit der Auflösung der Allmende verändert hat, die ja zunächst allen gleichermaßen zugänglich war, ohne dass jeder einzelne sie besitzen konnte. Haben sich mit der Veränderung des Raumverständnisses auch die sozialen Praktiken, die Umgangsformen, Kommunikationsmuster und Verhaltensrituale verändert?
Soziale Räume entstehen durch die Praxis, die diese Menschen in diesen Räumen und durch sie entwickeln, soziale Räume sind soziale Konstruktionen, die in diesen Räumen jenseits ihrer objektiven Strukturen entwickelt werden, aber nicht unabhängig von ihnen.
Und es ist nicht eine einheitliche Praxis, die Menschen im Raum entwickeln, sondern es sind die Praktiken, jene alltäglichen Handlungsvollzüge, die den Raum konstituieren.
Herausgeberin und Herausgeber
Dr. Susann Schäfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Prof. Dr. Jonathan Evers ist Professor für Humangeographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren kommen aus den Bereichen der Wirtschafts-, Kultur- und Humangeographie, der Sozialanthropologie, der Politikwissenschaft oder beschäftigen sich mit lokalen Strategien der Integration von Migranten im städtischen Raum bzw. im Rahmen der Forschung mit der Analyse von zivilgesellschaftlicher Daseinsvorsorge.
Aufbau
Das Buch beinhaltet 15 Beiträge, die jeweils mit einer ausführlichen Literaturliste abschließen. Die Beiträge gliedern sich nach bestimmten inhaltlichen Gesichtspunkten, die sich erst beim Lesen erschließen. Sie werden weiter unten angesprochen. Am Ende befindet sich ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren.
Inhalt
Das vorliegende Handbuch beschäftigt sich mit diesen Fragen aus der Perspektive der Humangeographie. Was die Autor*innen umtreibt, ist die Auseinandersetzung mit der Handlungsorientierung, mit den Praktiken, die Menschen entfalten, mit der sozialen Dimension der Gestaltung von Handlungs- und Lebenszusammenhängen in einem Raum, die ihn insgesamt gleichsam zu einem sozialen Raum machen. Diese Fragen stehen auch im Zusammenhang mit dem practice turn, den die Humangeographie vollzogen hat. Den hat sie im Übrigen bereits anfangs der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts vollzogen, ohne ihn als solchen zu bezeichnen. Wie sich der Bezug zum Raum verändert, wenn sich insgesamt Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einem lokalen Kontext eines geschlossenen sozialen Raums eines Dorfes verändern, macht nämlich bereits die soziographische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von H. Zeisel, P. L. Lazersfeld, M. Jahoda (1933) auf anschauliche Weise deutlich. Die Studie zeigt, wie sich durch die plötzliche Arbeitslosigkeit eines ganzen Dorfes auch das ganze Leben verändert, wie sich die raumbezogenen Denk- und Verhaltensmuster verändern und sich auch Kommunikationsformen und Alltagsbewältigungsrituale wandeln. Hier wird bereits deutlich, dass sich die deutschsprachige Geographie in ihrer sozialgeographischen Ausrichtung schon immer zumindest als handlungstheoretische Disziplin verstanden hat.
Mit dem Raum hat sich die Geographie schon immer beschäftigt; was den practice turn ausmacht, ist der Raumbezug jedweden sozialen Handelns. Vielleicht ist diese Tatsache vergleichbar mit dem spatial turn in den Sozialwissenschaften, die bis dahin Verhalten und soziales Handeln immer auch als gesellschaftlich erzeugtes und bedingtes Verhalten erklären konnten. Der spatial turn hat den Raumbezug des Verhaltens, die Sozialraumbindung aller sozialen Probleme, Strukturen und Verhältnisse ins Blickfeld gerückt.
