Johannes Bellmann, Hans Merkens (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit als Versprechen
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 03.04.2020

Johannes Bellmann, Hans Merkens (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit als Versprechen. Zur Rechtfertigung und Infragestellung eines mehrdeutigen Konzepts. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2019. 286 Seiten. ISBN 978-3-8309-3958-0. 34,90 EUR.
Herausgebende
Johannes Bellmann ist seit 2009 Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 2016 Mitglied im Begleitergremium im Zuge der Entwicklung des Rahmenprogramms empirische Bildungsforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie seit 2018 Mitglied im Herausgeberkreis der „Zeitschrift für Pädagogik“. Promoviert wurde er 1999 in Münster mit der Dissertation „Die Konstruktion des Ökonomischen im Diskurs Allgemeiner Pädagogik“ und habilitiert 2006 an Humboldt-Universität zu Berlin mit der Schrift „Naturalistische Argumentationskontexte von John Deweys Pädagogik“.
Hans Merkens war bis 2006 Professor (seitdem emeritiert) für Empirische Bildungswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sein jüngstes Buch erschien 2018 im Berliner Logos-Verlag unter dem Titel „Anforderungen an die Schulinspektion“; „Schulinspektion“ wird in manchen Bundesländern auch „Schulevaluation“ genannt. Gemeint ist damit in beiden Fällen eine Maßnahme neben anderen, das Leistungsniveau in den Schulen Deutschlands zu heben.
Autor(inn)en
Die beiden Herausgeber treten im Buch auch als Autoren auf; Hans Merkens gleich zwei Mal. Die übrigen Artikel stammen von einer Frau und sechs weiteren Männern. Diese seien hier kurz porträtiert, damit auch Leser(innen), die keine Erziehungswissenschaftler(innen) sind, einen Eindruck davon bekommen, vor welchem Hintergrund und welcher Perspektive aus die einzelnen Beiträge verfasst wurden.
- Margret Kraul, seit 2017 Seniorprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M., war 2015 Herausgeberin des Sammelwerkes „Private Schulen“ (Wiesbaden: Springer VS) und Autorin des 2017 erschienenen Buches „Pädagogischer Anspruch und soziale Distinktion. Private Schulen und ihre Klientel“ (Wiesbaden: Springer VS).
- Dietrich Benner, bis 2009 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin ist ein international bekannter Pädagoge. Er gehörte schon früh zu den „Großen“ der bundesrepublikanischen Pädagogik. Einen Namen gemacht hat er sich bereits mit dem 1973 bei Paul List in München erschienenen Werk „Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. Eine Systematik traditioneller und moderner Theorien“. Das war damals in Heidelberg selbst für Pädagogik-Studierende im Nebenfach Pflichtlektüre.
- Ein anderes Buch musste gar nicht erst auf die Pflichtlektüre-Liste gesetzt werden: „Sozialisierung und Erziehung“ (Weinheim – Berlin – Basel: Beltz, 1969), (im Wesentlichen) die Dissertation Helmut Fends. Der war zuletzt von 1987 bis zu seiner Emeritierung 2006 Ordinarius für Pädagogische Psychologie an der Universität Zürich.
- Helmut Heid wurde 1969 auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Pädagogik an die junge Universität Regensburg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2002 blieb. In den Jahren 1982–1986 war er Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und von 1991 bis 2000 Vorsitzender des Fachausschusses Pädagogik der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
- Der 2018, in der Entstehungszeit des Buches, verstorbene Jörg Ruhloff wurde 1979 an die damalige Gesamthochschule Wuppertal, heute: Bergische Universität Wuppertal, für eine Professur für Systematische und Historische Pädagogik berufen, die er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2006 bekleidete. Im Jahr seiner Berufung erschien seine Habilitationsschrift „Das ungelöste Normproblem der Pädagogik. Eine Einführung“ (Heidelberg: Quelle & Meyer, 1979). Diese Schrift spielt in dem Teil der deutsch(sprachig)en Erziehungswissenschaft, die man als „bildungstheoretisch informierte“ oder „geisteswissenschaftlich orientierte“ bezeichnet, eine sehr bedeutsame Rolle.
- Fritz Oser war von 1981 bis zu seiner Emeritierung 2007, unterbrochen von Arbeiten an ausländischen Institutionen, Lehrstuhlinhaber „Pädagogik und Pädagogische Psychologie“ an der Universität Fribourg, Schweiz. Über die Fachgrenzen hinaus bekannt wurde er u.a. durch seine Arbeiten zum Lehrer(innen)-Ethos (vgl. etwa Oser, 2018).
