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Maria Kühn: Ver-rückte Normalitäten

Rezensiert von Esther Stahl, 13.01.2020

Cover Maria Kühn: Ver-rückte Normalitäten ISBN 978-3-948058-02-9

Maria Kühn: Ver-rückte Normalitäten. Orientierungsversuche in Spannungsfeldern von Behinderung und geschlechtlich-sexueller Vielfalt. Hochschulverlag Merseburg (Merseburg) 2019. 116 Seiten. ISBN 978-3-948058-02-9.
Reihe: Sexualwissenschaftliche Schriften - Band 5.

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Thema

Nach dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Jahr 2008 lies sich ein Zuwachs an Methodenbüchern und Forschungen zum Thema Sexuelle Bildung und Sexuelle Selbstbestimmung von behinderten Menschen (Menschen, die von der Gesellschaft behindert werden) feststellen. Viele Werke haben das Ziel, zu verdeutlichen, dass die Menschrechte auf sexuelle und reproduktive Gesundheit auch behinderten Menschen zustehen. Maria Kühn nimmt in ihrem* Buch eine andere Sichtweise ein und kritisiert die Unterteilung in Sexualität von nicht-behinderten und behinderten Menschen. Auf Grundlage der differenz- und normalismustheoretischen Ansätze dekonstruiert sie* diese binäre Einteilung. Dabei setzt sich die Autorin* zum Ziel, Perspektiven für die pädagogische Praxis und die Wissenschaft anzubieten, die sowohl geschlechtlich-sexuelle Vielfalt als auch Behinderungserfahrungen miteinander denken.

Autorin

Die Autorin* Maria Kühn ist Referentin* für sexuelle Bildung (ISP), Sexualwissenschaftlerin* (M. A.), Psychologin* (B.Sc.) und Ergotherapeutin* (S.A.).

Entstehungshintergrund

Das Werk ist im Rahmen der Masterarbeit der Autorin* im Studiengang Angewandte Sexualwissenschaft entstanden.

Aufbau und Inhalt

In der Einleitung legt Maria Kühn das Anliegen ihrer* Arbeit folgendermaßen dar: „Ich untersuche, welche Vorstellungen in Bezug auf Behinderung und geschlechtlich-sexuelle Vielfalt bedeutsam sind und welche Auswirkungen diese auf die Praxis von Sexualpädagogik und sexueller Bildung haben.“ (8)

Dabei stellt sie* sich zentral die Fragen:

  1. Wie stellen sich Differenzen sowie zugrunde liegende Normalitätsvorstellungen im Kontext von Behinderung und geschlechtlich-sexueller Vielfalt her?
  2. Welche Ansätze ermöglichen es, Differenzen mit ihrer machtvollen Wirkung aufzugreifen, in Frage zu stellen und in Richtung einer gleichberechtigten Vielfalt zu verschieben? (9).

Im 2. Kapitel widmet sich Maria Kühn den Spannungsfeldern von Behinderung und geschlechtlich-sexueller Vielfalt über theoretische Ansätze zu Differenz und Normalismus und versteht damit beide Felder mit Bezug auf Link (Link 2013) als „diskursgenerierte Wissensgegenstände“ (16). Beide Differenzierungen würden hergestellt über die Abweichung von einer vermeintlich natürlichen Norm einer nicht-behinderten heterosexuellen Cis-Person (19 ff.).

Diese Differenzierungen beruhen auf machtvollen Hierarchien, die für behinderte Menschen und Menschen außerhalb der hetereosexuellen Norm, Diskriminierungen und Barrieren erzeugen (24 ff.). Über die Einteilung in Dichotomien werde unterstellt, dass vermeintliche Personengruppen über ein einzelnes Merkmal identifiziert und als homogene Gruppe beschrieben werden können (26 ff.). Maria Kühn kritisiert, dass über diese defizitäre Zuordnung entlang einer angenommenen Normalität keinerlei Orientierung an den Barrieren vorgenommen werde, die Teilhabe verhindern sowie die gesellschaftliche Verantwortung für inklusive Strukturen vernachlässigt werde (29).

Kapitel 3 bringt die, in Kapitel 2 eingeführten, Felder von Behinderung und geschlechtlich-sexueller Vielfalt zusammen, indem Schnittstellen von Behinderung, Geschlecht und Sexualität benannt werden und folgend der Diversity Ansatz als Möglichkeit einer produktiven Differenzdebatte aufgeführt wird. Dieses Zusammendenken werde sowohl von der Wissenschaft als auch in der Praxis bisher noch vernachlässigt (49), was sich auch an gesellschaftlicher Aberkennung von sexuellen und reproduktiven Rechten behinderter Menschen zeige (51 ff.). In diesem Kapitel stellt die Autorin* ebenfalls dezidiert heraus, welche zusätzlichen Barrieren behinderte Menschen erleben, die sich jenseits von Heteronormativität bewegen (59).