Die Geographie hat sich dabei in ihrer Bemühung um sozialtheoretische Begründungen auf soziologische Arbeiten bezogen; der Bezug zu Bourdieu und Giddens war auch für die sozialwissenschaftliche Begründung des Raumbezugs wichtig, vielleicht neben H. Lefebvre und einigen anderen Autoren der jüngeren Generation. Bourdieus Habituskonzept hat Eingang in die Diskussion gefunden. Giddens Verständnis von Handeln als gesellschaftlich determiniertes durch soziale materielle Bedingungen geprägtes Verhalten wurde dann vor allem von Werlen aufgegriffen, der allerdings den Begriff dahingehend variierte, als dass Handeln individuelles Handeln ist, das auch auf individuellen Handlungslogiken und -motiven beruht. Auch Bourdieu wurde ausführlich rezipiert. Sein Habituskonzept beruht ja auf der Prämisse, dass Menschen bestimmte „Verhaltenskapitalien“ verinnerlicht haben und mitbringen. Es geht dabei weniger um die Praktiken, die daraus entstehen, deren Bedingungen diese Kapitalien sind.
Inhaltliche Gliederung
Im einleitenden Kapitel wird die Entwicklungsgeschichte der Humangeographie bis zum spatial turn ausführlich rezipiert; auf einige wichtige Protagonisten wie Schatzki und Reckwitz wird ausführlich Bezug genommen, wobei Schatzki eher für ein relationales Raumverständnis steht. Die Welt ist ein Zusammenhang von sozialen Praktiken und materiellen Entitäten; ein Raumbegriff, der seit den 1990er Jahren dann auch die sozialwissenschaftliche Debatte prägt. Darin gehen die Herausgeber*innen des Handbuchs davon aus, dass die Welt aus vielen konkret benennbaren einzelnen und mit einander verflochtenen Praktiken besteht und Praktiken deshalb sozial sind, weil sie für die Handelnden selbst und die Adressaten der Handlungen gleichermaßen verstehbar sind, zumindest auf einer kollektiv vermittelten und erzeugten Wissensgrundlage und gemeinsam geteilter Denkvorstellungen, Kommunikationsmuster und Ritualen beruhen. Reckwitz unterdessen sieht die Begründung von Praktiken weniger im Raumbezug als in der Routinisierung von Praktiken, die gespeichertes verinnerlichtes Wissen aktiviert, aber auch in der Offenheit für alternatives Handeln, das durch Kreativität ermöglicht wird.
- Die ersten Beiträge bieten zunächst einmal einen Überblick über die praxologische Forschung in der deutschsprachigen Humangeographie.
- In weiteren Kapiteln geht es um die Kategorien Raum und Zeit, um die zeitlichen und räumlichen Bedingungen sozialer Praktiken.
- Weiterhin werden Fragen des sozialen Wandels und das Verhältnis von Wandel und Stabilität diskutiert. Es geht um den sozialen Wandel, der durch Praktiken und Aktivitäten entsteht und um die Frage, wie diese Praktiken mit gesellschaftlichen Strukturen und der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse verflochten sind. Daran schließen sich Beiträge an, die sich mit der Subjektivierung sozialer Praktiken, auch mit der Identitätssicherung unter den Bedingungen des Wandels beschäftigen.
- Die weiteren Beiträge diskutieren die Frage, welche praxistheoretischen Ansätzen in den einzelnen Teildisziplinen der Geographie eingebracht werden können und Bedeutung hätten. Schließlich geht es um Beiträge, wie praxologische Zugänge für die empirische Forschung durch Operationalisierung zugänglich gemacht werden können.
Zu den einzelnen Beiträgen
Der Beitrag von K. Geiselhart, J. Winkler und F. Dünkmann stellt die praxologischen Ansätze für die Geographie vor und fragt kritisch nach Möglichkeiten einer Neuorientierung einer traditionellen Ausrichtung der Geographie an Empirienähe, Planungsaffinität und Regionalkompetenz. Wie kommt es, dass gesellschaftliche Strukturen und Prozesse beständig reproduziert werden, obwohl diese offensichtlich mit gesellschaftlichen Problemlagen wie z.B. sozialer Ungerechtigkeit, Gewalt, Umweltzerstörung verbunden sind? Ist dieser Konnex auflösbar durch „andere“ soziale Praktiken und ist dadurch Gesellschaft auch gestaltbar, dass gesellschaftliche Veränderungen planvoll herbeigeführt werden können? (23).