- Florian Waldow ist seit 2013 Professor für Vergleichende und Internationale Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört u.a. die Thematik „Institutionelle, kulturelle und normative Grundlagen der Leistungsbeurteilung in der Schule im internationalen Vergleich“ (vgl. etwa Steiner-Khamsi & Waldow, 2018).
Entstehungsgeschichte des Buches
Das vorliegende Buch geht zurück auf mehrere Kolloquien einer Forscher(innen)gruppe zum Thema „Bildungsgerechtigkeit“, die auf Einladung der Herausgeber in den Jahren 2015 – 2017 an der Freien Universität Berlin und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattgefunden haben. Dabei wurden frühere Fassungen von Beiträgen diskutiert (und ggf. verändert); davon ausgenommen sind die Beiträge von Fritz Oser, der später entstand, und Florian Waldow, der angefragt wurde, um die international-vergleichende Perspektive zu beleuchten. Das ist der organisatorische Aspekt der Entwicklungslinie.
Daneben gibt es aber auch noch einen ideengeschichtlichen. Das Buch hat (auf S. 5) eine Widmung „In Erinnerung an Jörg Ruhloff († 3. Dezember 2018)“. Es wäre zu kurz gegriffen, würde man dies lediglich als Höflichkeitsgeste gegenüber einem während der Arbeit verstorbenen Kollegen ansehen. Es ist mehr als dies; nämlich eine Referenz gegenüber einer in bestimmten Kreisen der deutschen Erziehungswissenschaft hoch angesehenen Persönlichkeit. Jörg Ruhloff hat nach dem „PISA-Schock“ von 2001 in mehreren Beiträgen das Verhältnis von Bildungspolitik, Bildungstheorie und Bildungsforschung thematisiert. Und sich eindeutig positioniert: Er gehörte 2005 zu den sieben Verfassern der „Fünf Einsprüche gegen die technokratische Umsteuerung des Bildungswesens“ unter der Headline „Das Bildungswesen ist kein Wirtschafts-Betrieb“ (Frost, 2006, S. 12–15), die sich für ihn mit den (Reiz-)Wörtern „Pisa“ und „Bologna“ verbinden. Die zentrale These lautet: „Die nun ins Werk gesetzten Maßnahmen aber der politischen administrativen Bevormundung, der technokratischen Steuerung und Kontrolle und der einseitigen ökonomischen Indienstnahme von Erziehung, Studium und Forschung sind ungeeignete Mittel, den Mängeln in Schule und Hochschule abzuhelfen“ (Frost, 2006, S. 12).
Aus den „Fünf Einsprüchen“ entwickelten die Sieben nach zahlreichen positiven Rückmeldungen rasch die zehn Punkte der „Frankfurter Erklärung“ (Frost, 2006, S. 16–18), mit der Hinweise gegeben werden sollen, „was vordringlich geschehen sollte, damit die unerwünschten Effekte der technokratischen Revolution korrigiert werden können“ (Frost, 2006, S. 16). In der „Unterschriften- und Unterstützerliste“ diese Erklärung finden sich viele (aktuelle oder ehemalige) Inhaber(innen) erziehungswissenschaftlicher Lehrstühle; darunter auch zwei Autoren des vorliegenden Buches: Dietrich Benner und Helmut Heid. Im vorliegenden Buch finden sich nach der Einführung des Erstherausgebers Johannes Bellmann auf den ersten drei Plätzen die Beiträge von Dietrich Benner, Jörg Ruhloff und Helmut Heid.
Thema
Man kann das Thema mit dem Buchtitel, Haupt- und Untertitel zusammen betrachtet, als hinreichend umrissen ansehen. Es scheint aber hilfreich, das Thema (in Anlehnung an Bellmann, S. 12–13) in siebenerlei Hinsicht zu spezifizieren:
- „Bildungsgerechtigkeit“ ist eine recht komplexe Angelegenheit. Umfasst sind philosophische und ethische Fragen zum Begriff/Konzept von „Gerechtigkeit“ im allgemeinen und „Bildungsgerechtigkeit“ im besonderen, theoretische und empirische Fragen zu Erscheinungsformen und Ursachen von Bildungsungleichheit, (bildungs-)politische Fragen nach Instrumenten und Maßnahmen, von denen man sich eine Verminderung von Bildungsungerechtigkeit verspricht, und schließlich auch Fragen nach dem Ort der Kategorie „Bildungsgerechtigkeit“ im Begründungszusammenhang Allgemeiner Erziehungswissenschaft.
