Georg Auernheimer: Globalisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Walter Wangler, 23.01.2020

Georg Auernheimer: Globalisierung.
PapyRossa Verlag
(Köln) 2019.
131 Seiten.
ISBN 978-3-89438-689-4.
D: 9,90 EUR,
A: 10,20 EUR.
Reihe: Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie.
Thema
Behandelt wird eines der brisantesten Themen unserer Zeit: die immer noch zunehmende weltweite, besonders ökonomische Verflechtung und ihre Folgen für Nationen und Völker, für soziale Klassen und jeden Einzelnen.
Autor
Georg Auernheimer, Prof. em. Dr. phil, Jg. 1939, lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln. Hat sich, laut Umschlagtext, „auf das Thema Globalisierung spezialisiert“.
Aufbau und Inhalt
Das schmale Bändchen ist in sieben Kapitel unterteilt. Kapitel I enthält einen geschichtlichen Rückblick, der um die Mitte des vorigen Jahrtausends beginnt: „Welthandel und Weltmarkt“, so zitiert der Autor Karl Marx, „eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals“. Und Globalisierung, so Auernheimer, „ist mit der Entwicklung des Kapitalismus gleichzusetzen“. Von „eigentlicher Globalisierung“ könne allerdings „erst ab Mitte oder Ende des 18. Jahrhunderts“ die Rede sein, als sich im Gefolge von Industrialisierung und Freihandel ein Weltmarkt bildete, der diesen Namen tatsächlich verdiente.
Anschaulich und mit zahlreichen Beispielen beleuchtet Auernheimer das in jener Zeit für die unterjochten Völker keineswegs segensreiche Wirken iberischer, britischer und holländischer Kolonialgesellschaften, etwa der East India Company.
Um 1900 war die Welt „politisch vollständig aufgeteilt“ und es begann nach Helphand die „Sturm- und Drangperiode des Kapitals“. Kartelle und Trusts entstanden, Bankkapital und Industriekapital vereinigten sich zum „Finanzkapital“, das nach Lenin „seine Netze über alle Länder der Welt aus(wirft)“.
Als eben dieser Lenin 1917 in Russland den – dort allerdings noch arg jungfräulichen – Kapitalismus liquidierte, begann eine Entwicklung, die spätestens Mitte des vorigen Jahrhunderts (Südosteuropa und China hatten der Marktwirtschaft inzwischen ebenfalls abgeschworen) den weltweiten ökonomischen kapitalistischen Einheitsverbund auflöste. Auernheimer spricht von einer Zeit der „halbierten Globalisierung“.
Doch schon lange vor dem Untergang der nichtkapitalistischen Hälfte begann der Westen, die letzten Fesseln ungehemmten kapitalistischen Wirtschaftens zu lösen: Ronald Reagan und seine Chicagoer Schule, Margaret Thatcher und ihr Vernichtungskampf gegen die Gewerkschaften waren Beispiele für Staatsrückzug und neoliberales Durchsetzungsvermögen in allen Lebensbereichen.
Die neue Beweglichkeit des Kapitals ist Kapitel II überschrieben. War die Globalisierung im „imperialen Zeitalter“ durch Kapital- und Warenexport sowie koloniale Ausbeutung geprägt, so sind es heute die Produktionsverflechtungen, erleichtert durch die „digitale Revolution“ und die „beinahe revolutionären Fortschritte der Logistik (Frachtcontainer)“.
Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisation sind wichtige Akteure im Globalisierungsprozess. Nicht selten führen die von ihnen initiierten „Strukturanpassungsprogramme“ zur Vernichtung subsistenzwirtschaftlicher, das heißt auf Selbstversorgung beruhender Gesellschaftssysteme. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit und für Unzählige der Zwang, zu versuchen, dem Elend durch Arbeitsemigration zu entkommen. Letztere zeigt sich keineswegs nur in der Weise, dass Menschen selbst aus entlegenen Dörfern Afrikas oder Südamerikas den Weg in den Norden suchen. Auch Australien, Saudi-Arabien und die Golfstaaten, Südkorea, Malaysia und Thailand sind Ziele und „Magneten“ der Wanderungsströme.
Kapitel III befasst sich mit Staaten im Standortwettbewerb. Die Vermittlungsfunktion des Staates zwischen den Klasseninteressen tritt seit den 1990erJahren in den Hintergrund. „Für den bürgerlichen Staat“, so Auernheimer, „ist ein Zielkonflikt entstanden zwischen seiner bisherigen Aufgabe, die Ausbeutung der Arbeit zu begrenzen und für eine moderate Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu sorgen, und dem neuen Zwang, im Standortwettbewerb für Kapitalanlagen attraktiv genug zu bleiben, um keine Arbeitsplätze zu verlieren“.