Theodore R. Schatzki diskutiert in seinem Beitrag die praxologische Perspektive sozialen Wandels. Wie kann sozialer Wandel praktikentheoretisch konzeptionalisiert werden? Dabei geht er vor allem auf die Dialektik zweier eigentlich widerstreitender Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Wandels ein: die Stabilität und Persistenz von Strukturen einerseits und die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse andererseits. Und es geht ihm um das Spannungsverhältnis von sozialem Wandel in einer materialisierten, festgefügt strukturierten, gleichwohl hochgradig differenzierten Welt, die sich schwerlich bewegt. Tragen materialisierte Strukturen und Prozesse in ihrer dialektischen Wechselwirkung die Dynamik, die sozialen Wandel ermöglichen und bestimmen?
In zwei weiteren Beiträgen wird das Verhältnis von Raum und Zeit thematisiert.
In ihrem Beitrag „The Site of the Spatial“ diskutieren B. Schmid, J Reda, L. Kraehnke und R. Schwegmann eine „praktikentheoretische Erschließung geographischer Raumkonzepte“. Man mag sich einen leeren Raum ohne Handelnde vorstellen; ein Handeln ohne Raum ist undenkbar. Und selbst wenn man sich einen leeren Raum vorstellt, dann doch immer vor dem Hintergrund des historisch gewordenen, des gemachten und von Menschen gestalteten und geprägten Raums.
Soziale Praxis ist auch immer räumlich gebundene Praxis. Damit begründen die Autoren auch den von Lefebvre eingebrachten Gedanken des historischen Materialismus, dass Menschen ihre Geschichte machen, aber immer unter bereits vorgegebenen historischen Bedingungen. Die Autoren diskutieren die Raumkonzepte vor dem Hintergrund der von anderen eingebrachten sozialräumlichen Strukturationsprinzipien wie place, network, scale und territory. Place steht für Nähe, Eingebettetsein und Lokalität; network entsteht durch Interdependenz und Konnektivität; scale verweist auf vertikale soziale Differenziertheit und territory macht auf Grenzziehungen und in der Folge auf Ein- und Ausschlüsse aufmerksam. Die weitere Entfaltung dieser Ansätze aus einer site-ontologischen Perspektive trägt zum Verständnis bei, dass Praktiken und Raum in einem konstitutiven Verhältnis zueinander stehen.
Christiane Stephan und Judith Wiemann erörtern in ihrem Beitrag praktikentheoretische Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit für die Humangeographie. Die Autorinnen stellen zunächst die Zeit und ihre Bedeutung für die soziale Konstruktion vor und diskutieren dann grundsätzliche Überlegungen zu Zeit in Theorien sozialer Praktiken.
Raum und Zeit stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander. Aktivitäten haben einen bestimmten Ort und finden zu einer bestimmten Zeit statt. Aktivitäten können damit „verschwinden“, vergessen werden, wenn sich Orte ändern oder Aktivitäten beendet sind. Gleichzeitig gibt es Aktivitäten die die Zeit überdauern und die Orte bleiben. In der Auf-Dauer-Stellung von Aktivitäten entwickeln sich Rituale und Traditionen und es institutionalisieren sich Regeln, die Zeiten überdauern und nicht immer an bestimmte räumliche Bedingungen geknüpft sind. Als Beispiel wird hier das Essen genannt.
In weiteren drei Beiträgen wird ein altes klassisches soziologisches Thema aufgegriffen: der soziale Wandel. Wie kann sozialer Wandel praxistheoretisch im Spannungsfeld von Wandel und Fortschritt einerseits und Stabilität und Beharrung andererseits beschrieben und erklärt werden?