- All diese Fragen lassen sich zudem sowohl in ihrer historischen Tiefendimension als auch international-vergleichend betrachten.
- Hinzu kommt, dass das Thema in allen Bildungsbereichen über die menschliche Lebensspanne hinweg – eine je spezifische – Relevanz besitzt: von der Pädagogik der frühen Kindheit bis zur Erwachsenenbildung – mit der schulischen Bildung, die im vorliegenden Band vorwiegend im Blick ist, als bedeutsame Mitte.
- Ferner spielen Fragen von Bildungsgerechtigkeit auf unterschiedlichen Systemebenen eine Rolle: von der Ebene des Erziehungssystems als gesellschaftlichem Teilsystem und den Fragen seiner (bildungs- )politischen Steuerung, über die Ebene der Organisation (von der Bildungshoheit der Länder bis zur einzelnen Schule) bis hin zur Interaktionsebene und der Frage, inwiefern Bildungsgerechtigkeit nicht auch mit der Qualität von schulischen Sozialbeziehungen zusammenhängt.
- Außerdem bringt es die systemebenenübergreifende Relevanz von Fragen nach Bildungsgerechtigkeit sich, dass immer wieder klärungsbedürftig ist, wer eigentlich (die Lehrerschaft, die Politikerzunft, Gesetzsprechung u.a.m.) die Adressat(inn)en der Forderung sind, das Versprechen von Bildungsgerechtigkeit einzulösen.
- Zudem stellt sich die Frage, welches Konzept von „Gerechtigkeit“ bei der Rede von Bildungsgerechtigkeit faktisch die Leitungsrolle (sei dies nun bewusst oder nicht) spielt: Verteilungs-, Teilhabe- oder Anerkennungsgerechtigkeit?
- Und schließlich: Der Diskurs der Bildungsgerechtigkeit wird von recht verschiedenen Prinzipien dominiert. Genannt seien hier die drei am häufigsten aufgeführten: Leistungsprinzip, Chancengleichheit, bedarfsgerechte individuelle Förderung.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus zehn in sich abgeschlossenen und mit eigenem Literaturverzeichnis versehenen Teilen, denen sich knappe Angaben zu Autorin und Autoren anschließen. Der erste Teil stammt von Johannes Bellmann und der letzte von Hans Merkens; sie stellen gleichsam eine Rahmung dar.
Die zehn Teile im Einzelnen:
Mit Bildungsgerechtigkeit als Versprechen. Zur Einleitung in den Band bietet der Erstherausgeber Johannes Bellmann eine Horizonteröffnung im besten Sinne des Wortes: Er führt die Mehrdimensionalität des Konstrukts „(Bildungs-)Gerechtigkeit“ prägnant vor Augen. Ferner bietet er eine prägnante Kurzdarstellung der nachfolgenden Beiträge.
Dietrich Benner sucht in seinen Ausführungen Über Gerechtigkeit in pädagogischen Kontexten „zu klären, wie sich die pädagogische Grundlagendiskussion, die erziehungswissenschaftliche Forschung und bildungspolitische Reformen zu diesem Streit [über Gerechtigkeit in pädagogischen Kontexten] verhalten können. Sie erörtern in vier Abschnitten die Frage, was in pädagogischen Kontexten unter Gerechtigkeit zu verstehen ist und ob es überhaupt einen ausgewiesenen pädagogischen Gerechtigkeitsbegriff gibt, von dem aus der angesprochene Streit beurteilt werden kann“ (S. 23).
Jörg Ruhloff versteht die Ausführungen seines Beitrags Bildungsgerechtigkeit? als Problemgeschichtliche Ergänzungen zu den Bennerschen Darlegungen. Man kann sich den Beitrag am besten anhand der vom Autor gezogenen Schlüsse vergegenwärtigen:
- „Erstens: Gerechtigkeitsstreben und Bildungsstreben gehören zusammen, um das gemeinsame Leben erträglich zu gestalten.