In Kapitel 4 analysiert Maria Kühn mit Hilfe einer dekonstruktivistischen Herangehensweise zwei Texte im Themenfeld „Sexuelle Bildung mit behinderten Menschen“ anhand der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring. Dabei ist ihr* Ziel zu ermitteln, wie in Texten der Sexualpädagogik und Sexuellen Bildung, Behinderung und geschlechtlich-sexuelle Vielfalt aufgegriffen und inhaltlich thematisiert werden (66). Die Textanalyse der Autorin* ergibt, dass in beiden Texten Differenzierungen (re-)produziert würden, indem homogenisierende Bilder von Beeinträchtigungen und „behinderter Sexualität“ gezeichnet und diese häufig unter einem defizitorientierten Blick betrachtet werden. Themen wie sexuelle Vielfalt und Konzepte von Elternschaft würden wenig vielfältig oder gar nicht gedacht (96 ff.).

Aus den Ergebnissen der Analyse leitet Maria Kühn über in einen eigens entwickelten barriere-orientierten Ansatz als Orientierungsversuch und Impuls für eine produktive Auseinandersetzung mit Differenz und Vielfalt (110 ff.). Dieses Plädoyer, weg von einer reinen Zielgruppenorientierung, hin zu einem barriere-orientierten Ansatz begründet Kühn damit, dass eine Zielgruppenorientierung es schwerer mache, „Überschneidungen und Wechselwirkungen von Differenzen selbstverständlich im Blick zu behalten und grundlegend mit zu thematisieren“ (116). Wobei sie* gleichzeitig betont, dass der barriere-orientierte Ansatz nur eine wichtige Perspektive beschreibt, die dann an ihre Grenzen gerät, wenn es darum geht einen sicheren Rahmen und/oder inhaltlichen Schwerpunkt besprechbar zu machen, beispielsweise bei der Thematisierung gemeinsamer Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen (116).

Fazit

Das Buch „Ver-rückte Normalitäten. Orientierungsversuche in Spannungsfeldern von Behinderung und geschlechtlich-sexueller Vielfalt“ von Maria Kühn zeichnet sich durch die differenzierte Sichtweise der Autorin*, die dezidierte und wissenschaftlich fundierte Grundlage und vor allem die Entwicklung eines eigenen Ansatzes in der sexuellen Bildungsarbeit mit behinderten Menschen und Fachkräften aus. Auf Grundlage differenz- und normalismustheoretischer Ansätze dekonstruiert Maria Kühn die Unterteilung in behinderte und nicht-behinderte Menschen sowie die unterschiedlichen Differenzkategorien, die im Bereich Geschlecht und Sexualität nach wie vor zugeschrieben werden. Diese Zuschreibungen findet sie* unter anderem in zwei deutschen Texten in Fachbüchern zur sexuellen Bildung mit dem Bezug auf behinderte Menschen. Auf Grundlage des diversity Ansatzes, der Textanalysen und des Theorieteils entwickelt die Autorin* einen barriere-orientierten Ansatz für die sexuelle Bildung, der zum Ziel hat, sowohl geschlechtlich-sexuelle Vielfalt als auch Behinderungserfahrungen miteinander zu denken.

Die Rezensentin sieht in diesem Ansatz eine wertvolle, theoretisch schlüssige Möglichkeit Sexueller Bildung in allen Bereichen einen neuen Aspekt hinzuzufügen. Sexuelle Bildung setzt sich zum Ziel lerner*innen-zentrierte Angebote zu gestalten. Eine Thematisierung von geschlechtlich-sexueller Vielfalt unter der Berücksichtigung von Barrieren wird nach Auffassung der Rezensentin je nach Lebenswelt sehr unterschiedlich ausfallen und muss je nach Gruppenkonstellation auch methodisch unterschiedlich ausgestaltet werden. Insofern ist nach Auffassung der Rezensentin für die Praxis an dieser Stelle die knapp aufgeführte Position von Maria Kühn durchaus zu betonen, dass der barriere-orientierte Ansatz einer von mehreren Ansätzen ist und – so die Auffassung der Rezensentin – alleine gedacht in der Praxis sexueller Bildung zu kurz greifen würde. Das wertvolle des Ansatzes steckt in einem Umdenken, Mitdenken, Dekonstruieren sowohl für Fachkräfte in der sexuellen Bildung als auch für Wissenschaftler*innen, die aufgefordert sind, die Leerstelle im Bereich Behinderung und geschlechtliche-sexuelle Vielfalt zu füllen, auch damit das Thema letztendlich zurück in die Gesellschaft wirken kann.

Literatur

Link, Jürgen (2013). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (5. Auflage). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rezension von
Esther Stahl
M.A. Angewandte Sexualwissenschaft
> Lehrkraft für besondere Aufgaben, Hochschule Merseburg
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Es gibt 3 Rezensionen von Esther Stahl.

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Zitiervorschlag
Esther Stahl. Rezension vom 13.01.2020 zu: Maria Kühn: Ver-rückte Normalitäten. Orientierungsversuche in Spannungsfeldern von Behinderung und geschlechtlich-sexueller Vielfalt. Hochschulverlag Merseburg (Merseburg) 2019. ISBN 978-3-948058-02-9. Reihe: Sexualwissenschaftliche Schriften - Band 5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26399.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.


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