Jonathan Everts widmet sich in seinem Beitrag diesem Spannungsverhältnis von routinisierten Praktiken und ihrer Veränderung. Routine ist eher mit Geschlossenheit verbunden, während Veränderung mit Offenheit identifiziert wird. Everts zieht als Beispiel die Konsumforschung heran. Dabei macht er deutlich, dass das Konzept der Routine den gängigen Vorstellungen der Konsument*innen als freie und für sich selbst verantwortliche Entscheider infrage stellt. Konsumentenverhalten ist vielmehr sehr viel stärker in ein komplexes System von Alltagspraktiken eingebettet; die meisten der Konsumgewohnheiten sind routinisiert und oftmals im Kontext des gesamten Alltagshandeln nicht reflektiert (Samstagvormittag oder nach dem beruflichen Alltag einkaufen).
Routine trägt im Wesentlichen dazu bei, dass Verhaltensweisen institutionalisiert werden und durch Wiederholung zur Stabilität gesellschaftlicher Ordnung beitragen. Ordnungen werden eher mit Stabilität in Verbindung gebracht und Veränderungen und Veränderbarkeit als konstitutiv für sozialen Wandel begriffen. Dabei ist das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen grundlegend. Menschen handeln unter bestimmten strukturell vorgegebenen Bedingungen und Verhältnissen und der Wandel entsteht möglicherweise auch dadurch, dass sich Verhaltensweisen auf Grund sich wandelnder struktureller Bedingungen verändern und das veränderte Verhalten im Laufe Zeit auch Strukturen und Ordnungen verändert. Diese Dialektik ist typisch für hochgradig differenzierte und komplexe moderne Gesellschaften und konstitutiv für ihren sozialen Wandel.
„Turning ist new moving“ ist eine der Kernaussagen eines Buches von Matthew Hannah: Direction and Socio-spatial Theory. In einem Interview mit den Herausgeber*innen erläutert er diese Kernthese. Darin plädiert er für mehr Sensibilität für das Phänomen der Aufmerksamkeit und ihrer Ausgerichtetheit als Grundlage für gesellschaftlich relevante Fragestellungen und in der Folge von sozialen Praktiken. Infrastrukturelle und technologische Möglichkeiten schaffen die Rahmenbedingung dafür, dass Menschen in fortgeschrittenen Gesellschaften ihre Aktivitäten nicht mehr mit bestimmten Orten verbinden. Diese Entkoppelung führt dazu, dass die Ausrichtung der Aufmerksamkeit von einem zu anderen Geschehen passiert, wo immer sich die Menschen auch befinden; das Geschehen wird aber nicht mehr mit Orten verbunden. Als Beispiel nennt der Autor die Benutzung des Tablets oder Smartphones im Zug.
Was macht den Alltag in der Geographie zu einem besonderen Forschungsaspekt? fragen Jens Reda und Simon Runkel in ihrem Beitrag über Gewohnheiten und Routinen. Es geht den Autoren um praxistheoretische Zugänge zum Alltag und die Neuentdeckung des Alltags in der Geographie nach dem practical turn. Der Alltag war schon immer Thema der humangeographischen Forschung, wird nun aber mit der Frage verbunden, welche sozialräumlichen Bedingungen, situationsspezifischen Konstellationen oder spezifische Orte dieses Alltagsgeschehen bestimmen oder prägen. Die eingangs beschriebene Szene an der Bushaltestelle macht deutlich, wie gewöhnlich der Alltag auf der einen Seite ist und wie analytisch interessant sie unter dem Aspekt der Gewohnheit und Routine an einem spezifisch Ort, in einer spezifischen Situation sein kann, die dieses Alltagsverhalten kennzeichnen. Schließlich würde sich dieselbe Szene vor dem Eingang eines Warenhauses vollkommen anders abspielen, das um 10.00 öffnet und die Leute auf den Einlass warten. Die Autoren reflektieren auch diese Geschichte vor dem Hintergrund der Geschichte der Humangeographie und ihrer Annäherung an das Alltagsverhalten
Und noch etwas zu den Begriffen: Gewohnheiten werden als selbstverständlich gewordene (und damit nicht zu befragende) Verhaltensweisen beschrieben, die eine gewisse Sicherheit in der Kommunikation mit den jeweils anderen in derselben Situation schaffen. Das schafft auch Stabilität.