- Zweitens: Weder kann Bildung ausschließlich durch eine gerechte Bahnung von Bildungswegen gewährleistet werden noch ist Gerechtigkeit allein und unmittelbar von Bildung abhängig…
- Drittens: Erziehung und Bildung sind Voraussetzungen für ein angemessenes Verständnis der Problematik von Gerechtigkeit auf dem geschichtlich erreichten kulturellen und zivilisatorischen Niveau des Zusammenlebens“ (S. 57–58).
Helmut Heid bietet in Gerechtigkeit? Was im Diskurs über Bildungsgerechtigkeit nicht außer Acht bleiben sollte einen sehr tiefen und hoch differenzierten Blick auf das thematische Gebiet. Er spart dabei nicht mit klarer eigener Positionierung. Zur Anschauung möge seine Betrachtung der drei Prinzipien: Leistungsprinzip, Chancengleichheit und begabungsgerechte Förderung dienen. „Diese drei Prinzipien hatten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gesellschaftspolitische Sprengkraft. Und es ist nicht zu bestreiten, dass sie die Bildungspraxis im Sinne ihrer ursprünglichen Intention auch beeinflusst haben. Dass aber ‚die Schule‘ dennoch auf vielfältige Weise zur (Re-)Produktion genau jener sozialen Lernerfolgsungleichheiten beiträgt, die durch die Realisierung der drei Prinzipien vermieden werden sollte, bedarf einer Erklärung …“ (S. 85).
Helmut Fend vereint in Drei Begriffe der Bildungsgerechtigkeit – Normendiskurse und empirische Analysen Dreierlei: die definitorische Klärung dreier im Bildungskontext relevanter Gerechtigkeitsbegriffe, die Darstellung bedeutender bildungssoziologischer Resultate und die bewertende Betrachtung bildungspolitischer Maßnahmen. Die drei Gerechtigkeitsbegriffe, um dies nachtragend zu klären, sind: Gleichbehandlung/Prozessgerechtigkeit, kompensatorische und meritokratische Gerechtigkeit.
Hans Merkens Buchbeitrag Bildungsungleichheit – Bildungsgerechtigkeit. Das Beispiel Berlin ist mit über 80 Seiten der bei Weitem größte Buchbeitrag. Ihm in einer kurzen Skizzierung gerecht zu werden, fällt damit noch schwerer. Mögen seine Worte, mit denen er den Beitrag eröffnet, einen Verstehenshorizont eröffnen: „Bildungsungleichheit und Bildungsgerechtigkeit sind zwei Themen, die in der Erziehungswissenschaft in den letzten 20 Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert worden sind.
- Bildungsungleichheit wird im Bildungssystem als Manko angesehen, wenn für sie soziale Ursachen identifiziert werden können. Dieser Frage wird im ersten Teil der folgenden begrifflichen Klärungen nachgegangen.
- Deren zweiter Teil ist der Präzisierung des Begriffs Bildungsgerechtigkeit vorbehalten. Dabei werden im Anschluss an die Gerechtigkeitsdiskussion in der Volkswirtschaftslehre auch Varianten einbezogen, die im üblichen Diskurs der Erziehungswissenschaft bisher übersehen worden sind. Der Blick wird insbesondere auf die Bedarfs-, Startchancen [sic!] und Prozesschancengerechtigkeit gelenkt“ (S. 123).
Margret Krauls Beitrag Private Schulen und Bildungsgerechtigkeit. Ein Widerspruch? Besteht aus zwei Teilen: einem historischen Überblick über die Entwicklung privater Schulen im Kontext der Entwicklung der öffentlichen sowie der Entwicklung privater Schulen in den letzten Jahrzehnten unter dem Gesichtspunkt der Bildungsgerechtigkeit; beim zweiten Punkt wird zwischen Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit differenziert.
Im sehr komplexen Abschnitt Das Chancenausgleichsdilemma bei Lehrkräften. Oder: Bildungsgerechtigkeit von innen werden von Fritz Oser vier Fragen verfolgt:
- „Eine Frage a) ist, ob Schulleistung, selbst wenn [soziale] Disparitäten überwunden würden, die einzige Selektionsgröße [etwa beim Hochschulzugang] sein muss, ob nicht andere Werte zur Geltung kommen müssten.
- Eine weitere Frage b) lautet, wann diese negativen Zustände, die Bildungsdisparitäten zu sein scheinen, eine moralische Verwerflichkeit darstellen.
- Eine dritte Frage c) lautet, welches die Rolle der Lehrer und Lehrerinnen (LuL) im Prozess möglicher Überwindung von Status-, Herkunfts- und Sozialschichteffekten ist.