Manche Länder beherbergen Konzerne, deren Kapitalreserven größer sind als der Staatshaushalt. Allein der Hedgefonds BlackRock mit seinem deutschen Statthalter Friedrich Merz verfügt über fast sieben Billionen US-Dollar. Währungsspekulanten können Nationen ruinieren, der Finanzmarkt ist, so der frühere Deutsche-Bank-Chef Breuer, zur „fünften Gewalt“ geworden. Die Staaten befinden sich weltweit in einer „Entmachtungsspirale“. Es entsteht ein „Unterbietungswettbewerb“ im Arbeitsrecht, bei den Steuern und somit auch bei der Qualität öffentlicher Leistungen.
Das Elend der globalisierten Landwirtschaft beschreibt Kapitel IV. Noch immer ist etwa die Hälfte der Weltbevölkerung in der Landwirtschaft tätig – Grund genug, diesen Wirtschaftszweig nicht außen vor zu lassen, auch wenn sich in Deutschland der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen nur noch zwischen einem und zwei Prozent bewegt. Bereits 1995 sprach Hobsbawm vom „Untergang des Bauerntums“. Alle protektionistischen EWG-Verordnungen und Subventionen konnten den Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft nicht verhindern.
Auernheimers Urteil ist umfassend negativ: Im „Globalen Norden…vernichten die Landwirte in einem riskanten Geschäftsfeld mit ihrer Produktion die Naturgrundlagen ihrer eigenen Einkommensquelle“; im „Globalen Süden“ kämpfen die Landwirte, „bedrängt vom Freihandel, von Landraub und Strukturanpassungsprogrammen um ihre Existenz.“ Beide Gruppen indes sind letztlich der Konkurrenz der Agrarunternehmer unterlegen, die mit ihren riesigen Monokulturen die Umwelt „en gros zerstören“.
Mit den Supranationalen Institutionen beschäftigt sich Kapitel VI. In dem Maße, wie sich Einzelstaaten außerstande sehen, den weltweit tätigen Konzernen Paroli bieten zu können, wächst die Hoffnung, dass überstaatliche Institutionen und Zusammenschlüsse hier Abhilfe schaffen. Doch weit gefehlt: „die Verlagerung politischer Entscheidungen auf Ebenen oberhalb der Nationalstaaten“ hat, so Auernheimer, „eher Kapitalinteressen zum Durchbruch verholfen“. Weder EU noch OECD, weder WTO noch UN, auch nicht IWF und GATS, EZB und TRIPS und GATT und TTIP und wie die supranationalen Schöpfungen alle heißen, haben verhindert, dass neoliberales Denken und Handeln sich überall, bis in den letzten Winkel der Erde, durchgesetzt hat. Selbst die Nichtregierungsorganisationen, die sogenannten NGO, erhalten von Auernheimer eine schlechte Note: „sie spielen zum Teil eine intransparente und ambivalente, oft nur systemstabilisierende Rolle“.
Mit Klassenkampf auf ganzer Breite ist das vorletzte, VI. Kapitel überschrieben. Hier wird eine neue Abkürzung eingeführt: TTC. Sie steht für Transnational Capitalist Class. Im Zuge der Globalisierung, so der britische Politologe Sklair, habe sich eine Klasse herausgebildet, die nicht mehr einzelne Volkswirtschaften im Blick habe, sondern den Weltmarkt. Ihre Angehörigen verfolgten globale Strategien und schmiedeten grenzüberschreitende Allianzen, weit über den engen Bereich des Ökonomischen hinaus. Die Einbindung von Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern, nicht zuletzt in Gremien wie dem Weltwirtschaftsforum und vielfältiges Kultur- und Sozialsponsoring sind Kennzeichen des Wirkens dieser neuen Klasse. Mit ihren Stiftungen – Bertelsmann, Gates, Ford, Rockefeller – bestimmen sie die Richtung von Forschungsförderung und setzen Schwerpunkte je nach „philanthropischer Neigung“ des Stifters. Roy spricht vom „Imperialismus der Wohltätigen“.
Auch hier begegnet Auernheimer den Gegenbewegungen mit einiger Skepsis. Das Weltsozialforum, Attac, Greenpeace und ähnliche NGO haben sicherlich ihre Verdienste, sind aber vielfach nicht basisdemokratisch organisiert und die „Militanz mancher Aktionen kontrastiert mit ihrer politischen Abstinenz“.
Und die Gewerkschaften? Auernheimer meint, mit der Gründung des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) im Jahre 2006 und der IndustriALL Global Union im Jahre 2012 habe die „Gewerkschaftsbewegung endlich eine Antwort auf die Globalisierung gefunden“. Siehe dazu unten, Abschnitt Diskussion.