Nicht weit davon ist der Begriff der Routine als ein Ensemble eingespielter Pfade, die wiederholt begangen werden und auf ein inkorporiertes Wissen verweisen; von ihnen wird auch nicht abgewichen und nur dadurch erhalten sie einen gewissen Sinn: sie haben eine Bedeutung für den Vollzug des Alltags.
In nun folgenden Beiträgen geht es um die „Subjektivierung im weitesten Sinne“, wie die Herausgeber*innen dies umschreiben.
J. Everts, K. Geiselhart, S. Rominger und J. Winkler gehen auf Praktiken des Regierens ein und diskutieren praxologische Zugänge zum Thema Macht. Dabei setzten sie sich zunächst auch mit dem Machtbegriff und seiner Vielfältigkeit auseinander. Ihre praxologischen Herangehensweisen diskutieren sie im Rückgriff auf Bourdieu, Giddens und Foucault. Im Grunde geht es um die Auseinandersetzung, ob Macht eher auf individuelle „dem Körper eingeschriebene“ Strukturen und Verhaltensdispositionen beruht (Bourdieu, Foucault) oder ob es sich eher um strukturelle, gesellschaftlich erzeugte und damit historisch bedingte Bedingungen der Allokation von gesellschaftlich akzeptieren Ressourcen wie Vermögen, Besitz, Geld oder Rechte handelt, die machtvolles Handeln ermöglichen (Giddens). Es geht dabei auch wieder um die Dialektik von Individuum und Struktur, darum, dass individuelles Handeln Strukturen hervorbringt und dass Individuen in Strukturen handeln und ihr Handeln strukturell bestimmt oder beeinflusst ist.
Bei der Auseinandersetzung mit Macht, Herrschaft und Gewalt beziehen sich die Autoren fast ausschließlich auf sozialwissenschaftliche Ansätze, kommen auch zu einigen Ansätzen, die sich allmählich auch in der Humangeographie durchsetzen; der Raumbezug wird eigentlich nicht diskutiert, wenn man davon absieht, dass Macht in Institutionen, Organisationen oder das Regieren von Staaten konstitutiv mit dem Raum verbunden ist und Institutionen und Organisationen als soziale Räume verstanden werden können, was aber noch vermittelt werden müsste.
Intersektionalität umschreibt das Phänomen der Aktivitäten und Bewegungen, die sich über die Grenzen klassischer Identitätskategorien wie Rasse, Klasse, Gender hinaus für die Rechte und Sichtbarmachung mehrfach marginalisierter Gruppen einsetzen (246). K. A. Juraschek und K. Geiselhart problematisieren in ihrem Beitrag diese Aktivitäten und fragen nach dem Stellenwert für die praxologische Forschung in der Humangeographie. Sie stellen Intersektionalität vor, thematisieren diese im Zusammenhang mit der Kategorienbildung. Nach der kritischen Würdigung der Ansätze und in Bezug auf die Praxologie verstehen die Autor*innen in Anlehnung an Degele und Winker Intersektionalität „als kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an soziale Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. Herrschaftsverhältnisse) symbolischer Repräsentations- und Identitätskonstruktionen“ (251). Dieser Ansatz wird vorgestellt und bietet die Grundlage der weiteren Argumentation und Begründung praxologischer Ansätze. Warum unterschiedlich strukturierte Räume als Bedingung unterschiedlicher Intersektionalität nicht diskutiert werden, erschließt sich zunächst nicht, sind doch unterschiedlich gestaltete und sozialräumliche Bedingungen des Handelns auch verantwortlich für unterschiedliche Wahrnehmungen und Begründungen von Ungleichheiten unterschiedlichster Art.