- In dieser letzten Frage ist jene viel umfassendere enthalten, nämlich d) ob die Schule dazu im Stande sei oder sein müsse, auf der Basis einer allgemeinen Bildungsgerechtigkeit jene Unterschiede auszugleichen, die die Gesellschaft nicht ausgleichen kann“ (S. 236).
Florian Waldows empirische Analyse Akteurskonstellationen und die Gerechtigkeit von schulischer Leistungsbeurteilung in Deutschland, Schweden und England lässt sich dem Ergebnis nach so zusammenfassen:
- „Bildungssysteme in westlich-demokratisch verfassten politischen Gemeinwesen mögen zumindest in ihrer großen Mehrzahl dem meritokratischen Mythos anhängen, ihre diesbezügliche faktische Isomorphie endet jedoch vermutlich auf einer relativ hohen Abstraktionsebene. Der geteilte Mythos führt nicht zu identischen Bewertungskulturen“ (S. 274).
- „In Deutschland gründet die Leistungsbeurteilung von Schüler/innen immer noch hauptsächlich in einer nicht-expliziten professionellen Praxis, in die Lehrkräfte während ihrer Ausbildung hineinsozialisiert werden“ (S. 270).
- „Im schwedischen Fall erscheint die Leistungsbeurteilung von Schüler/innen als eine Praxis, deren Regeln und Grundlagen in stärkerem Maße explizit gemacht werden, zumindest, wenn man sich die intendierte ‚institutionelle Logik‘ des Systems ansieht“ (S. 271).
- „In England befinden sich die Schlüsselakteure für allokationsrelevante summarische Leistungsbeurteilung nicht innerhalb der Schulen, sondern in Gestalt der Examinationsagenturen außerhalb“ (S. 271).
Hans Merkens, der Zweitherausgeber unternimmt im Abschlusskapitel „Bildungsgerechtigkeit. Eine nicht einlösbare Herausforderung?“ den Versuch, eine Summe der in vorstehenden Beiträgen vorgebrachten Gesichtspunkte und angestellten Überlegungen zu ziehen – und auf nicht beachtete Punkte wie etwa Schüler(innen) mit Migrationshintergrund oder den breiten internationalen Diskurs zu Social Justice in Education.
Diskussion
Es gibt kein zweites deutschsprachiges Buch, in dem die mit dem Begriff/Konzept „Bildungs(un)gerechtigkeit“ verbundenen Fragen breiter und tiefer erörtert worden wären. Es ist unstrittig, dass es soziale Ungleichheit/soziale Disparitäten an allen für das deutsche Bildungssystem charakteristischen fünf Schwellen gibt
Das deutsche Bildungssystem ist charakterisiert durch eine Gliederung in fünf Bildungsstufen mit aufeinander aufbauenden Bildungseinrichtungen; die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen nennt man Schwellen. An jeder dieser Schwellen wirken Kräfte, die soziale (aber auch sonstige) Ungleichheit bewirken und diese von Schwelle zu Schwelle vergrößern. Die fünf Schwellen sind im einzelnen:
- beim Übergang von der Primarstufe auf die Sekundarstufe I
- beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II
- beim Erwerb der Studienberechtigung
- bei der Studienaufnahme (vgl. Heekerens, 2018)
- beim (ersten) Hochschulabschluss.
Schon mit der Einschulung ist soziale Ungleichheit verbunden: In der Regel kommen Kinder aus besseren Elternhäusern in Grundschulen, die günstigere Förder- und Lernmöglichkeiten bieten. Man darf hier nicht nur an Internatsschulen oder Privatschulen wie Montessori- oder Waldorfschulen denken. Man hat auch in Rechnung zu stellen: Besser gestellte Eltern wohnen eher in privilegierten Schulsprengeln mit Grundschulen, die aus verschiedenen Gründen – von der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft bis zur (Selbst-)Selektion der Lehrerschaft – günstigere Förder- und Lernmöglichkeiten bieten (vgl. Heekerens, 2017a). Dass die auch in weniger privilegierten Schulsprengeln eingerichteten Ganztagsschulen eine kompensatorische, sprich soziale Eingangsungleichheit mindernde Wirkung hätten, ist bloße Propaganda (Heekerens, 2017b).