Das letzte Kapitel VII fragt: China – die zukünftige Hegemonialmacht? Das (kommunistische?) China scheint einen Dritten Weg zwischen rigider Planwirtschaft und dynamischer Marktwirtschaft zu gehen. Die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten war atemberaubend: aus einem Staat mit einem Millionenheer von blaugewandeten, gesichtslosen Arbeitsbienen mit Mini-Stahlöfen in jedem Dorf ist die größte Wirtschaftsmacht der Erde, die exportstärkste Nation geworden. Drei Mal so viele Ingenieure und Wissenschaftler wie in den USA werden jährlich ausgebildet, 2016 wurden aus China mehr Patente angemeldet als aus den USA, Japan, Südkorea und der EU zusammen. Es gibt 150 Städte mit jeweils mehr als 3 Millionen Einwohnern.
Was hat das Land im Fernen Osten noch mit Sozialismus zu tun? Zehn Prozent der Chinesen verfügen über 60 Prozent des Nationaleinkommens. Während der Gini-Koeffizient im kapitalistischen Deutschland bei 0,3 liegt, beträgt er im kommunistischen China 0,5 – der Wert 1 bedeutet extreme Ungleichheit, der Wert 0 völlig gleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wenig deutet darauf hin, dass Chinas Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für die übrige Welt und insbesondere für die bislang gesellschaftlich Benachteiligten eine Modellfunktion zukommt.
In einer Art Schluss-Kapitel: Über Grenzen der kapitalistischen Globalisierung setzt sich der Autor auf gerade mal zwei Seiten hauptsächlich mit der bereits von Rosa Luxemburg vertretenen These auseinander, der Kapitalismus sei am Ende, wenn keine vorkapitalistischen Produktionsweisen auf der Welt mehr existierten. „Woher die Krankenschwestern, Pflegekräfte, Erntehelfer nehmen? Wer soll Gold, Coltan, Zink oder Platin zu Hungerlöhnen aus der Erde scharren? Woher noch die billigen Rohstoffe beziehen?“ Der Kapitalismus kann sich nicht mehr entfalten, wenn alles „kommodifiziert und monetarisiert ist“.
Letztendlich kommt Auernheimer zu dem Schluss: „Naturverbrauch, Naturzerstörung, Prekarisierung und Perspektivlosigkeit, spätestens die davon ausgelösten Fluchtbewegungen machen die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus dringend“.
Wie diese aussehen, lässt Auernheimer offen.
Diskussion
Es ist dem Autor nicht vorzuwerfen, dass er kein Patentrezept anzubieten hat, das es nicht gibt. Sich Hilf- und Orientierungslosigkeit einzugestehen angesichts einer kapitalistischen Dampfwalze, welche die Erde überrollt, ist keine Schande. Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit sind jedoch unabdingbar.
Und diese sind zum Beispiel bei dem oben angeführten Zitat über transnationale Gewerkschaftszusammenschlüsse nicht zu finden.
Mitnichten hat die organisierte Arbeiterschaft mit der Gründung des Internationalen Gewerkschaftsbundes eine „Antwort auf die Globalisierung gefunden“. Ziemlich hilf-, wehr- und waffenlos, wie das Kaninchen auf die Schlange, starrt die Arbeiterbewegung, so es eine solche überhaupt noch gibt, wie alle anderen nichtkapitalistischen gesellschaftlichen Akteure (?) auf die unvorhersehbaren Bewegungen des Kapitals. Immer nur reagierend, das Schlimmste verhütend, in Verteidigungsstellung, mit Sozialplänen den Sturz abfedernd.
Der Rezensent würde sich in diesem Zusammenhang auch eine ehrliche Diskussion über die Bedeutung des Spruches „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ in der heutigen Zeit wünschen. Wie sieht die Solidarität des deutschen Arbeiters mit dem aus Bangladesh aus? Zu welchen Opfern ist er bereit, um allen Arbeitnehmern auf dieser Welt einheitliche Lebensbedingungen zu verschaffen? Wenn die aufrichtige Antwort „zu keinen“ lautet: ist der Spruch dann nicht bloße Folklore, die sich gut auf Traditionsfahnen macht, der Lebenswirklichkeit aber nicht standhält?
Ob die Luxemburg-These, wonach der Kapitalismus vorkapitalistische Strukturen benötigt, um am Leben zu bleiben, zutrifft, ist mehr als fraglich. Schon zu Marx’ Zeiten sah man den Kapitalismus am Ende – dabei hatte dieser zu seinem Höhenflug noch gar nicht angesetzt. Niemals sollte man, gerade wenn einem die Schattenseiten des Kapitalismus manchmal den Schlaf rauben, dessen Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit unterschätzen.
Fazit
Ein Buch, das sachlich und unaufgeregt auf knappem Raum Basiswissen über ein wichtiges Thema unserer Zeit vermittelt. Aus „linker“ Perspektive, verständlich, interessant und anschaulich.
Rezension von
Prof. Dr. Walter Wangler
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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