Emotionen dürfen bei der Analyse und Begründung sozialer Praktiken nicht fehlen sagen A. Hoppe-Seyler, C. Stephan und M. Lahr-Kurten. In ihrem Beitrag beschäftigen sie sich mit Emotionen und Affekten und deren Wirkung auf die Dynamiken des Sozialen. Dabei setzen sie sich mit der Praktikentheorie Schatzkis auseinander, der auf vier Mechanismen verweist: auf practical understanding, also auf Fähigkeiten, die für die Ausführung von Praktiken erforderlich sind; auf rules, also auf Regeln und Prinzipien, die Menschen anordnen, um eine Handlung durchzuführen; auf teleoaffective structures, also auf Ziele und Projekte, die vorgeben, was getan und gesagt werden soll und auf general understandings, also auf übergreifende Strukturen und Grundhaltungen, auf die bei der Verbindung verschiedener sozialer Praktiken zurückgegriffen wird. Diese Mechanismen spielen später bei der Vorstellung und Analyse vierer Fallbeispiele eine Rolle.
Die Autor*innen versammeln unterschiedliche Beiträge der Humangeographie und setzen sich mit ihnen aus der Perspektive von Emotion und Affekt auseinander. Sie kommen dann zu den Fallbeispielen, an Hand derer sie emotionale Aspekte von Praktiken diskutieren.
Dem Nicht-Geographen erschließt sich auch hier nicht, warum so wenig über den Raum, die Raumbezogenheit des Handelns, die Differenzierung des Handelns aufgrund der differenziert strukturierten sozialen Räume gesprochen wird. Schließlich ist es nicht gleichgültig, unter welchen sozialräumlichen Bedingungen Handeln mit Emotionen und Affekten verbunden wird. Oder sind bei den Fallbeispielen nicht eher Situationen gemeint: Handlungskontexte die durch die beteiligten Akteure definiert sind und nur in einem bestimmten sozialräumlichen setting stattfinden können? Dann müssten allerdings andere Rahmenbedingungen und Erfordernisse erwähnt werden.
In zwei weiteren Beiträgen geht es eher um die Frage, wie praxologische Forschungsansätze in weiteren Teildisziplinen der Geographie eingebracht werden können.
Praxistheorien in der Wirtschaftsgeographie diskutieren J. Wiemann, S. Schäfer und F. Faller. Wirtschaftsprozesse sind nicht nur zentrale Bestandteile moderner gesellschaftlicher Wandlungs- und Entwicklungsprozesse; vielmehr bestimmen diese Prozesse in modernen kapitalistisch verfassten Gesellschaften die gesamte gesellschaftliche Dynamik. Die Frage ist dann auch, wer wen einbettet – das als kritische Anmerkung. Relevant ist hier die Hinwendung der Humangeographie zur Analyse und Begründung wirtschaftlicher Prozesse und Dynamiken bei gleichzeitiger Abkehr von vereinfachen Modellen der Wirtschaftsgesellschaft und dem homo oeconomicus. Welchen Platz in dieser Dynamik und diesen Prozessen praxistheoretische Ansätze haben, soll in diesem Beitrag eruiert werden. Dazu wird auf Schatzkis Begriff der flachen Ontologie eingegangen, die Praktiken als zentrales Element in der Konstituierung (und Weiterentwicklung) sozialer Phänomene betrachtet. Diese Phänomene werden nicht in mikro- und makrosoziale Phänomene unterschieden, sondern bewegen sich auf einer Ebene, wo sie auch mit einander verbunden sind. Soziale Praktiken können innerhalb von Unternehmen und Organisationen in ihrer Trennung und Verbindung untereinander untersucht werden, wobei Unternehmen als Bündel sozialer Praktiken verstanden werden können und wirtschaftliche Beziehungen können als Praktiken begriffen werden. Wie sehr die Unternehmenskultur oder die organisatorische Verfasstheit von Institutionen und ihre Ziele als soziale Räume begreifbar werden, die durch diese Praktiken konstituiert werden oder eben auch nicht konstituiert werden können, ist dann eine weitere Fragestellung.