Und schon vor der Einschulung gibt es in Sachen „Bildung“ soziale Ungleichheit: Die in sozioökonomischer Hinsicht besser Gestellten bringen ihre Kinder nicht nur häufiger und früher in vorschulische Einrichtungen, sondern verstärkt auch in solche mit höherem Anregungspotenzial, in Waldorf- und Montessori-Kitas etwa.
All diese empirischen Sachverhalte finden im vorliegenden Buch wenig, in den meisten Beiträgen gar keine Erwähnung. Meist bewegen sich die Ausführungen in den unterschiedlichen Aufsätzen des vorliegenden ammelwerkes auf einem, das die Empirie für eine despektierliche Zumutung und den Elfenbeinturm für den einzigen Ort wahrer Erkenntnis hält. Insofern könnte man das vorliegende Buch einfach abtun mit dem Hinweis, es sei nichts weiter als mehrheitlich ein Produkt von in die Jahre gekommenen old white men einer Disziplin, die sich von PISA gekränkt fühlt und – objektiv beurteilt – ihre besten Jahre hinter sich hat. Zur Illustration: Das bayerische Wissenschaftsministerium, wahrlich kein Hort der Revolution, aber auch kein Ort des Konservatismus, hat zugestimmt, dass im Jahr 2010 das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudie als ein an die TU München angeschlossenes (An-)Institut gegründet wurde. Zu dessen zentralen Aufgaben gehört die Planung, Durchführung und Auswertung der PISA-Studien in Deutschland.
Die PISA-Studien haben seit PISA 2000 der deutschen Erziehungswissenschaft eine gleich doppelte Kränkung zugefügt, die durch nachfolgende PISA-Studien und durch andere international vergleichende Schulleistungsstudien verstärkt wurde: Das deutsche Schulsystem ist hinsichtlich Leistung mittel- und betreffs sozialer Benachteiligung übermäßig. Angesichts dieser Faktenlage kann man das vorliegende Buch einfach so beurteilen, dass es eine letzte Verteidigungsschrift derer sei, die bar jeder Kenntnis empirischer Forschung, aber vollen Glaubens an die Überlegenheit deutscher Bildungsbürgerlichkeit sind. Man kann das vorliegende Buch so bewerten. Aber man kann sich auch anders verhalten: statt bloßem Abwerten ein differenziertes Abwägen.
So ist, wenn man Buchausführungen ernst nimmt, ja durchaus fraglich, wie sinnvoll es sei, all die angesprochenen Aspekten von sozialer (und sonstiger) Disparität über einen Kamm zu scheren, indem man in jedem Fall das einerseits vereinheitlichende, andererseits simplifizierende Etikett „Bildungsungerechtigkeit“ aufklebt. Das ist die erste vom vorliegenden Buch aufgeworfene Frage. Und sie scheint bedeutsam. Denn was haben wir denn in pragmatischer, also auf mögliche Veränderung hin angelegter Hinsicht davon, wenn wir von „Bildungsungerechtigkeit“ sprechen hinsichtlich so unterschiedlicher Sachlagen wie:
- Es ist in Berlin leichter als in Bayern ein Abitur zu bekommen, das den Zugang zu einem Medizin- oder Psychologiestudium ermöglicht.
- Bei gleichem Notenschnitt in den relevanten Fächern erhält – in Bayern und anderswo – ein Arztkind von den zuständigen Klassenlehrer(inne)n eher eine Gymnasialempfehlung als ein Arbeiterkind.
- Bald siebenmal so viele Kinder aus einem Akademikerhaushalt wie Kinder mit Eltern ohne Berufsausbildung beginnen ein Studium (Heekerens, 2018).
- Der Einfluss des Elternhauses auf bildungsrelevante Kompetenzen ist in Deutschland mindestens zweimal so groß wie in Estland (Heekerens, 2020).
Die zweite Frage, die von den Beiträgen des vorliegenden Buches aufgeworfen wird, lautet: Kann man von „Ungerechtigkeit“ in Sachen Bildung eigentlich sprechen, wenn es von der oder dem Betreffenden und Betroffenen selbst nicht so empfunden wird. Mit solcher Frage betritt man (und frau) ein weites Feld. Ob dieses ein fruchtbarer Garten oder ein wüster Sumpf ist, hängt vom Einzelfall ab. Generell aber gilt: Man (und frau) kann – auch in Sachen „Bildung“ – nur dann über „(Un-)Gerechtigkeit“ reden, wenn der Subjektbezug nicht außen vor gelassen wird. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, rechne ich dem Buch als zweiten Verdienst an.