Mit Praktiken und Planung befasst sich der Beitrag von F. Dünkmann, D. Haubrich und S. Runkel. Soziale Räume werden nicht nur durch die in ihnen handelnden Akteure und derer Praktiken belebt und gestaltet. Vielmehr ist es die Planung, die diese Räume vorstrukturiert, Voraussetzungen dafür schafft, dass man in ihnen handeln kann. Insofern tragen Planungsprozesse auch zur Lenkung und damit zur Verhinderung oder Förderung bestimmter sozialer Praktiken entscheidend bei. Diese Dialektik beschäftigt die Autoren auch, wobei sie die Beziehung zwischen Praktiken und Planung unter drei allgemeinen Aspekten betrachten. Unter Berücksichtigung der Planungskultur werden Potenziale identifiziert, die Praxistheorien haben, um Planungsprozesse in ihrem konkreten Vollzug zu verstehen (1). Praktiken werden als Objekt der Planung thematisiert. Wie werden planungstheoretische Konzepte praxistheoretisch übersetzt (2)? Und inwieweit können praxistheoretische Einsichten die Planung positiv verändern (3)? Diese drei Schritte werden ausführlich erörtert, wobei ein Planungsbeispiel aus Chile einiges anschaulich macht.
Die letzten beiden Beiträge behandeln sozialen Praktiken und ihre Operationalisierung in der empirischen Forschung.
C. Wenzel, C. Werner, K. Molitor, M. Hornung, S. Rominger und F. Faller fragen, wie Schatzkis site ontology in die empirische Forschung überführt werden könnte, handelt es sich doch eher um eine philosophische Arbeit als um eine soziologische. Sie fragen, was und wie etwas zu erheben ist, wobei es vor allem um die Beziehung des Getanenen (doings) zum Gesagten (sayings) geht. Verortete, an den Raum gebundene zeitlich bestimmte Aktivitäten werden mit anderen sozialen ebenso verorteten Phänomenen verknüpft. In der qualitativen Beobachtung wird deutlich, dass der Nexus zwischen doings und sayings nicht immer kongruent ist.
Die Autor*innen diskutieren dann qualitative Interviews als Methode, wobei sie einmal in einer sicher noch nicht weit entwickelten Methode der Interviews mit Doppelgänger*innen einen Impuls für die empirische Forschung erkennen. Dort wo Orte und Räume mit einer Erfahrung oder Erinnerung verbunden sind, ist sicher auch die beschriebene go-along/​walk-along/​walking interview hilfreich. Die Bewegung mit den Menschen durch den Raum zu den Orten der Erfahrung und Erinnerung hilft sicher den Interviewten und eröffnet den Zugang zu Wahrnehmungsprozessen, Erfahrungen Erinnerungen und verorteten Praktiken.
Klaus Geiselhart, Annika Hoppe-Seyler und Cosima Werner reflektieren in ihrem Beitrag praxologische Methodologien – nicht Methoden! Methodologien sind Wege zu wissenschaftlichen Ergebnissen; Methoden sind konkrete Praktiken, die angewandt werden, um zu wissenschaftlichen Ergebnissen zu kommen. Im Beitrag werden zwei grundlegende Fragen gestellt: 1. Wie lässt sich der Blick auf Praktiken und auf die Praxis operationalisieren? und 2. Wie soll man mit der praxistheoretischen Grundannahme umgehen, dass jegliche wissenschaftliche Theoriebildung als Praxis verstanden werden muss (362). Schließlich sind Forscher*innen involviert in den Forschungs- und damit auch Praxisprozess und stehen nicht außerhalb von ihnen. Weiter wird auf die Dialektik hingewiesen, die mit dem methodologischen Individualismus verbunden ist, nämlich dass in den Handlung von Individuen soziale Strukturen reproduziert werden, die das Handeln beschränken oder befördern. Die Handelnden sind dabei auch handlungsfähig, d.h. sie sind auch in der Lage, Strukturen zu beeinflussen und zu verändern. Individuen werden zu „Experten ihrer Handlungen“ (Werlen). Die Frage bleibt dabei, ob sie es dann immer noch sind, wenn sich die Strukturen verändern, ohne dass einzelne Individuen darauf Einfluss hatten. Schließlich sind es nicht dieselben Menschen, die Einfluss auf die Strukturen haben und sie verändern und die gleichzeitig unter den veränderten strukturellen Bedingungen handeln (müssen), Strukturen also reproduzieren. Hier wird als Ausweg der methodologische Situationalismus angeboten, also die mikrosoziologische (individuelle) Perspektive einnehmen zu können, ohne jene sozialen Strukturen zu negieren.