Einen dritten sehe ich darin, dass im vorliegenden Buch mit allem Ernst die Frage gestellt wird: Soll und kann die (Vor- bis Hoch-)Schule richten, was der Staat und sonstige Funktionssysteme der Gesellschaft offensichtlich nicht leisten (können): für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen? Ich will das – in Luhmannscher Sprache – gesellschaftliche Funktionssystem „Erziehung“ nicht aus seiner bundesbürgerlichen Pflicht entlassen, seinen Teil dazu beizutragen, „Chancengleichheit“ zu ermöglichen und für „Leistungsgerechtigkeit“ zu sorgen. Aber ich will auch dem gesellschaftlichen Funktionssystem „Erziehung“ nicht die ganze Bürde aufladen. Dennoch nehme ich es weiterhin in die Pflicht und notiere als Zeitzeuge: Das gesellschaftliche Funktionssystem „Erziehung“ versagt seinen Beitrag zur Minderung sozialer Ungleichheit, indem es das Projekt „Ganztagsschule“ vor die Wand gefahren hat (Heekerens, 2017b); mehr als „Betreuen“ ist von der organisierten Lehrerschaft und einer desorganisierten Sozialen Arbeit in Sachen „Ganztagsschule“ nicht übrig gelassen worden.
Fazit
Das vorliegende Buch gehört auf die Pflichtlektürenliste all jener, die zum Thema „Bildungs(un)gerechtigkeit“ vertieft nachdenken wollen. Man kann das Buch lesen im Verbund mit einer ebenfalls in der Tradition der deutschen Erziehungswissenschaft verfassten Publikation „Bildungsgerechtigkeit“ (Eckert & Gniewosz, 2017; vgl. Heekerens, 2017c). Man muss es aber lesen im Zusammenhang mit den zahlreichen Publikationen, die im Einzelfall (vgl. etwa Heekerens, 2017d, 2020) aufzeigen, welche empirischen Sachverhalte mit dem Etikett „Bildungs(un)gerechtigkeit“ jeweils konkret markiert sind.
Literatur
Eckert, Th. & Gniewosz, B. (Hrsg.) (2017). Bildungsgerechtigkeit. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Heekerens, H.-P. (2017a). Auf gute Nachbarschaft – Die Wohnumgebung von Kindern beeinflusst deren spätere Lebensqualität. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 37(1), 104–110.
Heekerens, H.-P. (2017b). Ganztagsschule – Viel Lärm um nichts. socialnet Materialien (https://www.socialnet.de/materialien/27809.php; letzter Zugriff am 19.2.2020).
Heekerens, H.-P. (2017c). Rezension vom 24.01.2017 zu Eckert, Th. & Gniewosz, B. (Hrsg.) (2017). Bildungsgerechtigkeit. Wiesbaden. socialnet Rezensionen (https://www.socialnet.de/rezensionen/22103.php, letzter Zugriffs am 10.01.2020).
Heekerens, H.-P. (2017d). PISA und die Bildungsgerechtigkeit – Denkanstöße aus Anlass von PISA 2015 und TIMSS 2015. socialnet Materialien (https://www.socialnet.de/materialien/27661.php, letzter Zugriff am 10.01.2020)
Heekerens, H.-P. (2018). Hochschulzugang und soziale Ungleichheit in Deutschland heute. socialnet Materialien (https://www.socialnet.de/materialien/28150.php; letzter Zugriff am 19.2.2020).
Heekerens, H.-P. (2020). PISA. socialnet Lexikon (https://www.socialnet.de/lexikon/PISA; letzter Zugriff am 19.2.2020).
Frost, U. (Hrsg.) (2006). Unternehmen Bildung. Die Frankfurter Einsprüche und kontroverse Positionen zur aktuellen Bildungsreform. Paderborn u.a.: Schöningh.
Oser, F. (2018). Unterrichten ohne Ethos? In H.-R. Schärer & M. Zutavern (Hrsg.), Das professionelle Ethos von Lehrerinnen und Lehrern. Perspektiven und Anwendungen (S. 57–72). München – New York: Waxmann.
Steiner-Khamsi, G. & Waldow, F. (2018). PISA for scandalisation, PISA for projection: the use of international large-scale assessments in education policy making – an introduction. Globalisation, Societies and Education, 16(5), 557–565 (https://doi.org/10.1080/14767724.2018.1531234).
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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