Nach weiteren Überlegungen in diesem Kontext kommen die Autor*innen zu dem Schluss, dass die Grounded Theory die methodische und methodologische Konsequenz ist, die eine gewisse Offenheit hat. Diese Offenheit wird dort deutlich, wo immer im Vollzug der jeweiligen Forschungsschritte reflektiert werden sollte, welche Methoden oder theoretische Prämissen neu formuliert werden sollten. Analyse und Theoriebildung stehen nicht am Ende einen Forschungsprozesses, sondern sind Bestandteil dieses Prozesses, also Begleiter eines Weges zum Forschungsziel.
Diskussion
Dieses Handbuch wird zunächst auch seinem Anspruch gerecht, umfassende Darstellungen aktueller praxistheoretischer Ansätze in der Humangeographie zu vereinen. Die Beiträge diskutieren ihre jeweiligen Fragestellungen auf einem hohen analytischen und sprachlichen Niveau und schließen jeweils mit einer ausführlichen Literaturliste ab, die hilft, sich in das Thema weiter zu vertiefen oder grundlegende Informationen abzurufen.
In den Beiträgen wird sehr unterschiedlich der Raumbezug des jeweils zu verhandelnden sozialen Phänomens oder Problems thematisiert. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass viele der diskutierten Aspekte aus anderen Disziplinen wie den Sozial- und Kulturwissenschaften stammen und aus der Sicht der Humangeographie „neu“ oder anders rezipiert werden. Bei dieser Rezeption geht man vielleicht selbstverständlich davon aus, dass der Raum immer mitbedacht wird und deswegen nicht immer noch mal erörtert werden muss. Den Leser*innen fällt das auf, wenn sie nicht aus der Humangeographie kommen.
Das hat aber zur Folge, dass oftmals die in den Beiträgen thematisierten Phänomene auch nicht nach sozialräumlichen Gesichtspunkten differenziert betrachtet werden. Gerade in den Beiträgen, die sich mit der Subjektivierung sozialer Praktiken beschäftigen, aber auch in den anderen wäre es hilfreich zu erfahren, wie z.B. Macht, Emotionen und Affekte, Intersektionalität oder Routinen und Gewohnheiten sozialräumlich eingebettet sind, wie sie sich in Städten und Dörfern oder in unterschiedlichen regionalspezifischen Kontexten manifestieren und lokale Lebenszusammenhänge prägen. Aber vielleicht bedarf es dazu eines weiteren Handbuchs!
Fazit
Insgesamt ist das Handbuch ein gelungener Wurf, der auch Angehörige anderer verwandter Disziplinen beeindruckt. Diesen sei das Handbuch ebenfalls dringend empfohlen, wenn sie sich mit der Raumbedingtheit sozialer Phänomene und Probleme beschäftigen.
Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em.
Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt
Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 27.11.2019 zu:
Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hrsg.): Handbuch Praktiken und Raum. Humangeographie nach dem Practice Turn. transcript
(Bielefeld) 2019.
ISBN 978-3-8376-4603-0.
Reihe: Sozial- und Kulturgeographie - Band 28.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26398.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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